
WINA: Was bedeutet es für Sie, bucharisch zu sein?
Michael Galibov: Die bucharische Tradition ist sehr alt, sehr familiär, sehr jüdisch. In der früheren Sowjetunion war jüdisches Leben nur eingeschränkt möglich. Gebetet wurde, wenn, im Keller, und es gab auch keine Bücher. Das heißt, die Großeltern und Eltern haben das gebetet und gesungen, was sie sich noch von den Urgroßeltern gemerkt hatten. Wenn ich mir heute die bucharische Geschichte anschauen und dass man da über Jahrzehnte ohne Bücher ausgekommen ist und sehe, wie wir uns hier in Österreich um 180 Grad wieder dorthin bewegt haben, wo wir eigentlich hergekommen sind, dann macht mich das stolz. Wir haben uns bis heute nicht assimiliert – die Assimilierungsrate in der bucharischen Gemeinde ist mikrig klein. In Wien gibt es inzwischen sieben bucharische Synagogen.
Wie sehr hängen Sie persönlich an Traditionen, und was geben Sie an Ihre Söhne weiter?
I Ich habe früher nicht Schabbat gehalten. Aber seit vier Jahren – da ist zuerst mein Großvater, Grigori Galibov, an Covid verstorben und kurz darauf mein Freund David Karschigiev, er war erst 40 Jahre alt, ebenso. David hatte sechs Kinder, fünf Söhne und eine Tochter, sie war erst ein paar Monate alt, als er starb. Er hat es nicht geschafft, sie aufzuziehen, mit ihr schöne Momente zu erleben. Das war für mich eine Art innerlicher Weckruf. Ich wollte mehr Zeit mit meiner Familie verbringen. David hatte dazu nicht mehr die Möglichkeit, aber ich habe die Möglichkeit. Das ist einer der Gründe, warum ich nun Schabbat halte, aber nicht nur. Wir leben in der westlichen Welt heute sehr technologiegetrieben. Sich hier einen Tag herauszunehmen, Tora zu lernen, mit den Kindern gemeinsam um den Tisch zu sitzen, ohne Handys, ohne eingeschaltenen Fernseher, niemand aus der Arbeit kann mich erreichen, und über die Parascha und das Leben zu sprechen: Das finde ich schön, und das ist mir wichtig. So befasst man sich mit religiösen Fragen und bleibt gleichzeitig mit den Kindern im Gespräch.
Ich wünsche mir Einheit inder Gemeinde,
ich wünsche mir von meinen Landsleuten
Zusammenhalt, Ehrlichkeit, Verständnis und
das gemeinsame Angehenvon Problemen.
Ihr Großvater, Grigori Galibov, gehörte in den 1970er-Jahren zu den ersten bucharischen Juden, die nach Wien gekommen sind. Er war Mitbegründer der Wiener bucharischen Gemeinde und deren erster Präsident. Wie unterscheidet sich Ihre heutige Lebensrealität als Vertreter der nunmehr dritten Generation von der Lebensrealität dieser Einwanderergeneration?
I Als Einwanderer beherrscht du die Sprache nicht. Du musst deine Familie ernähren. Das bedeutete, die Menschen haben Tag und Nacht gearbeitet. Das war auch bei meinen Eltern noch so. Wir Kinder waren daher meist bei den Großeltern. Wenn es Schulveranstaltungen gab, waren unsere Eltern meist nicht vertreten, auch nicht bei sportlichen Aktivitäten wie Basket- oder Fußball. Wir wurden dafür kritisiert. Es hießt, schaut, die Eltern kümmern sich nicht um euch. Aber unsere Eltern mussten arbeiten. Das war eine schwierige Zeit. Meine Eltern hatten einen Obstund Gemüse-Stand am Hannovermarkt, das bedeutete, um drei oder vier Uhr morgens aufzustehen, um zum Großgrünmarkt zu fahren, um einzukaufen, und erst abends wieder nach Hause zu kommen. Schulisch waren wir auf uns allein gestellt. Aber wir haben es verstanden. Es war auch für Religion kaum Zeit, viele haben nicht Schabbat gehalten, denn auch samstags musste man am Markt stehen. Heute ist das alles anders. Das Leben hat sich massiv gedreht. Vielen Gemeindemitgliedern geht es heute finanziell gut – abgesehen von der aktuellen inflationsbedingten Krise. Es gibt heute die Möglichkeit, an Elternabenden teilzunehmen, die Kinder zum Sport zu begleiten, mit den Kindern zu lernen. Meine Generation engagiert sich heute sehr, wenn es um die Kinder geht. Ich bin zum Beispiel bei fast jedem Elternabend und schulischen Veranstaltungen wie Festen dabei. Ja, das Leben hat sich zum Guten gewendet.
Spielt da der Bildungsaufstieg in vielen Familien eine Rolle?
