Was sind die Aufgaben einer Sonderbeauftragten für die Bekämpfung von Antisemitismus im jüdischen Staat Israel?
Michal Cotler-Wunsh: Wir sind mit einem globalen Tsunami von Antisemitismus konfrontiert. Und ich sehe es als meine Aufgabe, den jüdischen Gemeinden in aller Welt zu vermitteln: Israel ist der Staat des jüdischen Volkes. Ich sehe mich daher an vorderster Front im Kampf gegen Antisemitismus im Dienst aller Jüdinnen und Juden. Seit den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 bin ich auf Reisen, um mit jüdischen Gemeinden in aller Welt in Kontakt zu treten und ihnen zu helfen, denn ich weiß, dass sich viele isoliert, verängstigt, überrascht, schockiert und allein fühlen. Aber ich spreche auch mit Gesetzgebern, Medien, Strafverfolgungsbehörden, Bürgermeistern, Universitätspräsidenten und -rektoren oder Gewerkschaftsführern in den jeweiligen Ländern. Keine jüdische Gemeinde sollte im Kampf gegen diesen Tsunami allein gelassen werden oder sich allein fühlen.
Ich wurde drei Wochen vor dem 7. Oktober ernannt und hatte eigentlich vor, eine nationale Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus zu entwickeln, die im Falle Israels eine internationale Komponente haben muss, mit anderen Worten, proaktiv zu arbeiten. Stattdessen hat mich der Tsunami des Antisemitismus als Reaktion auf das Massaker vom 7. Oktober und den seitdem tobenden Mehrfrontenkrieg in einen reaktiven Notfallmodus versetzt. Es ist mir wichtig, auf meinen Reisen zu vermitteln, dass Antisemitismus ein ständig mutierender Virus ist. Die einzige Möglichkeit, dem etwas entgegenzusetzen, besteht darin, zu verstehen, wie es dazu gekommen ist. Anders kommen wir im Moment nicht weiter. Aber ich möchte wieder in einen Modus kommen, in dem ich proaktiv handeln kann.
Sie sprechen von einem Tsunami angesichts des aktuell weltweit zu spürenden starken Antisemitismus. Hätten Sie einen solchen Anstieg am 6. Oktober für möglich gehalten?
Für diejenigen, die verstehen, wie Antisemitismus mutiert, sich ausbreitet und zum Mainstream wird, war es vorhersehbar, dass eine solche Entwicklung jederzeit eintreten könnte. Deshalb ist es so wichtig, dass wir verstehen, dass Antisemitismus der älteste Hass der Welt ist. Und er ist nicht in Auschwitz gestorben. Er mutiert wie ein Virus und hat in den Tausenden von Jahren, seit es Juden gibt, immer wieder neue Stämme hervorgebracht. Wir müssen daher diese immer neuen Stämme identifizieren. Es reicht nicht aus, jene aus der Vergangenheit zu kennen. Nicht weniger verheerend ist allerdings, dass auch die alten Stämme nicht verschwinden.
Wie erklären Sie sich die Täter-Opfer-Umkehr, die so schnell nach dem 7. Oktober 2023 eingetreten ist? Die Hamas hat hier das schlimmste Pogrom gegen Juden seit der NS-Zeit begangen, doch nun wird Israel des Völkermordes beschuldigt und Juden in aller Welt werden angegriffen.
Genau so funktioniert Antisemitismus. Ich verwende den Begriff Antisemitismus, weil er von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) nach einem sehr langen demokratischen Prozess klar und umfassend definiert wurde. Wir könnten ihn auch Judenhass nennen, nur dass er zu neuen Formen des Israelhasses und Antizionismus mutiert ist. Man muss nicht jüdisch sein, um Ziel dieser modernen Form des Hasses zu werden. Wenn man nur glaubt, dass Israel – der Jude unter den Staaten – ein Existenzrecht hat, kann man bereits zur Zielscheibe dieser Form des Antisemitismus werden.
