„Mit Musik und Kunst kann man kritisches Bewusstsein schaffen“

Andreas Mailath-Pokorny erklärt, warum er sein Engagement für die Aufarbeitung der NS-Geschichte und die bewusste Erinnerungskultur auch an der Wiener Musik- und Kunstuniversität fortsetzt.

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Andreas Mailath- Pokorny – als Politker wie auch als Rektor stets um einen bewussten Umgang mit der Vergangenheit bemüht. © Reinhard Engel

WINA: Sie waren 17 Jahre SPÖ-Kulturstadtrat und sind seit September 2018 Rektor der Musik- und Kunst-Privatuniversität der Stadt Wien (MUK). Wie geht es dem Rektor einer Musik- und Kunstuniversität in Zeiten der Covid- Pandemie?
Andreas Mailath-Pokorny: Wir haben den Betrieb aufrecht erhalten, hatten aber auch keine andere Wahl: Onlineunterricht in Kammermusik, bei Blasinstrumenten oder bei Chören kann man eine zeitlang machen, aber nicht auf Dauer. Wir konnten den Präsenzunterricht anbieten, weil wir sehr früh eine Covid-Taskgroup auf Uni-Ebene eingerichtet und das Regelwerk laufend für unsere Bedürfnisse adaptiert haben. Es gab viele Sonderregeln, die Spucke der Bläser musste zum Beispiel als Sonderabfall entsorgt werden. Aber wichtig ist, dass niemand ein Semester verloren hat.

Wie viele Studierende gibt es an der MUK, und woher kommen sie?
I Wir haben 850 Studierende. Diese kommen zu je einem Drittel aus Österreich, aus der EU und dem Rest der Welt, großteils aus Asien. Das Erfreuliche ist, dass wir kaum jemand während der Covid-Krise verloren haben. Es gibt pro Jahr etwa 1.500 Bewerbungen, leider können wir jährlich nur 200 Neuaufnahmen machen.

 

„Nach unseren Unterlagen gab es hier keine Bruch
mit der NS-Geschichte, genauso wenig wie
in
ganz Österreich.“
Andreas Mailath-Pokorny

 

Sie firmieren als Privatuniversität, wieso?
I Anders, als es unser Name suggeriert, sind wir eine öffentliche Universität der Stadt Wien. Da laut Verfassung nur der Bund für Universitäten zuständig sein darf, mussten wir, wie auch andere Landeskonservatorien, einen strengen Akkreditierungsprozess für den Universitätsstatus durchlaufen. Wir sind daher formal privat, aber nicht materiell: 95 Prozent finanziert die Stadt Wien, es gibt keine Studiengebühren, mit Ausnahme Angehöriger weniger Drittstaaten.

Das ist sehr großzügig?
I Das ist richtig. Bis auf 300 Euro Anmeldegebühr ist das Studium kostenlos. Bei meinen Einführungsveranstaltungen sage ich immer dazu, dass ein Studienplatz jährlich 23.000 Euro kostet, die Differenz wird vom Steuerzahler, der Steuerzahlerin geleistet. Also eine gewisse Demut, Dankbarkeit ist schon angebracht.

Sie haben an der MUK das fortlaufende Forschungsprojekt Hausgeschichte – Zeitgeschichte initiiert und betreiben es mit viel Engagement. Das Projekt fokussiert auf drei Schwerpunkte: 1. die Auseinandersetzung mit den ab 1938 verfolgten und vertriebenen Lehrkräften und deren Studenten und Studentinnen sowie die Erforschung der politischen Nähe von Mitgliedern des Lehrkörpers zum Nationalsozialismus; 2. die Frage nach Raub und Restitution von Musikinstrumenten, Büchern und Noten sowie 3. die Folgen der NS-Politik nach 1945 in Wien für die Musikausbildung. Was können Sie uns dazu erzählen?
I Auch als Kulturstadtrat habe ich mich um einen bewussten Umgang mit der Vergangenheit, mit der Erinnerungskultur bemüht. Bei meinem ersten Rundgang in der Universität suchte ich nach einer Tafel zur Erinnerung an die Vertriebenen und Opfer des Nationalsozialismus. Lediglich eine kleine Tafel an der Außenmauer der Johannesgasse 4A, ehemals Standort der Radio Verkehrs AG (RAVAG), erinnert an die blutige Erstürmung des Gebäudes im Verlauf des NS-Putsches vom 25. Juli 1934. Das war alles. Meine Nachfragen und Recherchen ergaben dann, dass die Musikschule der Stadt Wien 1938 eine Gründung der Nazis war und daher keine Juden und Jüdinnen mehr zugelassen waren.

