Medaillen in einer Dose

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Jakov Shapira ist ein unscheinbarer Kriegsheld. Er hat als Feldwebel der Roten Armee unter anderem seine Heimat Litauen befreit und leidet bis heute unter seinen Verletzungen. Was an seinem Lebensoptimismus – und dem seiner Frau Jente – nichts ändert.  Von Gisela Dachs

Es gibt einen Tag im Jahr, der Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in ihrem nationalen Gedächtnis von anderen Israelis dramatisch unterscheidet: den 9. Mai. So wurde etwa die 9-jährige Fanny an diesem Tag früher aus der Schule abgeholt, „um bei der Parade dabei zu sein“. Ihre Mutter stammt aus Moskau, und das gehört natürlich zur Erziehung. Tatsächlich gibt es sie noch, wenn sie auch längst viel kleiner ausfällt als früher, diese feierliche Parade jüdischer Veteranen der Roten Armee. Auf 7.000 wird die Zahl jener geschätzt, die heute noch leben, die meisten davon in Israel. Der Sieg über die Nazis ist auch der ihre.

Im ersten Stock unseres Hauses wohnt ein solcher Kriegsheld. Seine sechzehn Medaillen sind alle gut in einer Dose verstaut. Jakov Shapira gehört nicht zu jenen, die sich damit schmücken. Aber ein bisschen Stolz blitzt dann doch in seinen Augen auf, als er mir den „Ruhmesorden“ zeigt. In Kombination mit zwei weiteren Medaillen, ebenfalls in Form eines fünfzackigen Sterns, so sagt er, verweise das auf außergewöhnliche Tapferkeit.

Vor zwei Jahren hatte Jakov Shapira dann doch einmal Lust verspürt, sich diese drei Tapferkeitssymbole am Tag des Sieges anzustecken, und war damit auf die Straße gegangen. Jüngere Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die sehr wohl damit etwas anzufangen wussten, hätten angehalten, ihm vor Ehrfurcht die Hand geschüttelt und ihn respektvoll „Großvater“ genannt, erzählt seine Frau Jente.

Jakov Shapira ist einer der 500.000 Juden, die im Zweiten Weltkrieg als Soldaten der Roten Armee gegen die Deutschen gekämpft haben.

Die beiden sitzen in ihrem Tel Aviver Wohnzimmer, umgeben von eleganten dunklen Möbeln, die noch aus ihrer beider Geburtsland Litauen stammen. 1971 wanderten sie nach Israel ein – mit ganz unterschiedlichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg im Gepäck. Er als dekorierter Feldwebel der Siegermacht Sowjetunion, sie als Überlebende, die mit vierzehn Jahren im Konzentrationslager Stutthof nur knapp dem Tod entronnen war.

Jakov Shapira ist einer der 500.000 Juden, die im Zweiten Weltkrieg als Soldaten der Roten Armee gegen die Deutschen gekämpft haben. 200.000 sind auf dem Schlachtfeld gefallen oder in deutscher Gefangenschaft ermordet worden. Aus Altersgründen aber ist die Zeit vorbei, zu der man den 9. Mai noch groß gefeiert hat. „Früher sind wir an diesem Tag immer zu einer großen Party in die Festhalle Recital gegangen, da wurde gegessen und getanzt wie auf einer Hochzeit“, erinnert sich Jente Shapira. Jetzt schauen sie nur mehr Fernsehen, natürlich auf Russisch. Das Kabelfernsehen macht das möglich. Entweder Programme direkt aus Moskau oder auf Arutz 9, dem israelischen Sender für Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. „Für mich ist das ein Feiertag“, sagt Jakov Shapira, „ich habe Blut vergossen für den Sieg“. Fest steht: Ohne die enormen Opfer der Roten Armee hätten die Westmächte am D-Day deutlich schlechtere Chancen gegen die Deutschen gehabt.

