„Mir geht es auch ganz stark um die Kulturgeschichte“

An der ZPC-Schule gibt es seit diesem Schuljahr eine neue Schulbuchreihe für den Unterrichtsgegenstand „Jüdische Geschichte“. WINA sprach mit dem Judaistik-Professor und Autor der vier Bände Jüdische Geschichte, Klaus S. Davidowicz. Das Wissen um die eigene Geschichte schaffe auch Identität, sagt er. Bei Jugendlichen mit verschiedensten jüdischen Identitäten schaffe es aber auch Gemeinschaft.

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Klaus S. Davidowicz: Der Historiker und Lehrer an der ZPC-Schule hat eben eine neue vierbändige Jüdische Geschichte vorgelegt. © Parlamentsdirektion/Thomas Topf; ZPC

WINA: In der Schulbuchreihe erzählen Sie die Historie des Judentums von den Anfängen bis zum Pogrom in Israel am 7. Oktober 2023. Wann beginnt die Geschichte der Juden und Jüdinnen, und welche wissenschaftlich-historische Quellen gibt es dazu?

Klaus S. Davidowicz: Die jüdische Geschichte beginnt mit dem babylonischen Exil, weil wir davor, wenn wir seriös historisch arbeiten, nicht viel haben. Wir haben eine Stele, die darüber berichtet, dass es so etwas wie Israel gab, dass es ein Geschlecht Davids gab. Und dann hört es schon auf. Die Archäologen sagen, es gab wahrscheinlich zwei Reiche, Juda und Israel. Die waren eigentlich Rivalen, und eines der Reiche wurde zerstört. Und mit der Zerstörung Israels beginnt die jüdische Geschichte, weil man für die Aufarbeitung von Geschichte immer Parallel-Quellen braucht. Und da hat man dann zum Beispiel Tributslisten.

 

Dennoch steigen Sie mit den Geschichten aus der Tora in das Schulbuch ein. Was war die Motivation dafür?

I Ich habe hier Marc Uri, den jüdischen Leiter der ZPC-Schule, um eine entsprechende Einführung gebeten. Das Schulbuch mit dieser Saga zu beginnen, passt zur religiös-zionistischen Ausrichtung der Schule, und diesen Vorlauf gab es auch schon in den vor Jahrzehnten von Jacob Allerhand erstellten Unterrichtsmaterialien. Hier wird geschildert, was die Bibel uns erzählt. Und ich lasse das dann hineinfließen in den Teil, wo es historisch wird.

 

Tora und Tanach bilden den Kern des Judentums. Was von dem, was darin erzählt wird, ist auch historisch nachweisbar?

I Die Tora ist nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil verfasst worden. Zur Belegbarkeit gibt es verschiedene historische Schulen. Die Minimalisten meinen, es stimmt gar nichts. Andere wie der Archäologe Israel Finkelstein weisen darauf hin, dass zum Beispiel die Ägyptologie gezeigt hat, dass die Hyksos als Fremdherrscher in Ägypten waren und dann wieder vertrieben wurden. Die Exodus-Geschichte reflektiert diese historischen Bewegungen und Züge von Nomaden. Wir haben ja nur archäologische Quellen, aber keine Texte aus dieser Periode. Das beginnt eben erst mit dem babylonischen Exil.

Wo es also durchaus historisch wird, ist dann nach der Tora, also in den Königsbüchern, da wird dann auch über die Zerstörung des ersten Tempels berichtet. Aber das andere ist wie eine tolle Heldengeschichte, wie wir sie auch in anderen Kulturen haben. Menschen, die das glauben, tun dies wie in anderen Religionen auch. Aber Geschichten haben nichts mit Geschichte zu tun, deshalb beginnen wir den Unterricht dort, wo es faktisch wird. Das andere überlassen wir dem Religionsunterricht.

 

Klaus S. Davidowicz: Jüdische Geschichte Ein Schulbuch der ZPC-Schule der IKG Wien in vier Bänden Mitarbeit: Olivia Yan, Marc Uri; Coverbild: Roy Riginashvili; Design & Layout: Benjamin Abramov Bestellungen: unter office@zpc.at

Und faktisch wird es, wozu es auch Quellen gibt.