Wie kam es zu dieser „Neugründung“?
I Als ich den Auftrag zur Entstehungsgeschichte gegeben habe, stand das Projekt bereits in den Startlöchern: Unter der wissenschaftlichen Leitung von Universitätsprofessor Oliver Rathkolb und den Doktorinnen Susana Zapke und Julia Teresa Friehs war mit der Aufarbeitung schon begonnen worden. Dabei stellte sich heraus, dass die Nazis drei Vereine – das Neue Wiener Konservatorium, das Konservatorium für volkstümliche Musikpflege und das Wiener Volkskonservatorium – zwangsenteignet, die Vermögen konfisziert und berühmte jüdische Lehrende und Studierende vertrieben haben, unter anderen auch den Pianisten Paul Wittgenstein, der später in den USA berühmt wurde.

 

„Den Heldenplatz positiv besetzen und
die Freude über die Befreiung
1945 öffentlich
zu manifestieren.“

 

Wie „nazifiziert“ man Musik?
I Gute Frage. Diese neue Musikschule der Stadt Wien wurde in den Dienst der NS-Propaganda gestellt (siehe Infokasten), auf die politische Gefügigkeit des Lehrpersonals wurde akribisch geachtet. Nicht wenige gehörten zu den „verdienten“ Parteigenossen.

Gab es eine Zäsur nach 1945?
I Nach unseren Unterlagen gab es hier keine Bruch mit der NS-Geschichte, genauso wenig wie in ganz Österreich. Am Anfang begann man belastete Personen auszuschließen. Nach kurzer Zeit klagte man hier, genau wie in der Justiz und auch anderswo, „dann hamma keine Beamte mehr“! Erst daraufhin wurde diese zynische Bezeichnung der „Minderbelasteten“ erfunden. An der Musikschule wurde der Direktor ausgetauscht – und das war es. Zwei Drittel der Lehrenden sind weiter tätig gewesen. Man hat offensichtlich 1945 und danach keinen Anlass gesehen, eine Zäsur zu dokumentieren.

DR. ANDREAS MAILATH-POKORNY (Jahrgang 1959) ist promovierter Jurist. Sein Diplom für International Relations erlangte er am Bologna Center der Johns Hopkins University. Die berufliche Karriere startete Mailath- Pokorny im diplomatischen Dienst des Außenamtes. Von 1988 bis 1996 war er im Kabinett des österreichischen Bundeskanzlers Franz Vranitzky – zuletzt als Büroleiter – tätig. Danach leitete er bis 2001 die Kunstsektion im Bundeskanzleramt und wechselte in der Folge in die Wiener Stadtregierung als Stadtrat für Kultur und Wissenschaft. Ab 2015 kamen die Bereiche Sport, Information und Informationsund Kommunikationstechnik dazu. © Reinhard Engel

Sie haben das 75-Jahr-Jubiläum 2020 zum Anlass genommen, die bisherige Forschungsarbeit, an der auch Experten und Expertinnen der MUK, des Kunsthistorischen und des Wien Museums beteiligt gewesen sind, zu dokumentieren.
I Wir wollten das Buch Die Musikschule der Stadt Wien im Nationalsozialismus – Eine „ideologische Lehr- und Lerngemeinschaft“ (Hollitzer Verlag) bereits 2020 präsentieren, aber die Pandemie verhinderte auch das.

