Marokkos Juden – beinahe eine Liebesgeschichte

Marokkos Juden prägten das Land in vielen Bereichen und hinterließen ein reiches kulturelles Erbe. Heute suchen die nachfolgenden Generationen mit Neugierde und Begeisterung nach den Spuren ihrer Familien in den alten jüdischen Vierteln der marokkanischen Städte.

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©Daniela Segenreich-Horsky

Es gab immer unterschwellige Warnungen: ‚Sei rechtzeitig zurück! Und pass’ auf, die Araber könnten kochendes Wasser auf dich schütten …‘, aber Angst habe ich eigentlich nie gehabt, und es ist auch nie etwas passiert“, erinnert sich Wicky M. an ihre Kindheit und Jugend in Rabat. Wie viele der aus Marokko stammenden Israelis besuchte sie vor einigen Jahren die alte Heimat, doch sie fuhr wohlweislich nicht in die Hauptstadt, um ihre schönen Erinnerungen an die Nachbarschaft und an das Haus mit dem Innenhof, das sie mit ihrer Familie bewohnte, nicht zu zerstören.
Wicky hatte eine schöne Kindheit in Rabat: „Wir fühlten uns nicht wirklich bedroht, aber es gab einen gewissen Abstand, ich hatte kaum je Kontakt zur arabischen Bevölkerung außerhalb der Mellah.“

©Daniela Segenreich-Horsky

Der König schaut auf seine Juden. Vor der Gründung Israels lebten über eine viertel Million Juden in Marokko, und in vielen marokkanischen Städten ist die Mellah, das alte jüdische Viertel, noch erhalten und wird auch von Fremdenführern und Taxifahrern als Sehenswürdigkeit gepriesen. „Der König hat immer schon auf seine Juden geschaut“, heißt es, „und er verlässt sich bis heute auf seine jüdischen Berater.“ Und tatsächlich ist Andre Azulay der wichtigste Mann im Umfeld von König Mohammed VI. Es war und ist also beinahe eine Love Story zwischen Marokko und seinen Juden, bis auf einige Pogrome, die das harmonische Verhältnis im Laufe der Jahrhunderte immer wieder störten. Heute gibt nur noch einige tausend Juden im Land, die meisten von ihnen in Casablanca.
Die älteste Mellah ist die von Fès, sie stammt aus dem 15. Jahrhundert und wurde vom damaligen Herrscher für die jüdischen Einwohner zum Schutz vor Massakern auf einem salzhaltigen Gelände in der Medina eingerichtet. Daher stammt auch der Name – denn Mellah bedeutet auf Hebräisch und auch auf Arabisch „Salz“. Nach dieser Mellah wurden bald alle anderen Ghettos in Marokko benannt. Die Gründe für die Einrichtung von jüdischen Vierteln waren ähnlich wie die im mittelalterlichen Europa, wenn auch die Juden in Marokko weniger in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt waren: Der Staat wollte die Wirtschaftskraft der jüdischen Bevölkerung für sich nützen und sie gleichzeitig vor etwaigen Ausschreitungen schützen. Deshalb wurde die Mellah meist gleich neben dem Areal des königlichen Palastes errichtet.
Sogar Maimonides soll einige Jahre in Fès gelebt haben, man kann nur vermuten, welches der fast verfallenen Häuser es gewesen sein mag. Später kamen viele Juden, die vor der spanischen Inquisition flüchteten, in die Stadt und brachten die andalusische Kultur und Küche mit. Heute gibt es kaum noch Juden in Fès, doch die beiden Synagogen in der Medina, die Slate-Al-Fassiyine- und die El-HaBanim-Synagoge unweit des jüdischen Friedhofs, sind völlig intakt und stehen den Besuchern, wenn sie den arabischen Frauen am Eingang ein kleines Eintrittsgeld zahlen, offen. In der letzteren, der ältesten Synagoge in Fès, kann man noch den steinernen Abstieg zu der alten Mikwe und ihr tief unter der Oberfläche gelegenes rituelles Tauchbecken bewundern. Und ein jüdischer Arzt wohnt noch am Rande der Mellah und scheint stadtbekannt zu sein.

