WINA: Im Rahmen des Eröffnungswochenendes der neuen Ära in der Wiener Volksoper haben Sie einen Riesenerfolg mit dem Late-Night-Programm Omer Meir Wellber & Friends gelandet. Mit Musik von Astor Piazzolla, Ciprian Porumbescu und Sergei Prokofjew sowie Melodien aus der türkischen und jüdischen Tradition spielten Sie auch selbst Akkordeon. Werden Sie diese Reihe fortsetzen?
Omer Meir Wellber: Ja, das bleibt, aber wir wollen das spontan ansetzen. An ausgewählten Abenden, an denen ich dirigiere, findet das nach der Vorstellung statt, und wir kündigen es dem Publikum kurz davor an. Ich wähle immer andere Solisten für diese „Late Night Party“ aus. Für Dezember habe ich bereits nach Jolanthe und Nussknacker eine Sängerin im Visier.
Das Foyer war überfüllt, die Nachfrage ist sicher da. Wollen Sie nicht in einen größeren Raum wechseln?
I Nein, denn die Idee dabei ist, dass es relativ intim bleibt.
Zur Zeit Ihrer Bestellung waren Sie nicht nur Chefdirigent der BBC Philharmonic, sondern auch Music Director des Teatro Massimo Palermo, Erster Gastdirigent der Semperoper Dresden sowie Musikdirektor des israelischen Raanana Symphonette Orchestra. Also gut ausgelastet. Wieso haben Sie sich für das Abenteuer Volksoper entschieden?
I Das war eine große Entscheidung und hat auch etwas mit Lotte de Beer zu tun: Wir sind beide 40 Jahre alt, und da die Chemie zwischen uns von Anfang an gestimmt hat, habe ich die Möglichkeit gesehen, mit einer Partnerin, die eine kleine Revolution machen will, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Das gefällt mir sehr, denn ich bin ja auch ein Idealist. Normalerweise, wenn man ein Opernhaus übernimmt, kann man als Dirigent nur bestimmen, ob man Tristan oder Rigoletto dirigiert – und das war’s dann. An der Volksoper können wir etwas viel Tiefergehendes, Größeres machen – mit dem Ensemble, dem Orchester zusammen: Das ist eine once in a lifetime opportunity – und diese findet in Wien statt, und das ist wichtig anzumerken.
Wie meinen Sie das?
I Der Gedanke, dass ich in dieser großen Musikstadt an einem Haus arbeiten kann, an dem man als Musikdirektor ganz andere und wunderbare Ideen verwirklichen kann, erstens weil man die Unterstützung dafür hat, und zweitens sozusagen als „underdog“ Projekte realisieren kann, die man an der Staatsoper nie machen könnte.
Neben dem Dirigat von Repertoirevorstellungen und Neuproduktionen werden Sie als Musikdirektor in den nächsten fünf Saisonen für den musikalischen Bereich des Hauses und die Entwicklung von Ensemble, Orchester und Chor verantwortlich sein. Auf welche Ihrer Engagements werden Sie zukünftig verzichten müssen?
I Auf die BBC und auf Dresden. Diese Spielzeit bin ich noch drei Monate bis Ende Dezember hier. Dann bin ich bis März unterwegs. Aber ab nächster Spielzeit verbringe ich mehr Zeit in Wien.
In den letzten Jahren sah man an der Volksoper ganz gute Bühnenproduktionen, aber die musikalische Umsetzung ließ oft viele Wünsche offen. Sie arbeiten bereits mit dem Orchester: Wann wird man Ihre eigene Handschrift erkennen?
I Das gilt schon jetzt: Kommen Sie in die Zauberflöte, Sie werden die Aufführung nicht wiedererkennen. Der Prozess ging viel schneller als erwartet. Es gab in den letzten 13 Jahren hier keinen Musikdirektor – das war eine zutiefst unkünstlerische Entscheidung. Ein Orchester hat natürlich auch eine Eigenverantwortung, aber es braucht trotzdem ein Konzept, rund 100 Musiker müssen ein gemeinsame Idee davon haben, wie das gehen soll. Hier dirigierte jedes Monat jemand anderer, daher waren sie zwar routiniert, doch nicht auf ein Konzept eingeschworen. Das hat nichts mit Talent zu tun: Auf einen Musikdirektor zu verzichten, ist ein großer Fehler, denn das Orchester ist die Seele. Wir können auf der Bühne alles machen, aber im Endeffekt müssen wir singen und spielen.
„Es war, als hätte das Volksopern Orchester
auf diese Chance gewartet — die Veränderung
ging extrem schnell.“
Omer Meir Wellber
Waren die Musiker bereit und offen mitzugehen?