Aber diese Umkehrung, nach der Sie mich gefragt haben, überschneidet sich mit viel tieferen Prozessen, die Demokratien herausfordern. Sie überschneidet sich mit einer Ideologie, die die Welt in Täter und Opfer, Unterdrücker und Unterdrückte aufteilt. Und in einer Orwell’schen Umkehrung ist es der Jude unter den Völkern, der auf unergründliche Weise als Opfer und Unterdrücker wahrgenommen wird, wobei Juden von vielen Menschen in Nordamerika als „hyperweiß“ angesehen werden.
Wir begehen heuer den 76. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch deren Prinzipien werden systematisch missbraucht und als Waffe eingesetzt, um den Staat Israel zu dämonisieren, zu delegitimieren und mit zweierlei Maß zu messen. Wir befinden uns in einem existenziellen Moment, nicht nur für den Staat Israel, sondern für Juden auf der ganzen Welt. Antisemitismus ist zum Mainstream geworden, so dass Juden auf der ganzen Welt aufgefordert werden, sichtbare jüdische Zeichen zu entfernen – und ihnen gesagt wird, dass ihre bloße Anwesenheit eine Provokation darstellt. Dieses Mainstreaming des Antisemitismus erinnert an dunkle Kapitel der Geschichte und sollte die Alarmglocken schrillen lassen.
Wie der verstorbene Rabbiner Jonathan Sacks lehrte: Was mit den Juden beginnt, endet nie mit den Juden. Steigender Antisemitismus ist immer ein verlässliches Zeichen für eine wachsende Bedrohung der Freiheit und Würde von Menschen. Und ich denke, das ist das größte Versäumnis der Demokratien, nicht zu verstehen, dass es hier nicht nur um Juden und Israel geht, sondern um die existenzielle Bedrohung aller Räume und Orte, in denen Antisemitismus so alltäglich geworden ist, so normalisiert, dass die Menschen ihn nicht einmal verstecken. Die alten Stämme des Antisemitismus, die traditionellen Formen des Antisemitismus, sind wie ein Geist aus der Flasche freigelassen worden.
Warum ist es für Israel so wichtig, dass Juden in aller Welt sicher leben können? Man könnte auch sagen: Kommt alle nach Israel.
Ich habe immer gesagt, dass Israel und das globale Judentum zwei Seiten derselben Medaille sind. Aber der 7. Oktober 2023 und der Tsunami von Antisemitismus als Reaktion darauf und auf den seitdem tobenden Krieg hat uns daran erinnert, dass wir eine Seite derselben Medaille sind. Wir sind ein Volk, das in einem existenziellen Mehrfrontenkrieg kämpft, sei es an den Fronten in Israel oder an der achten Front eines globalen Krieges um die öffentliche Meinung. Auch die jüdischen Gemeinden in der ganzen Welt stehen an der Front. Ich sehe die Rolle Israels hier darin, sich an Diskussionen mit Regierungen und Gesetzgebern in den einzelnen Ländern zu beteiligen, um sicherzustellen, dass die IHRA-Arbeitsdefinition nicht nur angenommen, sondern auch tatsächlich durch nationale Aktionspläne gegen Antisemitismus umgesetzt wird.
Ich möchte es ganz klar formulieren: Es liegt in der Verantwortung des jüdischen Nationalstaates, Regierungen und Institutionen zu verpflichten, alles zu tun, damit Juden auf der ganzen Welt ein blühendes und gedeihendes jüdisches Leben führen können. Und die Aufgabe der jüdischen Gemeinschaft weltweit ist es, sich dafür einzusetzen, dass der Staat Israel weiterhin floriert. Das ist die Herausforderung, vor der wir alle als ein Volk stehen. Zum ersten Mal seit Tausenden von Jahren ist es uns möglich, dem Hass, der uns bedroht, die Stirn zu bieten und unsere Stimme zu erheben. Und diejenigen, die ihre Stimme erheben können, müssen aufstehen und es tun. Wir alle befinden uns im Krieg. Wir müssen ihm als ein Volk entgegentreten und kämpfen.