Sein linkes Bein schmerzt nun schon seit siebzig Jahren. Von seiner schweren Knieverwundung – es war nur eine Verletzung von vielen – hat er sich nie erholt. Aber er ist froh, dass ihm damals die Amputation erspart geblieben war. So kann er auch heute noch, mit 89, auf eigenen Beinen stehen. Um nicht einzurosten, geht er. Jeden Tag, manchmal sogar mehrmals. Wenn die Temperaturen steigen, geht er einfach nur hin und her, im Schatten, den unser Mehrfamilienhauses spendet. Sein Radius ist kleiner geworden, nicht der Wille, beweglich zu bleiben und jeden Tag seines Leben erneut zu genießen. Er ist ein unscheinbarer Kriegsheld, der sich am liebsten in der Nähe seiner Frau aufhält. Mit ihr ist er seit sechzig Jahren zusammen, sie weiß auch seine Geschichten so zu erzählen, als wäre sie selbst dabei gewesen.

Die litauische Division stellte den größten Anteil an Juden – mit 12.000 jüdischen Soldaten bei einem Mannschaftsbestand von 15.000. Die meisten Soldaten sprachen Jiddisch, man beging sogar die jüdischen Feiertage. Ihnen gehörte auch Jakov Shapira an, der es am Schluss bis zum Feldwebel geschafft hatte.

Als die Wehrmacht im Zuge ihrer Invasion in die UdSSR im Juni 1941 Litauen innerhalb von wenigen Tagen besetzte, war er ein 16-jähriger Gymnasiast. Seine Mutter, schwanger und mit noch drei kleinen Töchtern, riet damals ihrem Ältesten zur Flucht: „Jankele geh, du kannst dich am besten retten.“ So fuhr er mit anderen Jugendlichen in der Gruppe los – es waren dreißig, darunter auch Mädchen. Zunächst waren sie mit dem Fahrrad unterwegs, dann zu Fuß, später mit dem Zug. Jedenfalls schafften sie es bis nach Russland. In Gorki meldete er sich als Freiwilliger bei der Armee.

Die litauische Division beteiligte sich an der heftigen Schlacht von Oriol (1943), in der sie viele Soldaten verlor, sowie an der Befreiung von Litauen und Kurland. Jakov Shapria war überall dabei. Auch in der Schlacht von Aleksejewka, in der 4.500 jüdische Soldaten der Division fielen. „Ich war schon kein schlechter Soldat“, sagt er bescheiden. Seine Frau Jente erinnert auch an seine Expertise, im tiefsten Winter Schützengräben auszuheben. „Er konnte das gut, er hatte Kraft.“ Seine letzte Verwundung war so schwer, dass man ihm fast das Bein abgenommen hätte, wenn nicht rechtzeitig eine junge Chirurgin interveniert wäre. Die Genesung erfolgte im Militärkrankenhaus seiner Geburtsstadt Šiauliai, die er mit befreit hatte und in der er auch verletzt worden war.

Erst danach sollte er seine Familie – die bis 1941 im Besitz einer Schuhfabrik in Litauen gewesen war – wiedersehen. Seine Eltern und Geschwister hatten zunächst im Ural überlebt. Dann verdingte sich der Vater in einer Schuhfabrik in Molotov, heute Pirm, wo er schnell zum Manager aufstieg, was ihm sowjetische Ehrungen eintrug und einen Zeitungsartikel mit Foto in der litauischen Zeitung. Ein solches Exemplar kam dem Soldaten Jakov Shapira zu Händen. So entdeckte er den Aufenthaltsort seiner Familie, nachdem er zwei Jahre lang im Ungewissen geblieben war. Nach dem Krieg kehrten sie nach Litauen zurück.

In seinem zweiten Leben – in Israel – war Jakov Shapira zunächst für Lederzuschnitte verantwortlich, bevor er sich wieder mit der Herstellung von Schuhen beschäftigte. Ein Geschäft, das er noch von Zuhause kannte. Das Gehen aber blieb für ihn seit seiner Verwundung mit Schmerzen verbunden. Was den Optimismus dieses Paares aber nicht einschränkt. Es sei so schade, sagt Jente Shapira, dass man das Leben nicht einfach verlängern könne.

© Gisela Dachs

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