I Auch. Bucharen arbeiteten in Wien anfangs vor allem als Händler. Viele Familien haben aber gemerkt, dass das nicht immer rosig ist, und haben geschaut, dass die Kinder eine Universität besuchen. Heute gibt es in der bucharischen Gemeinde eine Vielzahl von Ärzten, Anwälten, Buchhaltern. Ich sage zu meinen Söhnen: Ihr lernt, und sonst macht ihr gar nichts. Das war in meiner Generation noch ein wenig anders, da haben die Eltern meistens Hilfe ihrer Kinder bei der Arbeit gebraucht oder man hat erwartet, dass die Kinder das Geschäft der Eltern eines Tages übernehmen. Das ist heute nicht mehr so. Heute ist das Credo: Geh deinen Weg, studiere, lerne, du weißt nie, was das Morgen bringen wird. Wirst du in Österreich bleiben oder nicht? Wenn du eine gute Ausbildung hast, wenn du zum Beispiel Ingenieur für Straßenbau, Brücken oder was auch immer bist, so jemanden wird man auf der ganzen Welt brauchen. Das ist das, was wir unseren Kindern heute beibringen.
„Gemeinsam wollen wir Altes bewahren und darauf aufbauend Neues
schaffen.“
Wie leicht oder schwierig war es für die Generation deiner Großeltern, hier ein bucharisch-jüdisches Gemeindeleben aufzubauen und auch einen Platz in der bereits ansässigen, aschkenasisch geprägten jüdischen Gemeinde zu finden?
I Ich war zwar damals noch nicht auf der Welt, habe aber doch sehr viel mitbekommen. Ich würde es rückblickend als Kulturschock bezeichnen. Es ist auch aus Sicht der Juden, die schon Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Wien lebten, verständlich: Da kommen plötzlich bucharische Juden aus Usbekistan und Tadschikistan und sagen, sie beten nach sephardischem Ritus und wollen hier ein Teil des jüdischen Lebens sein. Das wurde anfangs nicht akzeptiert. Es wurde sogar infrage gestellt, dass sie Juden sind, und es hieß teilweise, wir sollten dort hin zurückgehen, wo wir herkamen – was ja aber gar nicht möglich war. Man konnte nicht mehr zurück in die Sowjetunion. Mein Onkel, Boris David Kandow, reiste daraufhin nach Israel und besorgte vom sephardischen Oberrabbinat in Israel ein Schreiben, das belegte, dass es bucharische Juden gibt und diese auf eine lange Geschichte zurückblicken. Es war nicht einfach. Wenn ich mir heute die verschiedenen Migrantengruppen in Österreich anschaue, muss ich sagen: Die bucharische Gemeinde ist einer der bestintegrierten migrantischen Gruppen hierzulande. Wir sind ein Vorzeigebeispiel für erfolgreiche Integration. Auch in einigen Dissertationen über das Thema Migration wurde das erwähnt.
Sie vertreten heute als Mandatar im Kultusvorstand die Interessen des Vereins bucharischer Juden. Was sind die speziellen Bedürfnisse der bucharischen Gemeinde?
I Die bucharische Gemeinde ist sehr religiös. Wir haben genügend Bethäuser und Infrastruktur. Was wir aber brauchen, ist eine finanzielle Absicherung. Heute gibt es wieder ein gutes Verhältnis mit der IKG, das war in den vergangenen Jahren nicht immer so. Dieses gute Verhältnis ist wichtig, das hat nicht zuletzt der 7. Oktober gezeigt. Aber es ist nicht selbstverständlich. Die Fixkosten der bucharischen Gemeinde, die heute ihrerseits einen enormen Beitrag für das jüdische Leben in Wien leistet, müssen unabhängig von Koalitionen im Kultusvorstand abgesichert sein. Derzeit sind wir ja nun wieder Teil einer breiten Koalition. Das muss aber unabhängig von Koalitionsbildungen sein. Die Deckung einiger Fixkosten der bucharischen Gemeinde sollten im Statut der IKG Wien verankert werden. Das dient auch der Absicherung jüdischen Lebens allgemein.
Sie sind aber auch Vizepräsident der IKG Wien. Wie sehr ist die bucharische Gemeinde inzwischen bereits mit den anderen Teilen der Gemeinde zu einer Community zusammengewachsen?
I Es gibt zwar immer noch gegenseitige Vorurteile, diese haben aber stark abgenommen. Es gibt inzwischen auch viele Ehen, in denen die beiden Partner aus verschiedenen Teilen der jüdischen Gemeinde kommen und das kein Thema mehr ist. Das finde ich wunderbar. Das Ganze wächst zusammen. Ich persönlich merke, dass mich das Amt des IKG-Vizepräsidenten auch noch einmal einen Schritt nach vorne gebracht hat. Ich habe nun viel mehr und intensivere Kontakte zur aschkenasischen Community und neue Freunde gewonnen. Wir sind eine Einheitsgemeinde, und wir sind heute an einem Punkt angelangt, wo wir harmonisch miteinander arbeiten können. Das soll auch so bleiben. Auch die Zusammenarbeit im Präsidium der IKG funktioniert sehr gut. Oskar Deutsch, Claudia Prutscher und ich setzen uns immer zusammen, auch wenn es etwas Ernstes zu besprechen gibt, und versuchen dann, Lösungen zu finden. Diesen Spirit müssen wir aber noch mehr in die Gemeinde bringen: Wenn du ein Problem hast, sprich es an, aber mach es nicht an der Herkunft fest.