I Ja, total, sowohl das Ensemble wie auch das Orchester. Ich habe meine Unterlagen aus Dresden mitgebracht, wo ich in zehn Jahren zig Mozart- und andere Vorstellungen dirigiert habe. Als erstes Projekt haben wir ein Konzert außerhalb der Volksoper bestritten und dann gleich eine Repertoire-Aufführung, weil ich die realen Zustände sehen wollte. Es war, als hätte das Orchester auf diesen Impetus, auf diese Herausforderung und Chance richtig gewartet, die Veränderung ging wirklich extrem schnell.
Sie haben auch ein internationales Team an Gast- und Hausdirigenten neu installiert?
I Ja, unser Team an Gast- und Hausdirigenten ist bis auf Alexander Joel komplett neu: Carlo Goldstein aus Triest und Ben Glassberg aus London, diese drei sind Erste Gastdirigenten. Mit Keren Kagarlitsky (Israel), Manuela Ranno (Italien) und Tobias Wögerer (Österreich), die alle unter 30 Jahre alt sind, bilden wir eine tolle Gruppe, die sowohl für Repertoire wie auch für neue Produktionen gemeinsam proben. Das macht einen großen Unterschied, alle wissen, welchen Weg wir gehen wollen, um unser Ziel zu erreichen. Wir sind ein junges Team und arbeiten jetzt am sogenannten „Stretch“: Das Forte soll viel lauter werden, dafür das Piano viel leiser …
Haben Sie auch im Ensemble viel verändert?
I Ich mag das System des Ensembles, dennoch mussten wir uns von einigen guten Mitgliedern verabschieden, weil wir ein anderes Repertoire und daher auch andere Stimmen benötigen. Beim Orchester gehen einige Musiker in Pension, das ist schon eine beträchtliche Lücke, die wir mit Neuengagements schließen werden. Für meinen Geschmack war musikalisch einiges etwas altmodisch: Bei Mozart zum Beispiel war die Orchesterbesetzung einfach zu groß. Wir setzen nicht auf Divas: Wenn man Anna Netrebko hören will, geht man in die Staatsoper. Will man aber die nächste Netrebko finden, dann vor allem hier!
Das ist eine harte Ansage, oder?
I Ja, vielleicht, aber wenn man weniger Geld hat, braucht man mehr Talent und mehr Ideen.
„Ich glaube, als Musiker – egal, wo man
auf der Welt arbeitet – ist man immer mit einem
Viertel Herzen in Wien, dort, wo Beethoven, Schubert, Klimt oder Zweig ihre Spuren hinterlassen haben.“
Omer Meir Wellber
Zuletzt haben Sie gemeinsam mit Direktorin und Regisseurin Lotte de Beer sowie dem Choreografen Andrey Kaydanovskiy eine neue Version von Tschaikowskys letzter Oper Jolanthe– uraufgeführt 1892 am Mariinski-Theater in St. Petersburg – und dem Märchenballett Der Nussknacker quasi verschnitten. Was würde Tschaikowsky dazu sagen?
I Das Problem stellt sich nicht, denn er ist tot. Ehrlich gesagt interessiert mich das auch nicht. Ich lebe da in ganz anderen Perspektiven, es gibt keine Heiligen, ein Text kann nicht heilig sein. Musik ist wie eine Palette mit Farben, aus der man erst etwas kreieren muss. Diese zwei Stücke funktionieren dramaturgisch und musikalisch unglaublich gut. Es klingt alles sehr homogen, weil Tschaikowsky das auch im gleichen Stil geschrieben hat, daher ist es nicht so provokativ, wie man denken mag. Die blinde Jolanthe sieht in ihrem Inneren vielleicht etwas, das wir nicht sehen. Das ist kompliziert, aber auch sehr berührend. Wir haben einige Schnitte gemacht, aber auch Übergänge in Tschaikowsky’schem Stil neu geschrieben.
Zwischen 2011 und 2013 haben Sie im Auftrag der Wiener Festwochen mit Luc Bondy drei Verdi-Opern (Rigoletto, La Traviata, Il trovatore) erarbeitet. War das die einzige Zusammenarbeit mit Bondy?
I Nein, wir haben auch für die Scala in Mailand Tosca und Rigoletto gemacht. Wir planen, eine Inszenierung von Luc Bondy an der Volksoper wiederzubeleben, aber mehr verrate ich noch nicht.
Im Herbst 2019 veröffentlichten Sie Ihren ersten Roman, Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner, eine andere Sicht auf Israels Geschichte. Und schon davor erschien Ihr Buch Die Angst, das Risiko und die Liebe – Momente mit Mozart. Wann haben Sie Zeit, Bücher zu schreiben?
I Meistens im Sommer, vorher sammle ich Gedanken auf unzähligen Zetteln, die ich dann später bearbeite. Zuerst erschien Chaim Birken in Deutschland, dann in Italien, und jetzt kommt es auf Französisch heraus.