I Ja, wobei sich auch das in der Wissenschaft entwickelt. Bis 1993 hatte man keinen Beweis, dass König David existierte. Bis dahin erzählte nur die Tora von ihm. Dann wurde die „Tel Dan“-Stele gefunden. Was mir in der Vermittlung aber viel wichtiger ist: Die Wirkungsgeschichte von David und von Salomo in der Kunst, der Literatur, in den Religionen ist gewaltig. Und auch, wenn biblische Archäologen sagen, wir haben keine Beweise, dass Menschen wie Abraham, Jakob, Moses existiert haben, gibt es diese Wirkungsgeschichte. Zur persischen Zeit gibt es die Darstellungen von Judith und Holofernes. Und wenn die Schüler und Schülerinnen dann zum Beispiel im Rahmen der Langen Nacht der Museen ins Kunsthistorische Museum gehen, sehen sie, wie viele Gemälde es dazu gibt. Oder nehmen wir die Purim-Geschichte. Sie ist die Blaupause für Antisemitismus, Vernichtung und Verfolgung.

 

„Mir geht es ganz stark um die Kulturgeschichte, also die Bedeutung jüdischer Kultur, jüdischer Persönlichkeiten, jüdischer Werke.“

 

Welche sind denn die großen Linien, die Sie den Schülerinnen und Schülern vermitteln wollen?

I Vorausschicken möchte ich: Basis für die Schulbuchreihe ist das dreibändige Buch von Jacob Allerhand aus den 1980er-Jahren. Das ist am Anfang in der ZPC-Schule, als Allerhand noch selbst unterrichtet hat, verwendet worden. In der Vermittlungsliteratur hat sich aber viel verändert, nicht zuletzt durch die Digitalisierung seit den 1990er- und 2000er-Jahren. Diese Form von Schulbüchern ist nicht mehr adäquat für heutige Jugendliche und einen modernen Unterricht.

Ich selbst unterrichte seit mehr als 20 Jahren jüdische Geschichte an der ZPC-Schule und habe auch den Lehrplan dafür erstellt. Wichtig war mir dabei die jüdische Kulturgeschichte, das Aufzeigen, welche Zentren es im Lauf der Zeit gegeben hat, ob das jetzt Aschkenas im Mittelalter ist oder das sephardische Judentum auf der iberischen Halbinsel, ob es die Juden im Osmanischen Reich waren oder die Juden in Polen. In der Gegenwart ist mir die Geschichte Israels wichtig, aber auch die Geschichte der Juden in den USA. Es geht also darum zu vermitteln, wie und wo Juden gelebt haben und wo sie dabei auch Besonderes gemacht haben.

Wichtig ist mir zudem auch die Geschichte antisemitischer Motive. Damit Schüler und Schülerinnen Antisemitismus erkennen, müssen sie darüber Bescheid wissen. Da geht es um Texte wie die Protokolle der Weisen von Zion, die sich dann zum Beispiel im heutigen Nahostkonflikt widerspiegeln. Diese großen Linien finden sich auch in der Schulbuchreihe.

 

Was mir beim Lesen der vier Bände aufgefallen ist: Sie erzählen hier beispielsweise von den historischen Chasaren, aber nichts zur Geschichte der Bucharen, der georgischen Juden oder der Bergjudend, die aber eine wichtige Rolle für die Identität eines Teils der heutigen Wiener jüdischen Jugendlichen speielen.

I Die Geschichte der Chasaren ist insofern wichtig, weil sie ein Topos für Antisemitismus ist, wenn es heißt, diese Juden sind ja gar keine richtigen Juden, sie sind Chasaren. Alle jüdischen Gruppen, die es gibt, vorzustellen, hätte aber den Rahmen gesprengt. Ich habe zum Beispiel auch nichts über die jemenitischen Juden im Buch.

 

© ZPC-Schule

 

Sie bemühen sich in der Reihe um eine jugendgerechte, leicht verständliche Sprache und präsentieren die Informationen in sehr klar abgegrenzten, kurzen Kapiteln und vielen kleinen Häppchen. Wie schwer ist Ihnen als Wissenschafter diese Reduktion gefallen?

I Das ist mir nicht schwer gefallen, weil ich ja seit Jahren mündlich so unterrichte. Es ging nun mehr darum, einen Weg zu finden, das zu verschriftlichen. Die Herausforderung war vor allem, Dinge so einfach als möglich darzustellen, ohne dabei banal zu werden.

 

Welche Details waren Ihnen dennoch wichtig zu vermitteln?