Sehen Sie das als die Lektion, die Jüdinnen und Juden aus der Geschichte gelernt hätten sollen? Bedeutet „Nie wieder“, was oft so verstanden wird, dass sich etwas wie die Schoa nicht wiederholen darf, eigentlich mehr, dass Juden so etwas nicht mehr mit sich geschehen lassen dürfen?
Bei einer Veranstaltung unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ sagte ich einen Monat nach dem 7. Oktober vor den Vereinten Nationen: Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was „nie wieder“ für uns bedeutet, und dem, was es für den Rest der Welt bedeutet. Für uns, das jüdische Volk, bedeutet es, dass wir nie wieder hilflos sein werden. Da wir als prototypisches Volk in unsere angestammte Heimat, den Staat Israel, zurückgekehrt sind, werden wir nie wieder darauf warten, dass jemand kommt und uns rettet, und uns Jahre später fragen, wie das alles passieren konnte. Die Erinnerung an das, was in der Vergangenheit geschah, ermöglicht es uns jedoch, zu verstehen, warum es geschah, und damit auch zu erkennen, was uns in der Gegenwart bedroht.
Die aktuelle Mutation des Antisemitismus ist die Dämonisierung Israels und des Zionismus. Anstatt die Juden wie in der Nazizeit zu entmenschlichen, wird dies nun auf den jüdischen Staat übertragen. Die Geschichte wiederholt sich nicht eins zu eins. Aber sie wiederholt sich in Variationen, wie wir jetzt sehen können. Ich denke hier an die vielen Staaten und Organisationen, die es systematisch verabsäumt haben, den 7. Oktober unmissverständlich zu verurteilen. Stattdessen lassen sie sich auf eine falsche moralische Gleichwertigkeit ein und stellen Israel und die Hamas auf eine Stufe. Die Hamas ist allerdings eine völkermordende Terrororganisation, die sich in ihrer Charta die Vernichtung Israels auf ihre Fahnen geschrieben hat wie einst „Mein Kampf“ die Ermordung der Juden. Wir können das aber auch ganz aktuell am Beispiel Syriens sehen. Israel ist dabei, die Welt von Lagerbeständen tödlicher Waffen zu befreien, darunter auch solche, die von Assad gegen sein eigenes Volk eingesetzt wurden. Aber Israel sitzt sozusagen schon wieder auf der Anklagebank.
Durch die systematische Umdeutung von Zionismus in Rassismus und Israels in einen Apartheidstaat, indem die Definitionen für die schlimmsten Verbrechen geändert werden, um Israel zu beschuldigen, sie begangen zu haben, sind wir nun mit der Verleumdung, einen Genozid zu begehen, konfrontiert. Kürzlich hat Amnesty International einen Bericht veröffentlicht, in dem Israel des Völkermordes beschuldigt wird. Das Gefährliche daran ist, dass Amnesty International die Definition von Völkermord im Sinn einer Orwell‘schen Umkehrung geändert hat. Unter Berufung auf diesen verzerrten Bericht schlug Irland dann vor, die Definition von Völkermord international zu ändern. Die Definitionen von Begriffen wie Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die geschaffen wurden, um sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passiert, werden also gekapert und die Begriffe neu definiert. Wenn man das zulässt, bricht auf lange Sicht allerdings die auf demokratischen Regeln basierende Ordnung zusammen.
Sie haben vorhin auch die nationalen Aktionspläne gegen Antisemitismus erwähnt. Österreich hat eine solche Strategie und die einzelnen darin vorgesehenen Maßnahmen sind mittlerweile auch umgesetzt. Ist Österreich hier auf einem besseren Weg als andere Länder?
Bei diesen Strategien kommt es immer darauf an, ob und wie sie umgesetzt werden.
Es wurden in Österreich ja aber eben schon alle vorgesehenen Maßnahmen angegangen.
Der Anstieg des Antisemitismus stellt das in Frage.
