Martina Maschke: „Wir haben Denkweisen aufgebrochen“

3799

Martina Maschke, Obfrau von erinnern.at, spricht über den Beitrag des Vereins zur Fortbildung der Lehrerschaft zum Thema der Schoa. Von Marta S. Halpert

wina: Sie sind die Obfrau des Vereins erinnern.at, der 2000 gegründet wurde.Wie ist es dazu gekommen?

Martina Maschke: Das hat ursprünglich mit meiner Arbeit als Leiterin der Abteilung für internationale bilaterale Angelegenheiten im Bildungsministerium zu tun. Der Auslöser für diese Initiative war die berühmte Rede von Bundeskanzler Franz Vranitzky 1993 in Jerusalem. Infolge dieses ersten offiziellen Eingeständnisses einer Mitverantwortung Österreichs an den Schrecknissen des Zweiten Weltkrieges und der Schoa wurde 1996 das erste bilaterale Memorandum zwischen Israel und Österreich unterzeichnet. Damit verbunden war die Forderung von israelischer Seite, österreichische Lehrerinnen und Lehrer zur Fortbildung nach Yad Vashem zu schicken. Im Jahr 1999 bin ich dann in meiner Funktion zur ersten Fact-finding-Mission nach Israel gefahren und habe dort Gespräche geführt. So ist es uns gelungen, bereits im Jahr 2000 die erste Gruppe nach Yad Vashem zu bringen.

„Es ist uns gelungen, die Betroffenheitsschiene durch einen angemesseneren Unterricht zu ersetzen.“

Wie viele Lehrerinnen und Lehrer haben dieses zweiwöchige Programm bereits durchlaufen?

❙ Es haben mittlerweile über 500 Lehrkräfte auf Einladung des österreichischen Bildungsministeriums diese Fortbildung absolviert. Das Programm in Israel, im Wesentlichen in Yad Vashem, aber auch in Lohamei haGettaot ist zwar überwiegend eine Einführung in das israelische Narrativ und die Geschichte der Schoa, aber auch in die Komplexität der politischen Situation im Nahen Osten.

Was sind die Aufgaben und Ziele von erinnern.at?

Jehudith Hübner, geb. Jessy Winkler (r.) mit ihrer Schwester: Sie erhielt 1939 Pass und Visum für Palästina und überlebte dort als einzige aus ihrer Familie. neue-heimat-israel.at
Jehudith Hübner, geb. Jessy Winkler (r.) mit ihrer Schwester: Sie erhielt 1939 Pass und Visum für Palästina und überlebte dort als einzige aus ihrer Familie.

❙ Die Kernverantwortung von erinnern.at ist die Unterstützung eines sensiblen und adäquaten schulischen Umgangs mit Nationalsozialismus und Holocaust. Damit soll Wesentliches zur Stärkung der Gesellschaft in ihrem Auftreten gegen Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus geleistet werden. erinnern.at bietet konkrete Hilfestellung für Lehrerinnen und Lehrer aller Schultypen, sich mit diesem schwierigen Teil der österreichischen Geschichte auseinanderzusetzen. In der Folge sollen junge Menschen erkennen können, dass diese Geschichte für ihre Gegenwart und ihre Zukunft von Bedeutung ist, also mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit heute zu tun hat. Es lohnt sich zum Beispiel darüber nachzudenken, welche Beziehungen zwischen aktueller Fremdenfeindlichkeit und den damaligen Vorstellungen von der homogenen Volksgemeinschaft bestehen.

Wie ist das Feedback unter der Lehrerschaft nach dem Seminar in Israel?

❙ Grundsätzlich ist die Resonanz äußerst positiv. Die Lehrkräfte lernen neue methodische Ansätze kennen, können den neuesten Forschungsstand renommierter internationaler Wissenschaftler und Expertinnen erfahren und erleben zahlreiche wertvolle Begegnungen mit vielen Israelis, auch solchen, die aus Österreich vertrieben wurden. Auch kommen sie mit der Erkenntnis zurück, dass die politische Situation in Israel äußerst komplex ist. Sie können sich vorort ein differenziertes Bild dazu erarbeiten, um überhaupt auch nur ansatzweise beurteilen zu können, was sich in dieser Weltregion abspielt.

Für den Unterricht an österreichischen Schulen ist das insofern auch von hoher Relevanz, als der Konnex zwischen dem palästinensisch-israelischen Konflikt und der Schoa leider immer wieder angesprochen wird.

Wie sieht diese Hilfestellung an die Lehrerschaft aus?