»Der König hat immer schon auf seine
Juden geschaut,
und er verlässt sich bis heute
auf seine jüdischen Berater.«

7.000 Kindergräber in Marrakesch. In der Mitte des 16. Jahrhunderts kam die Bezeichnung der Mellah auch in Marrakesch auf. Das Viertel beherbergte einst 30.000 Juden, jetzt ist es ziemlich heruntergekommen und gehört zu den ärmeren der Stadt. Von den einst 35 Synagogen sind nur noch wenige erhalten. Die alte, wunderschön renovierte Slat-Al-Azama-Synagoge ist heute wieder ein aktives jüdisches Kulturzentrum. Dort werden Gottesdienste abgehalten und in dem hübschen, mit den traditionellen marokkanischen Mosaiken und einem Brunnen verzierten Patio werden Familienfeiern und jüdische Feste gefeiert. Die permanente Ausstellung der alten Schwarz-weiß-Fotografien illustriert die Geschichte des Gebäudes und der ganzen Nachbarschaft.

Die Slat-Al-Azama-Synagoge ist eine der ehemals 35 Synagogen in Marakesch. Sie wurde renoviert und ist heute ein Kulturzentrum. ©Daniela Segenreich-Horsky

Der nur wenige Schritte entfernt gelegene alte jüdische Friedhof gehört zu den größten und eindrucksvollsten im Land. Die alten Gräber sind in getrennten Sektionen für Männer und Frauen angeordnet, am äußeren Rand die Grabstätten der großen Gelehrten und Rabbiner, von denen man annimmt, dass sie die Toten schützen können. Gleich beim Eingang befinden sich über 7.000 weiß getünchte Kindergräber – stille Zeugen einer Typhusepedemie.

Wie die meisten in Marokko ansässigen Juden verließen Wicky und ihre Familie die alte Heimat Anfang der 60er-Jahre aus Angst vor Übergriffen der arabischen Bevölkerung. Die meisten von ihnen gingen nach Amerika, Kanada oder Israel. Mit der Gründung Israels, dem Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges und der fortwährenden Feindseligkeiten zwischen Juden und Arabern fühlten sie sich im arabischen Umfeld nicht mehr sicher. „Für mich bedeutete Israel die Freiheit und den Ausbruch aus dem strengen, traditionellen und beschützten Leben in Rabat. Aber als wir in Israel ankamen, rieten mir meine Cousinen, nicht zu sagen, dass ich aus Marokko komme“, erzählt die Endsechzigerin, und man hört immer noch Empörung in ihrer Stimme mitschwingen. „Auf die marokkanischen Einwanderer schauten viele der aschkenasischen Juden verächtlich herab. Aber das war für mich nicht akzeptabel. Ich hatte meinen Stolz und ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl.“

©Daniela Segenreich-Horsky

Mit Gewalt nach Israel gebracht? Dass die Juden freiwillig gegangen sind, scheint vielen Marokkanern auch heute noch unverständlich: „Sie sind nicht ausgewandert, sie wurden mit Gewalt nach Israel gebracht“, schmückt ein Fremdenführer den Touristen die Geschichte aus, während sie in einem prunkvollen alten Palast in Marrakesch eine Ausstellung von silbernen Judaika- und Ziergegenständen einer jüdischen Familie aus dem 19. Jahrhundert bewundern. Tatsächlich gab es israelische Gesandte, die den jüdischen Jugendlichen Israel und den Zionismus schmackhaft machen wollten, aber von Gewalt kann da wohl keine Rede sein. Eher war es so, dass der israelische Staat die marokkanische Regierung dafür bezahlte, dass sie die Juden gehen ließ.

… dass es dem Staat wichtig ist, das alte jüdische Erbe zu erhalten, das seit 2011 in der Verfassung als Teil der kulturellen Identität Marokkos anerkannt wird.

