
Israelische Pop-Musiker sind dafür bekannt, dass sie nah dran sind am Zeitgeist. Das ist ihr Markenzeichen. Manchmal nehmen sie ihn sogar vorweg. Deshalb bleibt an diesem Abend in Jerusalem die Bühne leer. Nur ein verwaistes Mikrofon und ein Stuhl stehen dort, die Kulisse für ein 40-minütiges Hip-Hop-Konzert. Denn so lange dauert das neue Album Looking for Love von Aner Shapira. Es feiert in einer Autowerkstatt in der Industriezone Talpiot Premiere. Der „Saal“ ist voll, viel Prominenz ist gekommen. Dass die Stimmung dennoch gedämpft bleibt, liegt daran, dass der 22-jährige Rapper nicht mehr lebt.
Aner Shapira hat viel Musik produziert, bevor er am 7. Oktober 2023 auf dem Nova-Festival in einem Bunker getötet wurde. Unmittelbar davor rettete er noch anderen das Leben. Er warf sieben Granaten, die von Hamas-Terroristen in den Schutzraum geschleudert wurden, wieder zurück. Die Achte hat ihn dann erwischt.
Seine Familie hat sich um die Auswahl der Songs gekümmert. „Es gab allerdings nicht viel zu tun“, sagt DJ Smiles von Pela Records, der das Album veröffentlicht hat. „Aner hat die Songs fertig gesampelt hinterlassen.“ Besonders ein Lied sorgt an diesem Abend für Gänsehaut: Nishar Miachor („Zurückgelassen“). Es handelt davon, dass das Leben auch ohne einen weitergeht. In einem seiner anderen Songs heißt es: „Wenn wir sterben, sagt ihnen wenigsten, dass wir versucht haben, einen Traum zu verwirklichen.“
Das ist nur ein winziger Ausschnitt der Musikszene, die sich seit dem 7. Oktober als unglaublich kreativ erwiesen hat. Nach dem Massaker herrschte zunächst eine große Stille. Viele konnten vorerst gar keine Musik mehr hören. Sämtliche Veranstaltungen wurden abgesagt. Dann aber wurden Lieder und Melodien in den sozialen Medien plötzlich zur vielleicht einzigen Quelle des Trostes. Viele der englischsprachigen Songs, die bis dahin die hiesigen Spotify-Listen angeführt hatten, sind von hebräischen Balladen oder Liedern, die seither eigens geschrieben wurden, verdrängt worden. Es scheint, als hätten die Musiker zunächst eine neue Berufung gefunden. Sie gingen zu den Menschen in die Schutzbunker, traten in Hotels vor den Evakuierten auf, spielten für die Soldaten auf ihren Stützpunkten, kamen zum Geiselplatz und suchten die Verwundeten und Traumatisierten in den Krankenhäusern auf. Sie gehen inzwischen auch auf Friedhöfe. Der 75-jährige Popstar Shlomo Artzi ist in seinem Leben schon in vielen Kriegen aufgetreten. Aber noch nie habe man von ihm erwartet, sagt er, auf einer Beerdigung zu singen.
Musik und Trauer waren in Israel immer schon tief mit einander verbunden. Um zu wissen, wie es um die kollektive Befindlichkeit steht, genügt es, das Radio anzustellen. An Gedenktagen oder nach einem Terroranschlag ändert sich das Programm schlagartig. Dann werden Songs gespielt, die in düsteren Zeiten besonders gut die Stimmung einfangen. „Schick mir Ruhe in einer Box, aus einem fernen Land, eine gut geschützte Ruhe, von Geburt an bis zu meinem Tod“, heißt es etwa in einem Pop-Klassiker der 1990er-Jahre.
„Der Baum in meinem Garten hat nicht überlebt. Er wurde an diesem verfluchten Morgen völlig niedergebrannt. Wir sind
nicht allein, wir werden weinen, und wir werden darüber hinwegkommen.“
Alon Eder
Fast jeder Musiker hat seit dem 7. Oktober einem oder einer der Ermordeten, Geisel oder Gefallenen ein Lied gewidmet. Viele Reservisten und Soldaten sind – oder waren – selbst Musiker. Der Radiosender 88FM ehrte jeden einzelnen, der an diesem Tag ums Leben gekommen war, entweder mit seinem Lieblingssong oder einem Lied, das ihn charakterisierte. Zur inoffiziellen Hymne des Krieges wurde der bereits Monate zuvor erschienene Song Es wird alles gut werden von der Rapperin Jasmin Moallem. Ein anderes Stück, ebenfalls zwei Monate vor dem Krieg von dem zuvor fast unbekannten TikTokern Yagel Oshri geschrieben, sollte ein weiterer Hit werden, LaTzet MiDikaon („Aus einer Depression auftauchen“). Darin heißt es: „Gute Tage werden kommen, ich verspreche es. Selbst in den dunklen Nachtstunden wird immer ein kleiner Stern für die leuchten.“
Die Inhalte der neuen Lieder decken ein breites Spektrum ab: vom Trostspenden und Aufrufen zum Zusammenhalt bis hin zur Stärkung der Kampfmoral sowie dem Andenken von Toten. Es ist auch der Durchbruch der TikTok-Generation, die in real time reagieren konnte. Manche der neuen Songs sind direkte Antworten auf den 7. Oktober. Tirkedi („Tanze“) bezieht sich auf das Nova-Festival, auf dem 364 Besucher ermordet wurden. Ebenso Choref 23 („Winter 23“), gesungen von der jungen Künstlerin Odaya ist eine Ode an die „Engel“ des Raves und die Kinder im Süden, die im Raketenhagel leben mussten. Es geht auch um „jemanden da oben, der bei der Wache eingeschlafen ist“. Der Song ist eine Anspielung auf ein älteres Lied, und zwar „die Kinder vom Winter 73“, das vor dreißig Jahren auf der Hitliste stand und die Generation des Yom-Kippur-Krieges thematisiert. 1994 sangen ihn erstmals vier junge Rekruten, die direkt nach dem Krieg gezeugt worden waren. Doch anders noch als in der ursprünglichen Version ist im heutigen Song keine Rede mehr von dem Versprechen eines Friedens. Keine Friedenstauben mehr, keine Ölzweige.
