
Seine Räumlichkeiten im Parlament hat der langjährige Hausherr schon im Spätherbst verlassen. Nun empfängt er nahe dem Rathaus in seinem Büro im „Campus Tivoli“, dem Thinktank der Politischen Akademie der ÖVP, der er seither vorsteht.
WINA: Die Torberg-Medaille ist die höchste Auszeichnung der IKG. Sicherlich haben Sie schon viele Ehrungen erfahren, was bedeutet Ihnen diese?
Wolfgang Sobotka: Sie bedeutet mir sehr, sehr viel, und ich habe gezweifelt, ob ich sie überhaupt annehmen darf, denn es ist eine ganz große Herausforderung, dieser Auszeichnung gerecht zu werden. Sie steht nicht nur für das Gewesene, sondern ist auch eine Erwartung für die Zukunft. Seit mehr als 40 Jahren habe ich mich mit dem Thema Antisemitismus, mit der Shoah und der jüdischen Geschichte und auch mit der Frage, was muss man heute tun, auseinandergesetzt und versucht, Menschen dafür zu sensibilisieren und darauf aufmerksam zu machen – auch als Teil meiner politischen Arbeit. Dass das die IKG nun auch gesehen hat, freut mich, ist für mich aber auch eine Bürde für die Zukunft.
Besonders in Ihrer Tätigkeit als Präsident des Nationalrats haben Sie auch als Hausherr des Parlaments zahlreiche Initiativen im Kampf gegen den Antisemitismus gesetzt. Zuletzt vergangenen September eine hochkarätig besetzte internationale Vernetzungskonferenz unter dem Titel Never Again. Democracy cannot tolerate Antisemitism. Dieser Kampf ist Ihnen ganz offenkundig ein persönliches Anliegen. Weshalb eigentlich?
Es ist relativ einfach, als Präsident des Nationalrats dieses Engagement an den Tag zu legen, weil Antisemitismus per se antidemokratisch ist. Wenn schon Parteien, politische Persönlichkeiten im Zuspruch nicht besser performen, sondern immer schlechter, aber 80 Prozent der österreichischen Bevölkerung sagen, die Demokratie ist zwar keine perfekte Form, aber die beste, die wir haben können, dann muss man etwas tun, um diese Demokratie zu stärken, aber auch, um das Ansehen der Parteien und der Politiker zu heben, denn Demokratie ohne Demokraten gibt es nicht. Daher war für mich einerseits die Öffnung des Hauses ganz entscheidend und auch die Momente, welche die Demokratie gefährden, ganz klar zu benennen und zu bekämpfen. Das sind neben dem Antisemitismus auch die Entwicklungen auf den unregulierten digitalen Plattformen, die ich für höchst problematisch halte und die einer Regulierung bedürfen, sonst wäre nicht ein Drittel der Bevölkerung anfällig für Verschwörungsmythologien. Das bedarf auch bei der gesellschaftlichen Veränderung durch die Migration, wo sich zeigt, dass der migrantische Antisemitismus die stärkste Gruppe ist, einer klaren Haltung.
„Wir dürfen den radikalen Islam nicht gewähren lassen.“
Sie haben schon öfter erwähnt, dass auch Ihre persönliche Familiengeschichte Ihre diesbezügliche Haltung beeinflusst hat. Wie ist das zu verstehen?
Mein Großvater war ein bekennender, aktiver Nationalsozialist und hat bis zu seinem Tod, auch wenn er mit der Partei gebrochen hat, mit den Ideen Adolf Hitlers nie gebrochen. Obwohl er schon 1943 an Krebs gestorben ist, hat mich das sehr schwer betroffen. Daher ist es meine persönliche Verantwortung, dem, was ich ihm zur Last lege, dieses System unterstützt und sich auch noch persönlich eingebracht zu haben, heute als Demokrat entgegenzuwirken. Auch dass man mich früher einmal Nazi-Bua genannt hat, da wusste ich noch gar nicht, was das ist, hat mir schon damals zu denken gegeben.