War eine Rückgabe von Vermögen aus den Vorläufer-Institutionen des MUK möglich?
I Wir haben alles nachschauen lassen, aber bis jetzt stießen wir in der Bibliothek nur auf zwei kleine, völlig unauffällige Büchlein, die mit einer Widmung versehen waren, und das führte uns zu den Besitzern. Die Widmung des Autors Felix Weingartner an „Frl. Dr. Elsa Bienenfeld“ führte uns zu deren rechtmäßigen Erben. Bienenfeld, 1877 in Wien geboren, im Mai 1942 in Maly Trostinec ermordet, war eine bekannte Musikwissenschaftlerin. Unter anderem absolvierte sie eine private Ausbildung in Komposition und Musiktheorie bei Alexander von Zemlinsky und Arnold Schönberg. Sie promovierte 1903 als erste österreichische Absolventin im Fach Musikwissenschaft.

Wo haben Sie ihre Verwandten entdeckt?
I Zuerst fanden wir den Verweis auf eine Familie Blauhorn, die in der Grinzinger Allee in Wien gewohnt hatte. Deren Nachfahren entdeckten wir in London: Susie Deyong ist die Erbin dieser „musikalischen Abhandlung“. Wir wollten Frau Deyong das Büchlein persönlich bei der verschobenen Jubiläumsfeier im MUK überreichen. Es hat sich mit ihr und ihrem Sohn eine nette Freundschaft entwickelt, und die ganze Familie wird bei nächster Gelegenheit nach Wien kommen. Inzwischen sind sie alle österreichische Staatsbürger nach dem neuen Gesetz, wofür wir in der Stadt so lange gekämpft haben.

S. Zapke, O. Rathkolb, K. Raminger, J. T. Friehs, M. Wladika (Hg.): Die Musikschule der Stadt Wien im Nationalsozialismus. Hollitzer 2020, 296 S., € 40

Das Online-Gedenkbuch zur Erinnerung an Lehrende und Studierende, die unter dem NS-Regime verfolgt wurden, wird in Kürze freigeschaltet?
I Da wollen wir alle Namen auflisten, in der Hoffnung auf neue Eingaben und zahlreiche Ergänzungen. Bei der Forschung und Restitution sind wir ja zumeist auch auf Zufälligkeiten angewiesen, wir nutzen damit die Grundidee des World Wide Webs in der Hoffnung, dass Menschen in aller Welt noch fehlende Puzzles eingeben. Das funktioniert nach dem Wikipedia-Prinzip. Seit 2011 sind Sie auch Präsident des Bunds Sozialistischer AkademikerInnen (BSA). Als SPÖ-Finanzstadtrat Sepp Rieder und Innenminister Caspar Einem im Jahr 2002 die Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten nach 1945 schonungslos aufarbeiten wollten, hatten sie noch mit starkem Widerstand in der SPÖ und im BSA zu kämpfen.

Sie machen das jetzt mit dem MUK, wie wird das insgesamt aufgenommen?
I Bei diesem Thema hat sich wahnsinnig viel verändert. Die Erinnerungskultur ist mittlerweile lückenlos positiv besetzt.

Verstehen das die Studierenden aus aller Welt auch?
I Von je weiter entfernt sie kommen, umso weniger ist es ein Thema. Ich habe auch eine kleine Vorlesung, bei der ich versuche, politische Kulturgeschichte zu thematisieren: Auch wenn Studierende nur vier Jahre in Österreich sind, müssen sie sich mit der Kultur des Landes auseinandersetzen, nicht nur mit dem Instrument oder dem Fach, das sie erlernen. Ich sehe das auch als einen wichtigen Bestandteil einer Integrationsarbeit, dass man jungen Menschen vermittelt: Wenn ihr hier Teil des Kulturlebens sein wollt, dann müsst ihr auch unsere Geschichte kennen, denn dieses dunkle Kapitel ist ein Teil unserer Identitäten. Sie haben als Wiener Stadtrat von 2001 bis 2018 die Erinnerungskultur in der Stadt vorangetrieben. Nur einige Beispiele: die Einführung eines Festes der Freude am 8. Mai, die Restitution von über 30.000 Kunstobjekten. Zahlreiche Denk- und Mahnmale gehen auf Ihre Initiative zurück, z. B. das Deserteursdenkmal, Spiegelgrund, Aspangbahnhof. Zusatztafeln bei Straßenschildern, die Umbenennung des Lueger-Rings und die Sanierung jüdischer Friedhöfe. Immer  wieder heißt es, die Erinnerungs- und Gedenkkultur ist erstarrt, nur wenige Zeitzeugen der Schoah leben noch.

