Mit anderen Sinnen

Das Na Laga’at Center ist ein Kulturzentrum in Jaffa, das Menschen, die blind, gehörlos oder blind und taub sind, die Möglichkeit gibt, zu arbeiten und damit ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die weltweit einzigartige Einrichtung wurde diesen März in Wien mit einem Zero Project Award ausgezeichnet. WINA traf den Geschäftsführer des Zentrums, Oren Itzhaki, zum Gespräch.

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Something is missing, ein herzerwärmendes, kluges und auch sehr aktuelles Projekt des Na Laga’at Center in der Regie der künstlerischen Leiterin des Zentrums Efrat Steinlauf. © Rudi Rubinstein; PR

Oren Itzhaki hat große Pläne: Er möchte das Konzept hinter dem 2002 gegründeten Na Laga’at Center, das seitdem stetig weiterentwickelt wurde, nicht nur in Israel, sondern auch international teilen. Man habe sich hier so viel Expertise erworben, die man im Sinn von gelebter Inklusion gerne weitergeben würde, sagt er. Das Zentrum verfügt über ein professionelles Theater, in dem blinde, gehörlose und taubblinde Schauspieler auf der Bühne stehen, über ein Dunkelrestaurant, einen Veranstaltungskomplex, Werkstätten und eine Schule für darstellende Kunst für sehund hörbehinderte Menschen.

Genau auf diesen Multiplikatoreffekt zielen auch die Zero Project Awards ab. Sie werden jährlich durch die gemeinnützige Essl Foundation vergeben, zeichnen Projekte aus, die inklusive Beschäftigung oder inklusive IT-Lösungen fördern und dabei innovativ und replizierbar sind. Die Auszeichnung ist zwar mit keinem Preisgeld verbunden. Alle insgesamt 77 ausgezeichneten Initiativen aus 45 Ländern konnten aber bei der Zero Project Conference in der UNO in Wien ihr Projekt vor internationalen Experten präsentieren. So sollen Partnerschaften angestoßen und gute Modelle auch in andere Regionen gebracht werden.

Die Frage, die sich wohl jeder stellt, wenn er hört, da gibt es ein Theater mit blinden und tauben Schauspielern: Wie funktioniert das? Und obwohl Itzhaki sie wohl schon unzählige Male beantwortet hat, beantwortet er sie auch in Wien geduldig – und vermittelt dabei immer mit, worum es eigentlich geht: um eine inklusivere Gesellschaft. Darum, dass jeder vom anderen etwas lernen kann. Dass Inklusion keine Einbahnstraße ist.

CEO Oren Itzhaki mit dem israelischen Botschafter in Wien, David Roet © Rudi Rubinstein; PR

Doch zurück zum konkreten Alltag: Gehörlose kommunizieren untereinander in Gebärdensprache. Blinde, die hören können, können sich stimmlich unterhalten. Menschen, die blind und taub sind, können miteinander reden, indem sie die Hände aufeinander legen und quasi schreiben. Jede Stelle auf einem Finger bedeutet einen anderen Buchstaben. Ja, herausfordernd sei es, sich hier als Regisseur, der weder seh- noch hörbeeinträchtigt ist, hineinzudenken und ein gemeinsames Stück zu erarbeiten. Aber am Ende gelinge es – auch mit Hilfe von Übersetzern. In vielen Produktionen bekommt jeder Schauspieler eine unterstützende Person zur Seite gestellt. Sie zeigt etwa mit einer Trommel, deren Vibrationen zu spüren sind, an, wo jemand stehen bleiben muss. Andere eingesetzte Mittel sind hier Wärmelampen.

Auch im Dunkelrestaurant, im Veranstaltungskomplex oder im Rahmen der angebotenen Workshops arbeiten Menschen mit Sinneseinschränkungen Hand in Hand mit solchen, die über alle Sinne verfügen. Das hebt einerseits den Selbstwert der Menschen mit Beeinträchtigungen – sie sind nicht mehr nur Hilfsempfänger, sondern nehmen aktiv am Gesellschaftsleben teil. Es profitieren aber auch all jene, die eines der Angebote des La Naga’at Centers besuchen. Bis Ende des Vorjahres haben bereits über eine Million Menschen eines der Programme des Centers erlebt.