Die Belastung durch eine solche Geschichte ist in österreichischen Familien ja nicht selten, führt aber weniger oft zu aktivem Engagement bzw. dazu, sich damit zu befassen und sich davon zu distanzieren. Wie ist z. B. Ihr Vater damit umgegangen?
Mein Vater ist als 18-Jähriger 1943 eingezogen worden, ist dann bald schwer verletzt worden und für ein Jahr ins Lazarett gekommen. Er hat den Krieg total abgelehnt, ich durfte z.B. auch kein Kriegsspielzeug haben. Er hat eine lebenslange Traumatisierung davongetragen. In seiner Einstellung war er ein sehr klar bekennender Demokrat, hat aber mit seinen Schülern mehr gesprochen als mit mir und nur in den letzten Jahren seines Lebens ein wenig erzählt. 1938 war er erst 12 Jahre alt, und dann die Gräuel des Krieges mitzubekommen, hat ihn zutiefst geprägt. Er hat den Nationalsozialismus abgelehnt und war dann in den 1980er-Jahren auch durch mich in Friedensaktivitäten involviert. Mit dieser Geschichte hat er sich aber nie auseinandergesetzt, hat sie eher verdrängt, beiseitegeschoben. Die dritte Generation kann über die historische Faktenlage klarer urteilen.
Sie sind Historiker geworden, haben im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes gearbeitet, d. h. Sie wollten den Dingen auf den Grund gehen.
Die Zeitgeschichte hat mich zeitlebens zutiefst interessiert, weil es notwendig ist zu wissen, woher du kommst und wohin du gehst. Diese Standortbestimmung war für mich das wesentlichste Interesse, nicht nur in punkto des Nationalsozialismus. Ich habe beim DÖW über den kommunistischen Widerstand genauso gearbeitet wie über den katholischen Widerstand, besonders was meine Region im Ybbstal betrifft. Mich hat interessiert, was hat das mit den Menschen gemacht, wenn es hieß, Waidhofen ist „judenrein“. Mich hat das nicht nur aus der Historizität interessiert, sondern aus der Frage, was ist heute mein Auftrag, was ist heute unsere Haltung dazu. Kurioserweise war auch aus den Reihen, die von den Nazis verfolgt wurden, zu hören, lass das ruhen. 1974, 1975, also lange vor Waldheim, gab es die Haltung, sich damit nicht auseinanderzusetzen. Auch der Streit mit Simon Wiesenthal, den ich damals schon sehr verehrt habe, hat unter anderen meine Anfangszeit als Historiker geprägt.
In der jüdischen Community begegnet man plakativen Umarmungen von außen oft mit Skepsis, ebenso demonstrativen projüdischen Äußerungen, zweifelhaften Vereinnahmungen, die von ganz rechts kommen. Können Sie diese Skepsis verstehen?
Absolut. Ich verstehe, dass man skeptisch ist, weil man sieht, dass bestimmte Kreise bis heute noch nie ordentlich und kontinuierlich zur Shoah Stellung genommen haben und dass nicht wirklich eine Umkehr stattgefunden hat. Den Antisemitismus zu bekämpfen, ist nicht die Aufgabe der Jüdinnen und Juden, sondern die der nichtjüdischen Bevölkerung. Aktuell ist für uns der gesellschaftliche Wandel durch die Migration, auch die Haltung von Leuten, die ein antisemitisches und antiisraelisches Gedankengut oft unbewusst aus ihren Regionen mitnehmen und hierher verpflanzen, die größte Herausforderung.
Der Israel-bezogene Antisemitismus hat im Gefolge des 7. Oktobers 2023 den quasi autochthonen noch im hohen Maß verstärkt. Nur mit Bildung scheint man da nicht viel ausrichten zu können. Der Hass im Netz ist erfolgreicher, vor allem bei den nachwachsenden Generationen. Wie sehen Sie das?