Bedeutet das, dass Dinge nur wirksam werden, wenn sie in Gesetze gegossen werden?
Nein, das meine ich nicht. Es müssen sich einfach alle Institutionen – vom Parlament bis hin zu den Schulen, dem Gesundheitssystem, den Strafverfolgungsbehörden – verpflichten, eine solche Strategie umzusetzen, angefangen bei der Definition. Und wir sehen ganz klar, dass sie nicht umgesetzt wird, denn wenn es einen Tsunami von Antisemitismus gibt, und auch die antisemitischen Vorfälle in Österreich seit dem 7. Oktober 2023 massiv zugenommen haben, dann können wir nicht von einer erfolgreichen Umsetzung sprechen.
Kann man also nur dann von einer erfolgreichen Umsetzung eines Aktionsplans gegen Antisemitismus sprechen, wenn es überhaupt keinen Antisemitismus mehr gibt?
Nein. Es wird wahrscheinlich immer Antisemiten geben. Aber wenn zum Beispiel religiöse Führer in Moscheen weiterhin Antisemitismus predigen, dann ist eine solche Strategie noch nicht erfolgreich umgesetzt. Wenn es antisemitische Vorfälle an Schulen gibt, dann ist sie noch nicht erfolgreich umgesetzt.
Es liegt also noch ein langer Weg vor uns.
Der 7. Oktober und der Tsunami des Antisemitismus, der auf den schlimmsten Angriff auf Juden seit dem Holocaust folgte, zeigen jedoch, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt, um diesen tödlichen Hass einzudämmen. Wir befinden uns wirklich in einem Moment großer Dringlichkeit. Die Sirenen ertönen in Israel im wörtlichen Sinne und im Rest der Welt im übertragenen Sinne. Wir müssen zum Beispiel verstehen, dass der Antisemitismus, der die Gräueltaten vom 7. Oktober schürte, auf jahrelange Indoktrination durch die UNWRA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinenser, zurückzuführen ist. Die UNWRA wird von vielen westlichen Demokratien, einschließlich europäischer Länder, finanziert. Aber die UNWRA ist zutiefst antisemitisch. Sie hat nicht nur die Tausenden von Schergen ausgebildet, die am 7. Oktober Menschen ermordet, vergewaltigt und entführt haben, sondern sie erzieht die Kinder der Palästinenser auch mit dem Gift des Antisemitismus. Doch trotz aller Beweise ziehen es viele vor, zu schweigen, anstatt ihre Stimme zu erheben.
Sie meinen die so genannten Bystander.
Ganz genau. Elie Wiesel schrieb, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist, sondern Gleichgültigkeit. Und wenn man weiß, dass Antisemitismus das zuverlässigste Frühwarnzeichen für eine Bedrohung von Menschlichkeit und Freiheit ist, dann müssen alle Menschen ihre Stimme erheben, wenn sie Antisemitismus sehen, wo immer er auftritt. Das versuche ich auch in den Gesprächen, die ich auf meinen Reisen führe, zu vermitteln.
Sie werben um Verbündete.
Es geht nicht nur darum, Verbündete zu haben. Antisemitismus ist kein Problem der Juden. Es ist ein Problem der Antisemiten und der Orte und Räume, die es ihnen ermöglichen, sich zu verbreiten und mit tödlichem Hass zu infizieren. Es ist wichtig, dass die Menschen erkennen, dass sie den Antisemitismus nicht für die Juden bekämpfen. Der Anschlag vom 7. Oktober war ein Angriff der Barbarei auf die Zivilisation. Die Geschichte lehrt, dass Antisemitismus letztlich alle bedroht.
Sie haben den weltweiten Antisemitismus bereits mehrmals angesprochen. Wir alle haben die Videoaufnahmen von Juden gesehen, die rund um ein Fußballmatch in Amsterdam gejagt wurden. In Wien wurde kürzlich einem orthodoxen Juden der Schtreimel vom Kopf gerissen. Es scheint, dass trotz aller Bemühungen, Antisemitismus zu bekämpfen, dieser nicht ausgerottet werden kann. Fühlen Sie sich manchmal auf verlorenem Posten?