Rektor Andreas Mailath-Pokorny im Interview mit Autorin Marta S. Halpert. © Reinhard Engel

Bedeutet das den Schlussstrich unter dieses Thema? Auch für Sie?
I Das Fest der Freude ist mir heute fast das wichtigste Symbol, denn es bedeutet nicht nur, gegen einen faschistischen Trauermarsch zu demonstrieren, sondern etwas Aktives dagegen zu tun: den Heldenplatz positiv zu besetzen und die Freude über die Befreiung 1945 öffentlich zu manifestieren. Insbesondere angesichts der aktuellen Tatsache, dass man von Menschen vereinnahmt wird, die behaupten, sie seien die Mehrheit, aber für die Stadt nichts Gutes wollen. Apropos Schlussstrich: Das Gedenken darf nicht in einem Ritus erstarren, deshalb müssen wir zu Menschen gelangen, die mit dem Thema wenig Berührung haben. Jedes Jahr entsteht eine neue Generation, und deshalb reicht es nicht, dass nur wir uns erinnern, unter uns bleiben. Es bringt nichts, wenn wir uns freuen, einander bei diesen Veranstaltungen wieder zu treffen. Natürlich fehlen uns die Zeitzeugen jetzt schon, sie sind das emotionalste Element bei der Erinnerung. Aber es geht ja um grundlegendere Fragen, nämlich was ist Aufklärung, was sind objektive Tatsachen, und was ist erfunden. All diese Dinge muss man permanent vermitteln, ohne besserwisserisch zu sein, aber schon auch mit einer gewissen Autorität.

Was meinen Sie damit?
I Sich von Gewalt und Aggressivität zurückdrängen zu lassen, finde ich nicht richtig. Staatliche Autorität ist schon dafür einzusetzen, wofür sie eigentlich da ist, und klar zu sagen, was Sache ist. Das ist eine Aufgabe, der wir uns immer wieder neu stellen müssen. Ich versuche den jungen Menschen laufend zu vermitteln, dass sie gerade als Künstler und Künstlerinnen nicht isoliert leben, sondern Teil einer Gesellschaft sind, und über der Musik und Kunst ist es besonders wichtig, kritisches Bewusstsein zu schaffen.


MUSIKBILDUNG FÜR DAS „BREITE VOLK“

Bereits am 2. Mai 1945 erfolgte die Eröffnung des Konservatoriums der Stadt Wien als Nachfolgerin der von den Nazis 1938 gegründeten „Hauptanstalt der Musikschulen der Stadt Wien“. Als dessen neuer Direktor wurde Dr. Wilhelm Fischer (1886–1962) als NS-Opfer vorgestellt, die Geschichte der Lehranstalt in der NS-Zeit und die Umstände ihrer Gründung und der Nachwirkungen blieben aber völlig im Dunkeln. Fischer war im April 1938 als Jude zwangsweise pensioniert worden und wurde bis 1945 in einer Metallfabrik als Zwangsarbeiter eingesetzt. Seine Schwester wurde in Auschwitz ermordet, seine 85-jährige Mutter verstarb nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung in einem Notquartier. Verschwiegen wurde nach 1945 auch, dass der temporäre NS-Gauleiter von Wien Odile Globocnik (1904–1945), der spätere „Schlächter von Lublin“, die Zwangsschließung der drei Musikinstitute bereits zwischen 1934 und 1938 veranlasste und ausschließlich NSDAP-Mitglieder als Lehrpersonal einsetzte. Schnell wurde klar, dass die neue Musikschule der Stadt Wien mit den „streng weltanschaulich gerichteten Musikschulen der Hitlerjugend und ‚Kraft durch Freude‘-Musikschulen“ zusammenarbeiten sollte. Der politische Auftrag lautete: „Es geht nicht um die Ausbildung einiger besonders Begabter und die damit verbundenen Spitzenleistungen. Die Tonkunst soll nun wieder eine die weitesten Kreise des Volkes umfassende Kunstpflege werden.“


 

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