Es bedarf nicht nur einer Maßnahme. Gut ausgebildete junge Menschen sind weniger antisemitisch, das ist ein sehr klarer wissenschaftlicher Befund. Dass das allein nichts nutzt, da gebe ich Ihnen recht. Es gibt allerdings eine internationale politische Gemengelage, die uns nicht förderlich ist. Damit meine ich den kriegerischen Konflikt im Nahen Osten. Diesen Konflikt einer Lösung zuzuführen und auch den Tag danach zu diskutieren, um eine Möglichkeit für eine Koexistenz zu finden, kann nur von beiden Seiten ausgehen. Ich weiß, wie schwierig das ist. Wenn das gelingt, dann gelingt es auch uns besser, Migranten in der Bildungsarbeit davon zu überzeugen, dass eine Reflexion der Verhältnisse dort sich bei uns nicht in einem wahnsinnigen Antisemitismus im Internet, aber auch auf der Straße und in Aggressionen gegen jüdische Menschen zeigen darf. Daneben ist es notwendig, dass sich politische Parteien klar positionieren und wir Gesetze haben, um das, wo es notwendig ist, auch strafgesetzlich zu verfolgen. Es wird ein Bündel an Maßnahmen sein, aber es braucht auch ein Bewusstsein der Menschen. Der Antijudaismus ist mehr als 2.000 Jahre alt. Diese „negative Kulturhaltung“, wie es Monika Schwarz-Friesel nennt, die durch die gegenwärtigen Konflikte noch befeuert wird, jetzt zu eliminieren, halte ich für eine Hoffnung, die nicht wahr werden wird. Sie als Bodensatz zurückzudrängen, und ein Commitment, dass das nicht sein darf, halte ich für realistisch und notwendig.
Können Sie als Historiker in den aktuellen Entwicklungen achtzig Jahre nach Kriegsende Parallelen zu den 30er-Jahren, die öfter erwähnt werden, beobachten?
Das sind alte Narrative, aber die Geschichte wiederholt sich nicht, das ist meine Überzeugung. Dass es Ähnlichkeiten gibt, dass es Systeme gibt, die ähnlich reagieren, ja.
Parallelen sehe ich auch deshalb nicht, weil sich in der pluralistischen Gesellschaft auch durch die Digitalisierung so viel geändert hat, dass es keine Ähnlichkeiten mehr gibt.
Sie haben bei einer Buchpräsentation im Parlament die gelebte Partnerschaft mit der IKG betont. In welcher Form wollen Sie diese nun als Elder Statesman fortsetzen?
Die neue Regierung muss sich damit auseinandersetzen, das jüdische Leben auch deutlicher zu unterstützen und öffentlich zu machen, und ermöglichen, ein religiöses Leben zu leben und auch zu zeigen. Ich glaube, dass das auch mit meinem Thinktank meine Aufgabe ist. Wir dürfen den politischen, den radikalen Islam nicht gewähren lassen. Und wir müssen die islamische Glaubensgemeinschaft, die ich sehr schätze, ermuntern, dagegen aufzutreten. Da gibt es auch hoffnungsvolle Zeichen, aber noch viel zu wenig, um in der Breite wahrgenommen zu werden. Das ist unsere Aufgabe heute. Wenn ein Drittel latent antisemitisch ist, dann muss ich etwas tun. Das wird meine Arbeit sein, und daran wird sich nichts ändern.
„Diese Auszeichnung steht nicht nur für das Gewesene, sondern ist auch eine Erwartung für die Zukunft.“
Nochmals zum Anfang, zur Torberg-Medaille. Welche Beziehung haben Sie zum Namensgeber dieser Auszeichnung?
Torberg! Ein Wien-Kenner und -Bekenner, einer, der diese Stadt geliebt und sich auch mit ihren Unfertigkeiten auseinandergesetzt hat und mit der ganzen österreichischen Gesellschaft. Faszinierend!