Andere versuchen, Hoffnung für die Zukunft zu geben. Das neue Album von Alon Eder and Band heißt Delet HaPtucha („Die offene Tür“). Die Texte lassen die „Tür offen“, für das Gute (Licht, Leben) und für das Böse (Schatten, Tod), schrieb der Musikkritiker Ben Shalev. Der Song Carmel ist Carmel Gat gewidmet, die in den Tunneln der Hamas ermordet wurde. Geschrieben wurde er von dem Geiger Avner Kelmer aus dem Kibbuz Be’eri. Oder das Lied Lo Levad („Nicht allein“) von Jane Bordeaux: „Der Baum in meinem Garten, hat nicht überlebt. Er wurde an diesem verfluchten Morgen völlig niedergebrannt. Wir sind nicht allein, wir werden weinen, und wir werden darüber hinwegkommen.“
Manche Antworten fielen aber auch höchst nationalistisch und patriotisch aus, oftmals mit religiösen Konnotationen. Sie entstanden vor allem zu Beginn des Kriegs und sollten die Kampfmoral stärken. Dazu gehört Eyal Golans Am Israel Chai („Das Volk Israel lebt“), das um göttlichen Schutz bittet und zur nationalen Einheit aufruft. Dass der umstrittene Star zu dieser Zeit öffentlich forderte, „Gaza auszulöschen und niemanden dort zu lassen“, fand dann als Beweisstück den Weg zum Internationalen Gerichtshof in Den Haag, bei der Anklage Südafrikas gegen Israel wegen Genozid.
„Wenn wir sterben, sagt ihnen wenigsten, dass wir versucht haben, einen Traum zu verwirklichen.“
Aner Shapira
Für noch mehr internationale Aufmerksamkeit sorgte der Hit Harbudarbu des Duos Ness and Stilla, die als junge TikTok-Stars eine riesige Reichweite haben. In ihrem Rap-Song geht es um Rache gegen jeden, der das Massaker „geplant und ausgeführt“ hat. Die Einheiten der Armee werden dort aufgelistet und dem Hisbollah- Chef Nasrallah und dem Hamas-Anführer Haniyeh explizit gedroht, sie in Jenseits zu befördern, und das Monate, bevor das tatsächlich auch geschah. Im Ausland wurde das bestenfalls als geschmacklos empfunden. Viele in Israel sahen darin eher einen Motivationsschub für die Soldaten, die sich im Herbst 2023 anschickten, in den Krieg nach Gaza zu ziehen und dabei ihr eigenen Leben riskieren. In einer Ode an die Reservisten namens Tikwa 6 („Hoffnung 6“), die zur selben Zeit erschien, wurden diese als Superhelden gefeiert – der Lehrer, der Arzt, die Rechtsanwältin oder der Nachbar von nebenan. Es ist ein vielschichtiger innerer Dialog auf Hebräisch, der da stattfindet. Dabei wurde auch die israelische Trance-Musik, die zwar international stark vernetzt war, aber im Land selbst eher ein subkulturelles Phänomen darstellte, zunehmend in die Mainstream- Popkultur mit integriert. Beim Nova Healing Concert im Juni in Tel Aviv traten Seite an Seite prominente Stars mit Trance-Musikern auf. Omer Adam spielte mit Infected Mushroom und sang Tirkod LaNetzach („Für immer tanzen“). Und der inzwischen auch schon über 50-jährige Aviv Geffen sang sein eigenes Post-Oktober-Lied Zricha Shchora („Schwarzer Sonnenaufgang“) gemeinsam mit Mia Leimberg, selbst Musikerin und eine der freigelassenen Geiseln, die mit ihrem Hund zurückkam.
Der innere Dialog ist umso intensiver, weil im Ausland einst geschätzte Künstler plötzlich nicht mehr auftreten können. Dazu gehört auch die international gefeierte Sängerin Noga Erez, die im Dezember davon erzählte, dass sie zunehmend gecancelt worden sei. Boykottdrohungen und Anfeindungen haben längst auch den ESC überschattet. Yuval Rafael rüstet sich gerade für ihren Auftritt in Basel. Sie geht von viel Ablehnung seitens ihrer Mitstreiter aus. Der Song, mit dem sie antritt, heißt A New Day Will Rise. Sie selbst ist eine Überlebende des Nova-Festivals. Sie hatte sich unter Leichen in einem Schutzbunker versteckt.
Das Gelände, mitten in freier Natur und unter Bäumen unweit der Grenze zu Gaza, ist heute ein riesiger Gedenkort mit den Fotos all jener Toten, die dort auf dem Rave getanzt haben. Sucht man nach gesungenen Zukunftsvisionen, die Mut machen, bleibt eigentlich nur der Sänger Yoni Bloch. Sein Song Sof Tov („Gutes Ende“) handelt vom Ende aller schlimmen Dinge. In seinem Musik-Clip nutzt er KI, um die Rückkehr der Geiseln, das Ende des Krieges und einen beginnenden Frieden zu simulieren.