Die Kunst der jüdischen Silberschmiede wird übrigens bis heute hoch gehalten, und man kann in vielen Geschäften in den Shouks silberne Mesusot, Menorot oder mit einem Magen David verzierten Schmuck finden. Mit ein wenig Glück trifft man sogar auf ein altes Stück von jüdischen Berbern, die einst diese Handwerkskunst eingeführt haben, etwa auf eine silberne „Hamsa“, die Hand der Fatima, oft kombiniert mit einem Davidstern, die als Glücksbringer gegen den bösen Blick getragen oder im Haus aufgehängt wird.

Die alte Mikwe der El-HaBanim-Synagoge in Fès mit einem steinernen Abstieg und einem unter der Oberfläche gelegenen rituellen Tauchbecken. ©Daniela Segenreich-Horsky

Das muslimisch-jüdische Zusammenleben war nicht immer frei von Spannungen. Doch Marokkos Juden haben einen wichtigen Beitrag zur arabischen Kultur geleistet, haben das städtische Leben, Handel, Literatur und Musik mitgeprägt. Besonders im Küstenstädtchen Essaouira, dem ehemaligen Mogador, lässt sich noch einiges von diesem kulturellen Reichtum der jüdischen Gemeinde erahnen. Hier kann man, wenn man genau schaut, an manchen der blau oder gelb bemalten alten Häuser der Mellah noch einen steinernen Magen David über dem Torbogen entdecken oder die Stelle, an der sich die Mesusa befand. An vielen der heruntergekommenen Gebäuden werden Bauarbeiten durchgeführt, man will sie für die lokale muslimische Bevölkerung wieder nutzbar machen.

In der vor Kurzem renovierten Chaim-Pinto-Synagoge werden noch regelmäßig Gottesdienste abgehalten: „Wir haben hier beinahe täglich einen Minjan“, erklärt die arabische Hüterin des Bethauses, während gerade eine große Reisegruppe von Israelis laut diskutierend herausströmt: „Ich bin hier die Schomeret, die Wächterin, und vor mir war es meine Mutter, und davor war mein Großvater der Wächter.“ Durch die Gangfenster sieht man über die Klippen auf das Meer und die alte portugiesische Mauer, die einst die Stadt vor Eindringlingen schützen sollte. Chaim aus Israel sucht nach Spuren seiner Mutter, die hier mit dreizehn Jahren verheiratet wurde. Und auch Miriam, die nach über fünf Jahrzehnten zum ersten Mal nach Essaouira zurückkehrt, versucht hier, die Erinnerungen ihrer Kindheit zu beleben: „Ich führe des Öfteren Verwandte durch die Stadt“ erzählt Miriams Sohn Avraham, ein orthodoxer Jude mit schwarzem Hut und Kaftan:„Und ich fühle mich als Jude in Marokko gut beschützt.

Jüdische Silberschmiedekunst. In den Shouks kann man immer wieder silberne Mesusot, Menorot oder mit einem Magen David verzierten Schmuck finden. ©Daniela Segenreich-Horsky

Letztens hat mich ein Polizist wegen Schnellfahren aufgehalten, und als er gesehen hat, dass ich Jude bin, hat er mich nur freundlich verwarnt.“

Ob das der Grund für die Kulanz des Polizisten war, bleibt dahingestellt, doch man spürt überall den Respekt und dass es dem Staat wichtig ist, das alte jüdische Erbe zu erhalten, das seit 2011 sogar in der Verfassung als Teil der kulturellen Identität Marokkos anerkannt wird. Pilgerreisende, die die Gräber der großen jüdischen Rabbiner besuchen, und Jewish-Heritage-Touren aus Israel sind willkommen. Marokko will seine Juden zurück und umwirbt sie, nicht zuletzt wohl auch, damit sie den Handel beleben. Das meint auch der muslimische Fremdenführer „Warum kommt ihr nicht zurück?“, fragt er „ihr habt den Reichtum und den Segen mitgenommen!“

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