Er war Champion eines Radsportverrückten Italiens. Gino Bartali gewann zweimal die Tour de France, dreimal den Giro d’Italia, darüber hinaus zahlreiche regionale Rennen. Seinen ersten Sieg konnte Bartali schon als Sechzehnjähriger verbuchen, im Finale des Großen Preises der Debütanten in Florenz. Da fuhr er noch auf einem geborgten Rad, sein karges Brot verdiente er in einem Fahrradgeschäft. Von da an ging es aber rasch bergan – im sprichwörtlichen Sinn des Wortes: Er sollte dann vor allem für seine Bergsiege bekannt werden. Zunächst startete er als Junior und Amateur, und bis zu seinem Umstieg ins Profi-Lager 1935 hatte er schon 44 Siege in 92 Rennen errungen, dazu zahlreiche Podiumsplätze.
Seine Karriere war ihm nicht vorgezeichnet, weiß der Wiener Werbeunternehmer Thomas Krutt, der sich als Hobby-Rennradfahrer genauer mit Bartali beschäftigt hat: „Bartali wurde 1914 in eine Arbeiterfamilie in einem Vorort von Florenz geboren. Er war ein schwächliches Kind, das eine Sache besser konnte als alle anderen: Radfahren.“ Krutt verweist dabei auf den historischen Kontext: „Radfahren war im Italien der 20er und 30er des 20. Jahrhunderts die weitaus populärste Sportart. Und Radfahrer waren die Helden der Zeit.“
Wettbewerbe wurden in zahlreichen Velodromen gefahren, etwa auf der berühmten Vigorelli-Radrennbahn in Mailand, die von den Massen richtiggehend gestürmt wurden. An den Radios hörten die Fans Reportagen von allen Etappen des prestigeträchtigen nationalen Wettbewerbs Giro d’Italia, aber auch der regionalen Rundfahrten und Tagesrennen wie Mailand–San Remo oder der Lombardei- und ToskanaRundfahrten.
Zwei Männer fuhren oft voran, und jeder hatte seine Fans – in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Fausto Coppi, der um fünf Jahre jüngere „Campionissimo“, der Meister der Meister, war ein fescher, eleganter Fahrer aus dem Bürgertum, er bewegte sich im Umfeld der Reichen und Schönen. Bartali hatte gröbere Gesichtszüge und eine breite Nase, er war der Mann der Arbeiter, und man schrieb ihm mehrere Spitznamen zu: Einerseits nannte man ihn „il pio“, den Frommen, wegen seines starken katholischen Glaubens. Anderseits hieß er auch „Ginetaccio“, der schreckliche Gino oder „l’uomo di ferro“, Mann aus Stahl. Das Italien des Radsports teilte sich über längere Zeit in „Coppisten“ und „Bartalisten“ auf. Beide zusammen gewannen in ihrer Epoche fast alles, einmal lag der eine ganz vorne, das nächste Mal der andere.
„Mein Vater wollte nicht,
dass man sich diese Dinge erzählt. Er sagte:
Gutes tut man, aber man spricht nicht darüber.“
Andrea Bartali
Dabei fügte Bartali gelegentlich seinen Gegnern auch wahre Demütigungen zu. Er konnte manches Mal – obwohl er ein starker Raucher war – einen derart großen Vorsprung herausfahren, dass er zwischendurch Halt machte, vom Rad stieg und sich eine Gauloise anzündete. Überdies hatte er feste politische und moralische Vorstellungen, die schon bei seinem ersten Giro-Sieg im Jahr 1936 getestet wurden.
Der Wiener Krutt sieht in Bartali nicht nur den sportlichen Meister: „Seine Geschichte ist für mich vorbildhaft dafür, was Menschsein bedeuten kann. Es war damals in Italien üblich, so einen Sieg dem glatzköpfigen Duce zu widmen. Bartali widmete ihn der Jungfrau Maria und verweigerte die triumphale Geste im faschistischen Italien. Gino Bartali war Antifaschist aus Überzeugung.“ Sein Abweichen von der Norm in der Diktatur ließ man ihm wegen seiner Berühmtheit gerade so durchgehen. Doch seine wahre menschliche Prüfung – unter Einsatz des Lebens – sollte ihm noch bevor stehen.
Gefährliche Hilfsfahrten. 1943 war Italien bereits von den Deutschen besetzt, Juden wurden nun nicht mehr „nur“ innerhalb Italiens in die Verbannung des Südens verschickt, sondern direkt in die Konzentrationslager und Mordfabriken Ost- und Mitteleuropas deportiert. Schon in den Jahren davor hatten sich die jüdischen Gemeinden Italiens – unterstützt von internationalen jüdischen Hilfsvereinen wie Joint und Hicem – um die Ausreise italienischer Juden gekümmert. Nun musste die Wohlfahrtsorganisation Delasem in den Untergrund abtauchen. Dabei spielten mehrere hohe katholische Geistliche entscheidende Rollen.