I Mir war es wichtig, gewisse Zentren zu zeigen: Warum ist, zum Beispiel, das Judentum in den USA heute so bedeutend? Welche Rolle kommt Israel zu? Die Buchreihe ist chronologisch aufgebaut, aber ich habe mich dann doch auch für Exkurse entschieden. Die Geschichte der Juden in Österreich ist etwa quer durch die Kapitel nachzuvollziehen – über Mittelalter, Neuzeit und Shoah bis in die Gegenwart. Es ist schließlich das Schulbuch für die ZPC-Schule. Über die Schweiz findet man dagegen nichts; Deutschland kommt vor, aber nicht in dem Ausmaß wie Österreich.

Andere Lehrbücher konzentrieren sich wiederum auf Gelehrten- und Verfolgungsgeschichte. Hier habe ich einen anderen Zugang. Mir geht es eben auch ganz stark um die Kulturgeschichte, also die Bedeutung jüdischer Kultur, jüdischer Persönlichkeiten, jüdischer Werke. Sinn des Unterrichts in jüdischer Geschichte ist ja, dass die Schüler und Schülerinnen ihre eigene Kultur besser kennenlernen und auch stolz auf diese Kultur sind und sich nicht zu verstecken brauchen. Sie sollen aber auch ein Rüstzeug bekommen, sich zu wehren, wenn ihnen jemand zum Beispiel vorwirft, sie seien Chasaren.

 

„Es gibt so viele jüdische Identitäten, die aber gar nicht religiös definiert sind, sondern von der Sprache und der Herkunft der Familien.“

 

Die vier Bände sind auch durchzogen von Querverweisen zu Kunstwerken, Literatur und kultureller Produktion abseits religiöser Inhalte.

I Ja, ich habe da viel mit Abbildungen abgedeckt, von künstlerischen Darstellungen, aber auch Denkmälern oder synagogalen Bauten. Damit will ich den Jugendlichen sagen: Das gehört zu eurer Geschichte dazu.

 

Einleitend weisen Sie in den Bänden auch darauf hin, dass die Reihe einen Rahmen vorgeben möchte, die Lehrpersonen dann ergänzend vor allem für aktuelle Bezüge, aber auch andere Quellen heranziehen müssen. Stichwort aktuelle Bezüge: Wie schwer war es, dieses Buch nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden und noch immer andauernden Krieg fertigzustellen?

I So ein Projekt hat ja eine lange Vorlaufzeit. Das Erscheinen war für dieses Schuljahr festgesetzt. Die Bildersuche hat hier sehr viel Zeit in Anspruch genommen, damit war ich im letzten Jahr vor allem beschäftigt. Es war aber klar: Dieses Kapitel der Geschichte Israels muss noch ins Buch hinein. Wichtig war mir aber auch, auf den dadurch zum Beispiel in den USA ausgelösten Antisemitismus hinzuweisen. Mit dem 7. Oktober und seinen unmittelbaren Auswirkungen endet Band 4. Ich habe die Reihe aber so konzipiert, dass es auch möglich wäre, noch einen Band 5 zu verfassen. Hier könnte man dann zum Beispiel auch die von Ihnen angesprochene Geschichte der bucharischen oder der georgischen Juden darstellen.

 

Warum ist dieses Wissen um die eigene Geschichte und Herkunft so wichtig für jüdische Jugendliche?

I Die ZPC-Schule wird ja von eine sehr unterschiedlichen Klientel besucht, von religiös bis total dem Judentum fern, also ganz assimiliert. Es gibt Jugendliche, die Traditionen pflegen, aber nicht alle wissen, warum und woher diese kommen. Das Spektrum ist sehr groß. Und mit meiner Art, jüdische Geschichte zu erzählen, kann ich diese sehr inhomogene Gruppe erreichen. Es gibt viele jüdische Identitäten, die nicht religiös definiert sind, sondern von der Sprache und der Herkunft der Familien. Sich mit jüdischer Geschichte auseinanderzusetzen, schafft eine für alle gültige Identität, egal, ob jemand aus Usbekistan, den USA oder Israel kommt – das ist das gemeinsame Erbe. Und ich glaube, das ist ein gutes Tool, um den jungen Menschen deren eigene jüdische Identität, die sie mitbringen, aber die völlig unterschiedlich oder ihnen gar nicht bewusst ist, zu vermitteln.

 

Könnte man auch sagen: Dieser Unterricht schafft Gemeinschaft?

I Ja, und er schafft nicht nur Gemeinschaft, sondern überwindet auch Grenzen und Vorurteile. Die Kinder erkennen: Du kommst von da, ich komme von dort, aber Wanderungen gab es immer. Juden sind seit mehr als 2.000 Jahren unterwegs.

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