Spürbar jede Menge Sympathie schlug dem ehemaligen SPÖ-Bundeskanzler Franz Vranitzky im September aus dem zahlreich erschienenen Publikum entgegen, als er im Gemeindezentrum mit IKG-Ehrenpräsident Ariel Muzicant seine Zeit an der Regierungsspitze Revue passieren ließ. Nicht mit der FPÖ zu koalieren sei keine Ausgrenzung, sondern Haltung, betonte er dabei. Und machte in all seinen Ausführungen klar, dass sich in seiner Haltung nichts geändert hat.
Dokumentation: Alexia Weiss
Ariel Muzicant: Herr Doktor Vranitzky, Ihr Vorgänger (Fred Sinowatz, Anm.) hat immer wieder von seiner Prägung durch seine Familie und Kindheit im Burgenland erzählt, den Kontakt mit den jüdischen Menschen dort. Als Sie in die Regierung gekommen sind, haben wir uns zunächst einmal schwer getan. Wir wussten nicht, wie Ihr Verhältnis zum Judentum aussieht.
Franz Vranitzky: Sie waren nicht der Einzige, der sich schwer mit mir getan hat. (Schmunzelt.) Es gibt eine Parallele zur Lebensgeschichte von Fred Sinowatz. Meine Mutter stammt aus einer burgenländischen Gemeinde – Lackenbach. Vor dem Krieg gab es etwa je 50 Prozent jüdische und nicht jüdische Bevölkerung. Es hat sich dort eingebürgert, dass an den jüdischen Feiertagen die nicht jüdischen Mitbewohner den jüdischen geholfen haben. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie zu den jüdischen Nachbarn gegangen ist, um den Hof einzuheizen und Milch zu holen. Sie hat auch das eine oder andere Vokabular mitgebracht. Meine Schwester und ich wussten schon als kleine Kinder, was Pessach ist. Ich will das nicht überschätzen und nicht romantisieren, aber es war einfach so.
Zwischen 1938 und 1945 wurde die jüdische Bevölkerung in Lackenbach ausgerottet, entweder verschleppt oder umgebracht. Nach 1945 waren keine Juden mehr da, aber es gab einen jüdischen Friedhof. Und dieser Friedhof zeichnet sich bis heute dadurch aus, dass er von Jahr zu Jahr mehr verfällt. Und als ich dann später mit Politik zu tun hatte, habe ich mir den Friedhof ein paar Mal angeschaut. Es kommt noch etwas dazu: In Lackenbach war auch – ich sage: ein Konzentrationslager, in dem sie Roma und Sinti festgehalten haben. Das heißt also, diese Atrozitäten der Nazi-Zeit sind in diesem kleinen Dorf immer wieder sichtbar gewesen.
AM: Ich erinnere mich an Ihre erste Rede vor der jüdischen Gemeinde, die war sehr technisch und sehr finanziell. Und wir haben uns damals gefragt, wie schaffen wir es, bei diesem Bundeskanzler so etwas wie Verständnis für unsere Probleme aufzubauen. Sie haben geredet über Zinssätze, über finanzielle Fragen unseres Landes, und wir hatten ganz andere Sorgen.
FV: Die Zinssätze waren kein Problem?
AM (lacht): Nein. Dann kam rasch die Waldheim-Zeit und der Parteitag der FPÖ (1986 in Innsbruck, Anm.), und das war für viele jüdische Menschen eine Art Wendepunkt, an dem ich und andere mit der Idee spekuliert haben auszuwandern. Die Frage: Wo führt das alles hin? Ich erinnere mich sehr genau, dass Sie, nachdem Haider gewählt wurde, ihn ziemlich bald aus der Regierung geworfen haben. Das hat mich fasziniert. Und ich habe Ihnen einen Brief geschrieben, wie toll und großartig das ist, und Sie haben mich ins Bundeskanzleramt eingeladen und eine halbe Stunde mit mir über meine Befindlichkeiten gesprochen. Sie waren damals der, der es geschafft hat, das Land durch diese stürmische See zu führen und auch der jüdischen Gemeinde zu vermitteln, es gebe ein anderes Österreich.
FV: Ich wurde 1986 ganz plötzlich Kanzler. Ein Bundeskanzler, der Bundeskanzler wurde, ohne vorher selbst eine Wahl geschlagen zu haben. Es war ein Jahr der Unannehmlichkeiten für die Sozialdemokratie, mit einer besonders unangenehmen Massierung von Problemen: die verstaatlichte Industrie, das Nichtzustandekommen des Kraftwerks Hainburg, die verlorene Bundespräsidentenwahl. Und am Horizont tauchten schon die ersten schwarzen Wolken auf bezüglich Lucona und Noricum. Dann wurde Waldheim gewählt, und Sinowatz und Leopold Gratz haben gesagt, sie können und wollen nicht in ihren Ämtern bleiben; sie haben sich dezidiert und ausgesprochen gegen Waldheim gewandt. Es war für sie unmöglich, von einem Präsidenten Waldheim angelobt zu werden. So kam der Vorschlag von Dr. Sinowatz, dass ich ihm als Bundeskanzler folgen sollte.