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Wer sich über den aktuellen Stand der Wissenschaft zu Antisemitismus und Strategien, wie man dem gleichzeitig so alten und dennoch so aktuellen Phänomen begegnen kann, informieren möchte, hat nun ein neues Kompendium zur Verfügung. An End to Antisemitism! hieß eine Konferenz, zu der der European Jewish Congress und die Universitäten Wien, New York und Tel Aviv 2018 Expertinnen und Experten aus aller Welt nach Wien luden. Die Ergebnisse sind nun in fünf Bänden erschienen.

1999
© European Jewish Congress

Antisemitismus ist ein Jahrtausende altes Phänomen. In Österreich sei er spätestens seit dem Mittelalter virulent, betonte der Judaist Armin Lange, einer der Organisatoren der Konferenz und Mitherausgeber der Buchreihe, bei deren Präsentation in Wien. „Er geht auf den paganen und christlichen Judenhass der Antike zurück und hat seinen traurigen Höhepunkt während der Schoah erreicht.“ Heute müsse man aller Opfer – ob jener der Wiener Gesera oder des Holocaust – gedenken, nur: Gedenken allein sei nicht genug. Juden und Jüdinnen müssten ohne Angst und Gefahr leben können – und die Bekämpfung von Antisemitismus gehe alle, also die ganze Gesellschaft an. „Judenverfolgung ist nur ein Schritt auf dem Weg der Intoleranz und des Hasses. Wer Jüdinnen und Juden verfolgt, wird nicht zögern, auch alle anderen zu verfolgen, die ihm missliebig sind.“ EJC-Vizepräsident Ariel Muzicant betonte, die jüdische Gemeinde schaffe es heute zwar, Antisemitismus zu dokumentieren, und die meisten Gemeindemitglieder seien auch selbstbewusst genug, um mit den Anfeindungen fertigzuwerden. „Aber es ist kein Zustand. Und es ist kein Zustand, dass meine Enkel in die Schule gehen und bewacht werden müssen.“

BUCHREIHE
„AN END TO ANTISEMITISM!“
Herausgegeben von Armin Lange, Kerstin Mayerhofer, Dina Porat, Lawrence H. Schiffman, erschienen im Verlag De Gruyter
Band 1: Comprehending and
Confronting Antisemitism
Band 2: Confronting Antisemitism
from the Perspectives of Christianity,
Islam and Judaism
Band 3: Comprehending Antisemitism through the Ages: A Historical Perspective
Band 4: Confronting Antisemitism
from Perspectives of Philosophy and
Social Sciences
Band 5: Confronting Antisemitism in Modern Media, the Legal and Political Worlds

Mehr Informationen auf:
degruyter.com/serial/aeas-b/html

Was also tun? Antworten darauf sollten bei dem Kongress gesucht werden. Die Experten formulierten dabei eine Vielzahl an Vorschlägen. Lange fasst dazu nun zusammen: „Wir raten zu einer dualen Strategie, die aus kurzfristig und langfristig wirksamen Maßnahmen besteht. Kurzfristig gilt es, Jüdinnen und Juden vor Verfolgung jedweder Art zu schützen und antisemitische Täterinnen und Täter durch konsequente Strafverfolgung abzuschrecken. Langfristig haben wir ein Konzept entwickelt, von dem wir hoffen, dass es den Judenhass aus den Herzen der Menschen entfernen kann.“ Konkret soll die Antisemitismusbekämpfung in der Gesetzgebung jedes Landes verankert werden, idealerweise in der Verfassung. Antisemitismusbekämpfung und -erforschung müssen in unabhängigen Institutionen erfolgen, die ohne Regierungskontrolle arbeiten können. Die Geschichte des Antisemitismus, aber auch  Wissen über das Judentum müssten im gesamten Bildungssystem vermittelt werden. Begleitend brauche es neben dieser rationalen Aufklärung auch positive emotionale Erfahrungen mit dem Judentum. Und schließlich benötige all das auch eine entsprechende Finanzierung: Jedes Land, jede Institution, Organisation und Gruppierung sollten daher jährlich einen bestimmten Prozentsatz seines oder ihres Budgets zur Antisemitismusbekämpfung verwenden. Nationalratspräsident Werner Sobotka und Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler (beide ÖVP) bekräftigten bei der Präsentation der fünfbändigen Expertise zum Thema Antisemitismus denn auch ihr Bemühen, hier mit der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus, die Österreich vorgelegt hat, einerseits gegen Judenfeindlichkeit einzutreten, andererseits ein blühendes jüdisches Leben zu ermöglichen. Genug könne man zwar nie tun, aber es passiere sehr viel, betonte Sobotka, der auf die alle zwei Jahre stattfindende Untersuchung im Auftrag des Parlaments dazu verwies und den neu ins Leben gerufenen Wiesenthal-Preis hervorhob. Dieser zeichnet zivilgesellschaftliches Engagement aus. Sobotka sprach auch Antisemitismus im Netz an. Hier forderte er ein globales Agieren. Dieses brauche es auch auf der Ebene der jüdischen Gemeinden, meinte Muzicant. Man debattiere, ob es für sie eine Zukunft in Europa gebe, traue sich aber gleichzeitig nicht, laut Klartext zu sprechen und für sich einzutreten. Vielleicht mache sich die Wiener jüdische Gemeinde nicht immer beliebt, aber sie sage, was zu sagen sei – und habe daher eine Chance, noch lange zu bestehen, wobei Muzicant betonte: „Wir tun das nicht nur für uns, sondern auch für die politische Hygiene dieses Landes.“ Und genau diese ist wichtig, wie auch ECJ-Präsident Moshe Kantor betonte. Denn die Novemberpogrome 1938 seien auch deshalb möglich gewesen, weil es in der Gesellschaft Gleichgültigkeit gab. Heute sei der Kampf gegen Antisemitismus daher auch ein Gradmesser für den Zustand der Demokratie in einem Land.

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