„Heute ist das Credo: Geh deinen Weg, studiere, lerne,
du weißt nie, was das Morgen bringen wird.“
Die Gemeinde wächst also zusammen, und es ist nicht mehr wichtig, ob eine Bucharin einen Bucharen heiratet. Wie wichtig ist es allerdings, jüdisch zu heiraten?
I Sehr. Ich denke, der 7. Oktober hat uns allen gezeigt, dass du als Jude niemandem vertrauen kannst. Michel Friedman war vor ein paar Monaten zu Gast in Wien und hat dabei etwas Interessantes gesagt: Im Ersten Weltkrieg haben Juden für ihr Land gekämpft, als Franzose für Frankreich, als Deutscher für Deutschland und so weiter. Im Zweiten Weltkrieg warst du nicht mehr Franzose oder Deutscher, da warst du Jude. So ist es leider. Egal, was du tust, um dich zu integrieren – du bist für die Leute in erster Linie Jude. Und ich glaube, deshalb müssen wir auch jüdisch heiraten. Du weißt nie, was morgen passiert. Da ist es wichtig, seinen Wurzeln treu zu bleiben. Das ist auch der Grund, warum es uns heute, nach über 3.000 Jahren, noch gibt.
Stichwort Tradition: Die bucharische Gemeinde hat in Wien, Sie haben es bereits angespochen, wieder zur Religion gefunden. Wird dieser Trend anhalten?
I Ich denke, dass er sogar noch stärker werden wird. Wir sind, nicht alle, aber viele, auf einem sehr religiösen Weg. Das sieht man auch bei den beiden Jugendorganisationen Jad be Jad und Club Chaj. Sie sind modern-religiös ausgerichtet, aber eben religiös. Und die Jugendlichen wollen das auch.

nach Wien gekommen sind. Er war Mitbegründer der Wiener bucharischen Gemeinde und deren erster Präsident.
Was wünschen Sie sich für die bucharische Gemeinde?
I Ich wünsche mir Einheit in der Gemeinde, ich wünsche mir von meinen Landsleuten Zusammenhalt, Ehrlichkeit, Verständnis und das gemeinsame Angehen von Problemen. Was wir nicht brauchen, ist eine Spaltung, denn eine politische Spaltung führt immer auch zu Spaltung von Familien. Wir sind hier in Wien alle irgendwie miteinander verwandt und sollten an einem Strang ziehen. Es gab schon mehrere Situationen, bei denen es fast zu einer Spaltung kam, aber dann hat eine ältere Person, meist ein Rabbiner, alle um einen Tisch versammelt und uns wachgerüttelt. So soll es bleiben.
An manchen Feiertagen und zu manchen Anlässen sieht man, dass das sephardische Zentrum inzwischen zu klein geworden ist. Was wünschen Sie sich hier?
I Wir haben inzwischen zum Glück einige Synagogen, sodass die Leute ausweichen können. Wünsche gibt es daher keine. Wir wollen einfach nur das, was wir aufgebaut haben, erhalten können. Daher braucht es eine finanzielle Absicherung.
Wo sehen Sie die bucharische Gemeinde in 20 Jahren – dann wird sie voraussichtlich auch die Mehrheit der Mitglieder der IKG Wien stellen?
I Wenn man sich die Zahlen anschaut: Ja, das wird so sein. Ich glaube aber, auch wenn man die Mehr heit in einer Kehille hat, bedeutet das nicht gleich, dass man Ansprüche stellen kann oder soll. Die bucharische Gemeinde befindet sich nach wie vor in einem Lernprozess. Wir gehen nun in eine gute politische Richtung, und ich glaube, dass wir für die jüdische Gemeinde weiterhin sehr viel Positives beitragen können und damit auch großen Anteil daran haben werden, dass sich die IKG Wien weiter zum Positiven verändert. Wir beteiligen uns zum Beispiel aktiver in der Arbeit der Kommissionen, wir engagieren uns in Vereinen, die für die ganze jüdische Gemeinde arbeiten.
Wie soll das 50-Jahr-Jubiläum gefeiert werden?
I Wir wollen feiern, aber nicht mit großem Pomp. Es ist nicht die Zeit für große Feste, auch aus finanziellen Gründen. Eines kann man jetzt schon verraten: Beim VBJ bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Nach 50 Jahren wird es Zeit, neue Wege einzuschlagen. Gemeinsam wollen wir Altes bewahren und darauf aufbauend Neues schaffen. Wir planen, das 50-Jahr-Jubiläum am 27. November im MuTh zu begehen. Es wird ein Abend voller Erinnerungen, Emotionen und schöner Momente. Wir erwarten über 600 Gäste und ein unvergessliches Fest.