❙ Die Beschäftigung mit der Schoa und mit den Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert ist im Curriculum für den Geschichtsunterricht in der 8. und 12. Schulstufe festgeschrieben. Damit die Pädagogen den thematischen Erfordernissen gerecht werden können, bietet erinnern.at jährlich zahlreiche Aus- und Fortbildungsseminare an und entwickelt laufend Materialien, die auch gut angenommen werden. Wir haben unter dem Titel Das Vermächtnis und Neue Heimat Israel zwei DVDs mit Interviews mit Holocaust-Überlebenden herausgebracht. In Kooperation mit internationalen Organisationen wie der OSZE/ODHIR in Warschau und dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam haben wir in dreijähriger Arbeit die vielbeachtete Broschüre Ein Mensch ist ein Mensch. Rassismus, Antisemitismus und sonst noch was … herausgebracht. Diese Publikation, die mit Jugendlichen erarbeitet wurde, ist mittlerweile von der OSZE als Best-practice-Beispiel in englischer Sprache weltweit verbreitet worden. Auch bietet erinnern.at seit Anfang Mai eine neue Wanderausstellung unter dem Titel Darüber sprechen für Schulen an.

„Inzwischen haben unsere Maßnahmen auch international hohe Anerkennung gefunden“

Wie kam es zu Ihrem Engagement für erinnern.at?

Oskar Schiller aus Eisenstadt ist der einzige Überlebender seiner Familie.
Oskar Schiller aus Eisenstadt ist der einzige Überlebender seiner Familie.

❙ Vielleicht habe ich einfach den Bedarf erkannt. Natürlich ist das alles erst politisch möglich geworden, nachdem sich in der österreichischen Öffentlichkeit ein Paradigmenwechsel vollzogen hatte und Österreich in die Verantwortung für diesen Teil seiner Geschichte eingetreten ist. Es gab einen enormen Nachholbedarf in jeder Hinsicht. Inzwischen haben unsere Maßnahmen – und das was Österreich im Bildungsbereich geleistet hat – nicht nur national, sondern auch international hohe Anerkennung gefunden.

Wie wurde diese Initiative von den Lehrern, Eltern und Schülern aufgenommen?

❙ Es ist uns einerseits gelungen, Abwehrhaltungen aufzubrechen, und andererseits, die „Betroffenheitsschiene“ durch einen angemesseneren Unterricht zu ersetzen. erinnern.at lebt von seiner dezentralen Organisation. Damit ist es möglich, in allen Bundesländern die lokale Geschichte einzubeziehen und damit das Interesse der Schüler zu wecken. Wir, die zwei Obleute, mein Kollege Mag. Manfred Wirtitsch, der Leiter der Abteilung politische Bildung, und ich arbeiten in Wien im Bildungsministerium, die Geschäftsführung befindet sich in Bregenz, in den Händen von Dr. Werner Dreier. Dazwischen erstreckt sich ein Netzwerk über alle Bundesländer. In jedem Bundesland gibt es einen Koordinator, der im regionalen Umfeld dafür sorgt, dass die Lehrkräfte an das Thema andocken können. Diese regionale Vernetzung ist für unser Anliegen ganz essenziell: Durch diese lokale Struktur können die Pädagogen ihre eigene Region erforschen und in ihren Unterricht einbeziehen. Dadurch entsteht ein sehr nahes und persönliches Verhältnis zur regionalen Geschichte. Ein Ergebnis ist die Sachbuchreihe Nationalsozialismus in den Bundesländern speziell für junge Leserinnen und Leser. Die Bände zum Burgenland, zu Tirol und zu Vorarlberg sind bereits erschienen; wir komplettieren das mit allen neun Bundesländern.

Werden die in Israel ausgebildeten Lehrkräfte auch als Multiplikatoren in Österreich eingesetzt?

❙ Ja, selbstverständlich. Die Lehrerinnen und Lehrer, die in Israel waren, klinken sich dann in die regionale Netzwerke ein und organisieren zum Beispiel schulinterne Lehrerfortbildung; sie entwickeln Projekte und bieten Seminare an. Insgesamt haben wir mit unserem Bildungsangebot tausende Lehrerinnen und Lehrer erreichen können.

ZUR PERSON
Martina Maschke, geboren 1958, ist Historikerin und Romanistin. Sie hat ihr Studium in Straßburg, Wien und Paris absolviert. Seit 1998 leitet sie die Abteilung für bilaterale internationale Angelegenheiten im BM für Bildung und Frauen (ehemals: für Unterricht, Kunst und Kultur). Im Jahr 2000 gründete sie den Verein erinnern.at. Sie vertritt das BM im Nationalfonds der Republik Österreich und in der International Holocaust Remembrance Alliance. Seit 2009 ist sie auch im Steering Committee für die Neugestaltung der österreichischen Länderausstellung im staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau.
erinnern.at
neue-heimat-israel.at
romasintigenocide.eu
holocaustremembrance.com
Bilder: © Reinhard Engel © neue-heimat-israel.at

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here