bei der Tour de France, verbuchen, ehe eine schwere Verletzung seine lange Karriere beendete. © AP / picturedesk.com; MARCO BERTORELLO / AFP / picturedesk.com
Einer von ihnen war Elia Dalla Costa, der Erzbischof von Florenz. Dalla Costa hatte das Ehepaar Bartali getraut. Er schrieb einen Brief an die ihm unterstehenden Klöster, die Tore für verfolgte Juden zu öffnen. Und er war gemeinsam mit dem Florentiner Rabbi Nathan Cassuto in das DelasemNetzwerk eingebunden, das nun half, Juden heimlich ihre Flucht zu ermöglichen. Dazu waren gefälschte Dokumente nötig, für neue Identitäten.
Eines Abends erhielt Bartali einen Anruf seines Erzbischofs, er wolle ihn treffen. Unter vier Augen bat ihn dieser um seine Hilfe, und Bartali sagte ohne Zögern zu. Was sollte er machen? Es ging darum, gefälschte Papiere für Jüdinnen und Juden zu transportieren, vor allem aus Florenz nach Assisi, in die Stadt des heiligen Franziskus. Dort lebten Klarissinnen in einem Kloster in Klausur. Ihnen überbrachte Bartali die Dokumente und Passfotos, und von dort wurden sie an die Empfänger weitergegeben.
Die Papiere waren zusammengerollt im Sattelrohr oder im Lenker versteckt, und Bartali gab vor, Trainingsfahrten zu absolvieren. Er wolle sich für die Wettbewerbe nach Kriegsende in Form halten, dafür brauche es eben viele Kilometer, oft mehr als 300 pro Tag, etwa so viel wie bei einer üblichen Tour-de-France-Etappe. Allein die knapp 180 Kilometer nach Assisi – quer durch die Toskana bis Umbrien – fuhr er um die 40 Mal.
„Bartali riskierte viel – nicht mehr und nicht weniger als sein Leben“, weiß sein Bewunderer Krutt. Zwar half ihm seine Popularität bis zu einem gewissen Grad, doch er kam mehrmals in gefährliche Situationen, verbrachte sogar 45 Tage im Gefängnis und wurde wiederholt verhört. Einmal schöpfte eine Patrouille bei einer Straßenkontrolle Verdacht und forderte ihn auf, den Sattel abzunehmen, damit sie in die Rohre des Rahmens schauen könnten. Bartali gelang es, das zu verhindern, indem er erklärte, es sei zu kompliziert, die fein austarierte Rennmaschine nach dem Zerlegen wieder genau so einzustellen, dass es für ihn ideal passe und er weiter für seine Höchstleistungen trainieren könne.

Doch Bartalis menschliche Leistung erschöpfte sich nicht in anonymen, riskanten Botenfahrten. Er half auch direkt, von Mensch zu Mensch. So gab er dem jungen Giorgio Goldenberg und seiner Mutter Unterschlupf in seinem eigenen Haus. Zuvor hatte Giorgio unter falscher Identität in einem Heim für katholische Buben gelebt. „Als es dort unsicherer wurde, kam Bartali und versteckte unsere Familie in seinem Keller in Florenz“, erinnerte sich Giorgio Goldenberg, der seinen Namen in Israel auf Shlomo Pas geändert hatte, viele Jahre später. „Er kam immer wieder, um uns Essen zu bringen, auch seine Frau kam. Er ist wahrscheinlich der Grund, dass ich noch am Leben bin.“
Bartali nahm nach Kriegsende seinen Rennberuf wieder auf und schaffte es, an die früheren Erfolge anzuknüpfen. Zehn Jahre nach seinem ersten Sieg gewann er 1946 zum dritten Mal den Giro d’Italia, 1948 ein zweites Mal die Tour de France, und 1949 wurde er in Frankreich wieder zweiter – hinter Coppi. Auch eine Reihe regionaler Wettbewerbe konnte er für sich entscheiden, insgesamt zählte er 124 Siege.
1953 beendete ein schwerer Sturz seine Karriere. Er betrieb danach eine eigene Fahrradfabrik und arbeitete als Kommentator für Rundfunk und Fernsehen. Bartali starb im Jahr 2000 in seinem Geburtsort.

Im Jahr 2005 verlieh ihm der italienische Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi postum die goldene Ehrenmedaille Italiens. 2013 wurde er von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem für seinen Mut und seinen Einsatz als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Er soll – abgesehen von der direkten Hilfe für die Goldenbergs – mit seinen Fahrten insgesamt etwa 800 Menschen die Flucht vor den Nazis ermöglicht haben.
„Die meisten von denen, die durch seine Mithilfe gefälschte Pässe erhielten, haben nie ein Wort mit ihm gewechselt“, hat Krutt recherchiert. Zu ihnen gehörte etwa Giulia Donati, der dank der Hilfe Bartalis die Flucht gelang. Von Bartali, so erzählte sie später einmal Journalisten, habe sie nur die Beine und den Rücken gesehen. Und durch den Türrahmen das Rennrad.
Bartali selbst rühmte sich übrigens nie seiner Heldentaten. Sein Sohn Andrea sagte einmal: „Mein Vater wollte nicht, dass man sich diese Dinge erzählt. Er sagte: Gutes tut man, aber man spricht nicht darüber.“ Auf die Frage, was ihn eigentlich angetrieben habe, antwortete seine Witwe Adriana Bartali: „Weil er nicht anders konnte. Er wollte einfach nur das Richtige tun.“