Mit Kafka in die Wüste

Sie galten als das Glamour-Couple der jungen jüdisch-amerikanischen Literatur. Jonathan Safran Foer und Nicole Krauss. Im Roman Hier bin ich thematisierte Foer nach einer langen Schaffenspause auch den Zerfall einer, seiner Ehe. Ayeka, zu Deutsch Wo bist du heißt das erste Kapitel von Waldes Dunkel, mit dem sich Krauss nach sieben Jahren wieder literarisch zu Wort meldet.

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Nicole Krauss wurde 1974 in New York geboren, ihre Großeltern waren noch vor dem Holocaust nach Amerika ausgewandert. Nach einem Studium der Literatur und Kunstgeschichte debütierte sie 2002 mit dem Roman Kommt ein Mann ins Zimmer. Mit Die Geschichte der Liebe gelang ihr auch der internationale Durchbruch. Bis 2014 war sie mit dem Autor Jonathan Safran Foer verheiratet, mit dem sie zwei Kinder hat. Nicole Krauss lebt in Brooklyn. © LASZLO BELICZAY /picturedesk.com

Gerade das Hilton-Hotel von Tel Aviv, der brutale Betonklotz über der Küste der Stadt, zieht zwei Amerikaner fast magnetisch an. Die Schriftstellerin Nicole hat als Tochter betuchter Eltern in diesem Luxushotel ihre Kindheitssommer verbracht, Jules Epstein ist vor 68 Jahren in dessen Nähe geboren worden und in Amerika als Anwalt zu sehr viel Geld gekommen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Die beiden werden einander nie begegnen, weder im Hilton noch sonst wo, doch nach dem Willen der Erzählerin teilen sie sich einen Roman, in dem ihnen abwechselnd Kapitel gewidmet sind. Beide haben New York fast fluchtartig verlassen, aber was sie in Israel suchen oder zu finden hoffen, wissen sie selbst nicht ganz genau.

Vor- und Nachleben. Jules Epstein lässt einiges hinter sich. Seine langjährige Ehe ist gescheitert, seine Eltern sind kurz hintereinander verstorben, seine drei Kinder haben eigene Familien. Von seiner Anwaltskanzlei hat sich der überaus erfolgreiche Macher verabschiedet und versucht nun zum Entsetzen seiner Umgebung, sein Vermögen mit demselben wilden Eifer zu verschenken, mit dem er es über Jahrzehnte erworben hatte.

Eine Stiftung zum Andenken an seine Eltern, vielleicht ein Wald in der Wüste Negev schweben ihm vor, als er einen Rabbiner kennenlernt, der in Jules einen Abkömmling der Dynastie König Davids erkennen will und ihn zu einem Treffen anderer mystischer Spinner nach Safed entführt, in ein „Gilgul“ genanntes kabbalistisches Zentrum.

»Wir binden und werden gebunden,
weil die Bindung uns an jene bindet,
die vor uns gebunden wurden.«

Nicole, die Ich-Erzählerin

„Ha Gilgul“ heißt auf Hebräisch Kafkas berühmte Erzählung Die Verwandlung, und damit führt ein Faden zum zweiten Strang des Romans, zur offenkundig autobiografisch grundierten Ich-Erzählerin Nicole, die sich im Hilton Ruhe und Inspiration für ein neues Buch erhofft. Ihre Schriftstellerehe steht vor dem Aus, die beiden Söhne hat sie bei ihrem Mann in Brooklyn zurückgelassen. Die knapp 40-jährige „international verlegte Autorin“ leidet an Schlafstörungen, einer Sinnkrise und offenbar einer Schreibhemmung, als sie ein zweifelhafter alter Literaturprofessor für ein Kafka-Projekt gewinnen will und nicht locker lässt, bis sie sich mit ihm und einem Koffer voll angeblich unveröffentlichter Nachlassmanuskripte Kafkas vom Hilton aus auf eine fatale Fahrt begibt.

Nicole Krauss: Waldes Dunkel.
Aus dem Englischen von Grete Osterwald.
Rowohlt 2018, 384 S., € 27,40

Nicole Krauss hat ausführlich recherchiert und bringt die tatsächliche Prob­lematik rund um die Rechte an Kafkas Nachlass in Israel ebenso ein wie krude Spekulationen um das hebräische Nachleben des Prager Autors. Belesen und gebildet, wie sie ist, ufern ihre literarisch-philosophischen Exkurse stellenweise aber allzu akademisch aus, da wird viel mystisch-esoterisch beladen, und in manch abgehobenen Ausritten, etwa in ein „Multiversum“, beginnt man sich nach dem nächsten Epstein-Kapitel zu sehnen.

Verwandlungen und Häutungen. Denn Jules Epstein ist ein durchaus geerdeter Mann mit Eigenschaften und Leidenschaften, der sich aber spät im Leben nach Leichtigkeit sehnt, nach Enthäutung, danach, alles abzuwerfen und im kalten Meer zu schwimmen, wobei er fast ertrinkt. Sein spurloses Verschwinden in der Wüste, die er mit zwei Millionen Dollar, sprich vierhunderttausend Bäumen zu begrünen in Auftrag gibt, bleibt ein Rätsel.

Auch Nicole findet im menschenleeren Negev fast den Tod. War es Kafkas letztes Refugium, in dem man sie dort allein mit einer Hündin zurückließ? „Es ist nicht unmöglich, dass ich mich selbst häutete“, stellt sie im Rückblick auf diese lebensbedrohliche Episode fest.

Häutungen, Metamorphosen, Verwandlungen sind, siehe Kafka, das verbindende Leitmotiv der beiden Handlungsstränge, die als Parallelen keine Berührungspunkte, aber durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen. Wie offenbar auch die Autorin selbst haben ihre Pro-tagonisten eine tiefe emotionale Bindung zu Israel, zu Tel Aviv, zur Wüste und zu den diversen Spinnern dieses Landes. Es ist eine traditionell amerikanisch-jüdisch geprägte Verbundenheit, wie sie ähnlich auch bei Jonathan Safran Foer zu beobachten ist.

„Wir binden und werden gebunden, weil die Bindung uns an jene bindet, die vor uns gebunden wurden, […] in einer Kette von Stricken und Knoten, die dreitausend Jahre zurückreicht, ebenso lange, wie wir davon geträumt haben, uns loszuschneiden“, weiß Nicole, die auch in diesem Roman wiederum zurückgreift auf die jüdische Geschichte bis wortwörtlich hin zu Adam und Eva.

Lech lecha, gehe hinweg, Gottes Befehl an Abraham zum Aufbruch ins unbekannte Land Kanaan, interpretiert die bibelkundige Autorin ebenso als göttliche Aufforderung, aus sich herauszutreten, sich zu verwandeln.

Elegant und klug, doch im Gegensatz zum Exmann Foer weitgehend humorfrei serviert Nicole Krauss hier ihre großen Themen. Das Schreiben und die Literatur, die menschliche Einsamkeit, Familie, das Judentum und Israel als ewiger Sehnsuchtsort der Zuflucht und Verwandlung. Im rätselhaften Dickicht von Waldes Dunkel erhält sogar das gesichtslose Hilton-Hotel eine kafkaeske Dimension.

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