Antisemitismus gibt es leider schon so lange, wie es Juden gibt. Ich weiß nicht, ob Antisemitismus jemals vollständig besiegt werden kann. Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer. Nach Tausenden von Jahren, in denen Juden keine andere Wahl hatten, als aus Orten und Räumen zu fliehen, in denen sich der Hass gegen sie verbreitete und zum Mainstream wurde, haben wir jetzt den jüdischen Staat Israel. 2024 ist nicht 1944, wir haben eine Verteidigungsarmee, wir haben Souveränität. Und wir haben immer noch die relative Sicherheit der Juden in der ganzen Welt. Die Rettung des jüdischen Volkes liegt in der Hoffnung. Ich möchte noch einmal Rabbi Sacks zitieren, der sagte, dass Optimismus eine passive Tugend ist, während Hoffnung eine aktive Tugend ist, und dass es nicht viel Mut erfordert, ein Optimist zu sein, aber viel Mut, Hoffnung zu haben. Nicht umsonst heißt die israelische Nationalhymne haTikva, was Hoffnung bedeutet.
Ich möchte hier aber auch noch etwas anderes erwähnen: 2020 haben wir mit einer Reihe von arabischen Staaten das Abraham-Abkommen unterzeichnet. Dieses Abkommen bietet die Chance für einen Paradigmenwechsel in der Region. Die Länder, die das Abraham-Abkommen unterzeichnet haben, wie Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate, waren auch nach dem 7. Oktober relativ ruhig und haben sich nicht in den Chor der Israel-Kritiker eingereiht.
Das islamische Regime im Iran und seine völkermordenden Stellvertreter, die Hamas, die Hisbollah und die Houthis, haben kein Interesse an dieser Annäherung und an der Möglichkeit einer besseren Zukunft, die sie bringen kann. Als Mitglied der Knesset habe ich bei der Unterzeichnung des Abkommens einen Artikel mit dem Titel „The War on the Abraham Accords“ geschrieben. Wenn es die Absicht von Ali Chameneis Iran ist, auf den Ruinen unserer Zivilisation eine alternative Realität zu errichten, ein Kalifat, in dem niemand von uns leben möchte, dann stehen die Abraham-Abkommen natürlich im Weg. Gerade deshalb ist es so wichtig, für unsere westlichen Werte zu kämpfen, die wir für so selbstverständlich halten, aber auch zu erkennen wissen, dass die Freiheit gar nicht frei ist.
Schauen wir noch einmal nach Europa: Der Papst irritierte dieser Tage mit vom Vatikan verbreiteten Fotos, die ihn vor einer Krippenszene zeigen, in der das Baby Jesus auf eine Keffiyeh gebettet wurde.
Damit unterstützt der Papst ein Narrativ, das die Geschichte gekapert hat. Und dies ist ein Symbol für etwas sehr Tiefgreifendes: die Aneignung und Bewaffnung der Geschichte. Fakten werden umgedeutet, um eine völlig andere Geschichte zu erzählen, eine, die nicht nur Juden betrifft und nicht nur Juden bedroht. Die Tatsache, dass dieses Anti-Israel-Narrativ nun über diese Fotos an Millionen von Christen auf der ganzen Welt verbreitet wurde, spricht Bände. Nur erweist so etwas nicht einmal den Palästinensern einen guten Dienst.
Meine Antwort darauf: Wem wirklich etwas an den Palästinensern liegt, sollte in den Straßen von New York, Berlin oder Wien für die Befreiung des Gazastreifens von der Hamas demonstrieren, einer völkermordenden Terrororganisation, die Palästinenser als menschliche Schutzschilde benutzt und misshandelt. Woher wir das wissen? Weil wir Tausende von Stunden an Filmmaterial gefunden haben, das zeigt, wie die Hamas Menschen im Gazastreifen foltert. Aber darüber wird geschwiegen. Wenn der Vatikan solche Bilder verbreitet, dann ist das keine pro-palästinensische Geste, sondern in Wirklichkeit eine Ermutigung für ein radikal-islamisches Regime und eine radikal-islamische Ideologie.