Itzhaki schildert hier zum Beispiel über einen Mehrwert, der so nicht vorhersagbar gewesen wäre. Das Zentrum bietet auch Workshops für Schulklassen an. Die Lehrpersonen bekommen dann zunächst Materialien, um die Kinder auf die Begegnung mit blinden und tauben Personen vorzubereiten. Erst dann findet ein Workshop statt, nach einigen Wochen gebe es noch eine Nachschau. Und was sich dabei gezeigt habe: Vor allem für Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien gebe die Geschichte zum Beispiel einer blinden Person, die nun arbeite und ihren Lebensunterhalt selbst verdiene, Auftrieb. Mädchen und Buben, die eigentlich eher daran zweifeln, jemals ein besseres Leben führen zu können, hätten danach das Gefühl, sie könnten alles erreichen.

Es seien vor allem historische Faktoren, die dazu geführt hätten, dass die israelische Gesellschaft eine hohe Sensibilität für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen entwickelt habe.

Wichtig ist Itzhaki auch, dass sich das Zentrum nicht nur über staatliche Subventionen finanziert. Es seien sogar nur 20 Prozent des Budgets, das aus öffentlichen Mitteln komme. Weitere 20 Prozent stellen er und sein Team über Spenden auf, 60 Prozent deckt man mit den Einnahmen aus all den Leistungen, die angeboten werden, ab.

Warum aber zeigt Israel nicht nur mit diesem Zentrum, dass es das Thema Inklusion ernster nimmt als viele andere Länder, will ich von Itzhaki wissen. In Israel ist es zum Beispiel auf freiwilliger Basis möglich, auch mit einer Beeinträchtigung seinen Dienst in der Armee zu versehen. Das Schulsystem wiederum ist zum Beispiel besser aufgestellt als viele andere, Kinder im AutismusSpektrum so zu unterrichten, das auf ihre Bedürfnisse Rücksicht genommen wird.

CEO Oren Itzhaki glücklich bei der Wiener Preisverleihung vor wenigen Wochen. © Rudi Rubinstein; PR

Itzhaki denkt eine Weile nach, dann aber fallen ihm so viele Punkte ein, dass sie fast den Rahmen eines solchen Beitrags sprengen. Es seien vor allem historische Faktoren, die dazu geführt hätten, dass die israelische Gesellschaft eine hohe Sensibilität für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen entwickelt habe, führt er aus. Das jüdische Volk habe im Lauf seiner Geschichte so viel Verfolgung und Leid ertragen, „dass es ein tiefes Gefühl der Solidarität mit marginalisierten oder gefährdeten Bevölkerungsgruppen entwickelt hat“. Das habe sich nach dem Holocaust, wo auch Menschen mit Behinderungen ermordet wurden, nochmals verstärkt. Darüber hinaus habe die zionistische Vision vom Aufbau einer gerechten und werteorientierten Gesellschaft zur Entwicklung „eines humanistischen und egalitären Ansatzes gegenüber der gesamten Bevölkerung, einschließlich der Menschen mit Behinderungen“ beigetragen. „Wahrscheinlich sind wir deshalb in Israel proaktiver, wenn es um Inklusion geht.“

Für alle, die im La Naga’at Center tätig sind, heißt das auch: Hier ist jegliche Identität willkommen. Hier arbeiten jüdische Israelis gemeinsam mit arabischen Israelis, Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, Homo- und Heterosexuelle. Das sei ebenfalls ein wichtiger Punkt: Auch wenn man zum Beispiel eine Sehbehinderung gemeinsam mit anderen habe, wolle man doch als Individuum mit seiner ganz eigenen Identität wahrgenommen werden, betont der Leiter des Zentrums.

Ein Zentrum, das sich in allen seinen künstlerischen Arbeiten auf gelebte Inklusion konzentriert. © Wikipedia

Haben der 7. Oktober und der darauffolgende Krieg hier Unruhe in die Belegschaft gebracht? Zunächst weist Itzhaki darauf hin, dass auch das La Naga’at Center wie andere Kultureinrichtungen zunächst ein halbes Jahr für den Publikumsbesuch geschlossen gewesen sei. Anders als in der Covid-Zeit habe man aber weiter für Theaterproduktionen gearbeitet, sei mit Workshops hinausgegangen, etwa in Hotels, in denen Binnengeflüchtete untergebracht gewesen seien, oder habe Essen zubereitet und geliefert.

Was allfällige Spannungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis anbelangt, betont Itzhaki, dass man grundsätzlich versuche, Politik aus dem Zentrum draußen zu halten. Das gelinge in Zeiten wie nun aber nicht immer. Ein palästinensischer Schauspieler, der zerrissen sei zwischen seiner Familie in Gaza und seiner Familie in Israel, habe andere vor allem durch seine SocialMedia-Postings erzürnt, da sei es zu großen Debatten gekommen. Er nehme nun an keinen Produktionen mehr teil. Im Großen und Ganzen funktioniere die Zusammenarbeit im Team aber weiter gut. Auch das ist gelebte Inklusion.

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