
In Norden von Gaza, knapp 65 Kilometer von Tel Aviv entfernt, gehen die Menschen jetzt auf die Straße. Vielleicht ist das ja schon nicht mehr so, wenn diese Kolumne erscheint. Dann hätte die Hamas von Anfang an die Oberhand behalten mit ihrer Strategie, jeglichen Protest brutal niederzuschlagen. Der 22-jährige Odai Al- Rubai war einer der ersten Demonstranten, die es Ende März gewagt hatten, lautstark ein Ende des Regimes zu fordern. Sie riefen „Hamas sind Terroristen“ und „Hamas, haut ab“. Auf Transparenten stand: „Hamas repräsentiert uns nicht.“ Kurz darauf war Odai, so berichtet es seine Familie, entführt und gefoltert worden. Dann hatte man ihn leblos vor ihrer Haustüre abgelegt. Er starb wenig später im Krankenhaus. Seine Beerdigung wurde zu einer weiteren Protestveranstaltung, die Angehörigen versprachen, den Tod zu rächen.
Es ist nicht einfach, sich ein Bild zu machen davon, wie weit verbreitet die aufgekommenen Proteste in Gaza tatsächlich sind. Von mehreren Hundert bis Tausenden war die Rede, am Anfang waren es drei Tage hintereinander. Aufnahmen der Demonstrationen wurden in den sozialen Medien verbreitet – von Palästinensern, die im Ausland leben. Männer ziehen dort durch verwüstete Stadtviertel. Gefordert wurde eine Ende des Krieges, und ein Ende des seit 18 Jahren andauernden Hamas-Regimes. Manchmal auch die Freilassung der Geiseln. Danach, so erzählen es zwei Aktivisten aus Gaza, hätten sich die Proteste von Beit Lahia auch auf andere Ortschaften ausgeweitet. Es seien spontane, unorganisierte Demonstrationen, angetrieben von Wut und Verzweiflung.
„Ich habe all die Lastwägen gesehen, die eingetroffen sind, aber seit dem ersten Tag nichts bekommen.“
Die beiden Aktivisten waren bereit, mit ausländischen Journalisten per Videokonferenz zu sprechen. Man soll aber nicht ihre Namen nennen, um sie zu schützen. Nach dem Gespräch, vermittelt von dem in New York ansässigen Center for Peace Communication, wurden ihre Gesichter verpixelt, sodass sie auf der Aufnahme nicht mehr zu erkennen sind. Einer studierte bis zum 7. Oktober 2023 an der islamischen Universität in Gaza und ist jetzt evakuiert, der andere ist juristischer Berater. Wenn man sie fragt, warum gerade jetzt solche Proteste aufkommen, dann verweisen sie auf eine immer desolatere Lage und kulminierten Zorn: „Der Hamas geht es nicht mehr, so wie sie es bisher für sich beansprucht hat, um die Freiheit der Menschen in Gaza, sondern um ihr eigenes Fortbestehen, sie wollen ihre Position sichern, auch in Hinblick auf Katar.“
Sie erzählen auch, dass die Hilfsleistungen nicht bei den Menschen angekommen sind, weil die Hamas die Kontrolle darüber behält. „Ich habe all die Lastwägen gesehen, die eingetroffen sind, aber seit dem ersten Tag nichts bekommen. Ich musste all die Waren in den Geschäften kaufen, obwohl eigens drauf steht, dass sie unveräußerlich sind.“
Es ist nicht das erste Mal, dass es im Gazastreifen zu Protesten gegen die Hamas kommt. Im März 2019 prangerten Palästinenser an verschiedenen Orten die Privilegien der islamistischen Gewalthaber an, die so gerne im Namen des einfachen Mannes auftreten. „Wir wollen das gleiche Leben voller Luxus, Geld und Autos wie die Söhne der Hamas-Anführer“, stand auf den Plakaten. Auf der Facebook-Seite We want to live gab es auch einen Aufruf zum zweitägigen Streik. Der Aufstand dauerte nicht lange. Berichte sprachen von mehr als tausend Verhaftungen, hunderte Demonstranten sollen gefoltert worden sein. Auch jetzt hat die Hamas klar gemacht, welches Risiko man eingeht, wenn man sich gegen sie wendet.
Es ist nicht einfach, sich ein Bild zu machen davon, wie weit verbreitet die aufgekommenen Proteste in Gaza tatsächlich sind. Von mehreren Hundert bis Tausenden war die Rede, am Anfang waren es drei Tage hintereinander.
In den sozialen Netzwerken beschuldigen ihre Handlager die Demonstranten, im Auftrag ausländischer Dienste oder der Fatah zu protestieren. Sie werden als Verräter gebrandmarkt. Dass Israels Verteidigungsminister Katz zu ebensolchen Demonstrationen aufgerufen hatte, macht die Sache nicht unbedingt leichter.
Was zu den erneuten Protesten beigetragen hat, mag die Tatsache sein, dass die Präsenz der Hamas seit Ende des Waffenstillstands und der Wiederaufnahme der Angriffe auf den Straßen stark zurückgegangen ist. Ihre Polizisten und Sicherheitskräfte sind in den Tunneln abgetaucht. Andere, die oben blieben, bekamen den Volkszorn am eigenen Leib zu spüren. Das Video einer prominenten Familie in Deir Al-Balah ging viral. Sie hatte offen zugegeben, einen Polizeioffizier getötet zu haben, nachdem zuvor einer ihrer Angehörigen von der Hamas erschossen worden war. Auf den Video ist zu sehen, wie der Hamas-Polizist von den Kugeln tödlich getroffen wird.
Natürlich habe er Angst vor Repressalien, sagt einer der Aktivisten im Gespräch. Die Hamas sei „ähnlich wie ISIS, sie hat keinerlei Achtung vor menschlichem Leben“. Das wisse er aus eigener Erfahrung. Er selbst gehöre aber auch der Fatah nicht an, wünsche sich eine neue Führung in Gaza. „All diese Organisationen haben ihre Legitimität verloren.“ Die Demonstrationen, so denkt und hofft er, würden deshalb weitergehen und sich ausbreiten. Nicht die Bevölkerung solle aus dem Gazastreifen verschwinden, wie es sich manche vorstellen, sondern das Regime der Hamas. Er bittet die Israelis, ihm zu glauben, dass beides nicht vollständig deckungsgleich sei.