Stichwort Verbreitung: Welche Rolle spielen Social Media Plattformen in diesem Krieg um Definitionen und Narrative?
Das polarisierende und fragmentierende Geschäftsmodell der sozialen Medien ist ein Beschleuniger dessen, was frühere Propaganda nur langsam verbreiten konnte. Und es ist ein sehr lukratives Modell. Das Gefährliche daran ist, dass es die Art und Weise, wie die Menschen Informationen konsumieren, dramatisch verändert hat. Ob Informationen auf ihre Richtigkeit überprüft wurden, interessiert da überhaupt nicht mehr. Hinzu kommt die schiere Menge und Intensität der Informationen. Das hat zur Folge, dass die jüngeren Generationen immer weniger in der Lage sind, kritisch zu denken. Das spiegelt sich auch an den Universitäten wider – man denke an die Proteste gegen Israel an US-Universitäten. Hier ist ein Eingreifen erforderlich. Und nein, das hat nichts mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit zu tun. Hier geht es nicht um Meinungsfreiheit, sondern um Propaganda, die die Vielfalt der Gedanken zum Schweigen bringt.
Ein Begriff, der in den sozialen Medien ebenfalls stark umgedeutet wurde, ist Zionismus. Aus dem Mund mancher klingt er inzwischen wie ein Schimpfwort. Wie kann man hier dagegen argumentieren?
Ja, der Begriff ist leider vereinnahmt worden. Was aber ist Zionismus? Es ist die fortschrittliche, nationale Befreiungsbewegung, die es den Juden, einem prototypischen indigenen Volk, ermöglicht hat, in ihre angestammte Heimat zurückzukehren. Ich bin Zionistin – und viele Nicht-Juden sind es auch. Für mich bedeutet das, dass ich weiß und anerkenne, dass ich zu diesem Volk gehöre, dass meine Vorfahren seit Tausenden von Jahren gebetet und sich danach gesehnt haben, nach Zion zurückzukehren. Wenn der Begriff Zionismus in verleumderischer Weise eine negative politische Konnotation erhalten hat, stellt er die Identität der meisten Juden in der Welt und vieler Nicht-Juden, die an das Existenzrecht Israels glauben, in Frage. Es ist nicht hinnehmbar, dass, wenn ich sage – ich bin Zionistin -, die Leute hören – ich bin Rassistin – und uns das Recht absprechen, uns selbst als das zu definieren, was wir sind.
Eines der wichtigsten Dinge, die wir jetzt tun müssen, ist, unsere zionistische Identität zurückzuerobern und zu verinnerlichen. Ich will nicht, dass Antisemitismus und Antisemiten definieren, wer ich bin. Ich kenne meine Geschichte. Und ich erinnere mich an meine Geschichte. Wir müssen dafür sorgen, dass Juden auf der ganzen Welt sich nicht nur an ihre Geschichte erinnern, sondern sie auch erzählen. Und noch etwas: Wir wissen aus der Geschichte, dass es nichts bringt, seine Identität zu verleugnen oder abzulegen. Selbst wenn ich mich nicht mehr als Zionistin bezeichne, wird sich der Hass weiterhin gegen mich richten. Durch die Existenz Israels hat unsere Generation die Möglichkeit, sich zu wehren und ihre Stimme zu erheben. Das ist eine historische Chance.
Zur Person
Michal Cotler-Wunsh, geb. 1970 in Jerusalem, ist Israels Sonderbeauftragte für die Bekämpfung des Antisemitismus. Sie wuchs in Israel und Kanada auf und hat einen Abschluss in Rechtswissenschaften von der Hebräischen Universität Jerusalem und der McGill-Universität. Sie war Abgeordnete der 23. Knesset Israels („Blau-Weiß-Partei“).