Und in Israel?
I Wir haben in Israel keinen Verlag gefunden, alle haben „Nein“ gesagt, weil das in der Zeit Netanjahus politisch zu brisant schien. Jetzt ist es plötzlich möglich. In Italien war das Buch ein großer Erfolg, es hat auch Preise gewonnen. Ich hoffe, dass mein neuer Roman im nächsten halben Jahr erscheint. Diesmal geht es nicht um die Shoah, sondern um die israelisch-russische Gesellschaft.
Obwohl Sie mit renommierten Orchestern weltweit arbeiten, haben Sie auch Ihre enge Verbindung zu Ensembles in Israel nicht vernachlässigt: Sie traten in der Israeli Opera und mit dem Israel Philharmonic Orchester auf. Und Sie widmen sich auch der Musikerziehung, insbesondere jener sozial benachteiligter Jugendlicher.
I Zuletzt habe ich hauptsächlich Benefizabende für das Raanana Symphonette Orchestra organisiert, damit ich Geld für den Unterricht der Kinder aufbringe. Unser Orchester spielt mehr als 200 Konzerte im Jahr nur für Kinder. Achtzig Prozent der Aktivitäten wird der Erziehung gewidmet. Nur 30 Prozent des Budgets kommt aus der Staatskasse und von der Gemeinde von Raanana, die restlichen 70 Prozent bringen wir mit dem Kartenverkauf auf.
Der Name Wellber klingt deutsch. Woher ist Ihre Familie nach Be’er Scheva gekommen?
I Die Familie meiner Mutter kam vor mehreren Generationen aus Odessa, und die Ururgroßeltern waren mit dem Gaon von Wilna* verwandt und siedelten sich schon im 18. Jahrhundert in Zefat an. Meine Großmutter und meine Eltern leben auch heute orthodox. Väterlicherseits stammen die Wellbers aus dem Gebiet zwischen Dresden und Prag.
Wie haben sich Ihre Eltern aus diesen verschiedenen Welten getroffen?
I Alle gehörten zur „Sharei Chessed Community“, einem Stadtteil von Jerusalem, in dem Schüler des Gaon von Wilna ab 1909 einen Aufbaufond aus ausländischen Spenden speisten, um kleine Wohnungen für religiöse Juden zu errichten. Meine Eltern waren dort Nachbarn, und so kamen sie zusammen. Mein Vater war ein treuer Schüler und Anhänger von David Ben-Gurion**, und der beauftragte ihn 1963, in die Wüste zu gehen, um dort Aufbauarbeit zu leisten. Mein Vater baute die erste Schule in Be’er Scheva und war auch Direktor dort. Meine ganze Familie ist im Bildungsbereich tätig: Meine Mutter war Lehrerin, eine Schwester ist Schuldirektorin in Israel, die andere Lehrerin in New York.
Wie sind Sie dann bei der Musik gelandet?
I Das war irgendwie immer klar, schon als fünf- oder sechsjähriger Bub wusste ich, fühlte ich das.
Sie besuchten zuerst das Musikkonservatorium Ihrer Geburtsstadt. Hätten Sie auch nach Tel Aviv gehen können?
I Oh, nein, für meinen Vater wäre das eine Schande gewesen. Er meinte, nach Tel Aviv gehen „nur die Reichen“. Wenn man Talent hat, muss man in der Wüste bleiben! Das war eine gute Entscheidung, ich bekam zahlreiche Einladungen an verschiedene Musikhochschulen, aber meine Eltern sagten nein, weil sie andere Ideale haben. Nach meinem einjährigen Militärdienst bin ich dann aber an die Jerusalem Music Academy gewechselt.
Sind Sie in Wien nur mit dem Kopf oder auch schon mit dem Herzen angekommen?
I Ich glaube, als Musiker – egal, wo man auf der Welt arbeitet – ist man immer mit einem Viertel Herzen in Wien, dort, wo Beethoven, Schubert, Klimt oder Zweig ihre Spuren hinterlassen haben. Jetzt suche ich die restlichen Dreiviertel. Ich wollte immer schon einmal hier wohnen, hier leben. Ich bin sehr zufrieden, ich spüre eine gute Atmosphäre. Wien spielt immer ein große Rolle in einem Musikerleben.
* Elijah Ben Salomon Salman, genannt der Gaon von Wilna (1720–1797), war ein hoch geschätzter, vielseitiger jüdischer Gelehrter. Er gilt als Inbegriff des aschkenasischen Judentums litauischer Prägung. Er schrieb mehr als 70 Kommentare zu Thora und Talmud. ** David Ben-Gurion (1886–1973) rief mit der Verkündung der israelischen Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 den modernen Staat Israel aus und war dessen erster Ministerpräsident.