Das Hamas-Massaker vom 7. Oktober letzten Jahres auf dem Nova-Musikfestival und in verschiedenen Ortschaften in Israel unweit des Gazastreifens wird als das schlimmste Pogrom am jüdischen Volk seit dem Holocaust gesehen. Der brutale Angriff der radikal-islamischen Terrororganisation mit über 1.200 Ermordeten und knapp 5.000 Verletzten, hauptsächlich Zivilisten, löste nicht nur den immer noch anhaltenden Gazakrieg aus, sondern erschütterte das Land bis ins Mark. Auch weltweit war die Solidarität mit dem jüdischen Staat zunächst groß. Doch die Empathie verflog schon in den ersten Tagen und kippte rasch in Kritik, Proteste und Klagen. Einmal mehr hat Israel die Schlacht um die Meinung der Öffentlichkeit verloren.

„Am Tag des Anschlags und auch noch kurze Zeit später erhielt ich viele E-Mails und Anrufe voller Beileid und Trost von Freunden und Bekannten aus dem Ausland“, erzählt der 36-jährige Sozialpädagoge Shlomo Tzabari aus Jerusalem, Überlebender des Nova-Festivals, der im Rahmen eines Jugendprojekt mit schwer erziehbaren jüdischen und arabischen Kindern arbeitet. Tzabari wuchs in Schweden auf und erzählt weiter: Vor allem meine Eltern, die in Stockholm leben, bekamen zunächst viel Zuspruch. Gleichzeitig feierten aber auch dort und in zahlreichen Großstädten der Welt einige muslimische Organisationen den Angriff und verteilten Süßigkeiten an die Bevölkerung. Schon kurz danach schlossen sich linke Gruppen und radikale Muslime zusammen, um auf Pro-PalästinaDemonstrationen ihrem Antisemitismus und ihrem Hass auf Israel in Form von Gewalt freien Lauf zu lassen.“

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis weltweit die ersten Anti-Israel-Kundgebungen stattfanden. Viele westliche Universitäten, vor allem in den USA, wurden schon kurz nach dem Massaker vom Iran und seinen Stellvertretern mit ihrer Indoktrination und Opferpropaganda infiltriert. Eines der auffälligsten Merkmale des Gazakriegs ist ein schwerwiegendes Defizit an Empathie. Man neigt dazu, die andere Seite zu entmenschlichen, deren Leid zu leugnen und Rache zu schwören. „Das Opfernarrativ spielt im Nahen Osten eine große Rolle“, weiß Tzabari. „Doch niemand will Verantwortung für seine Taten übernehmen. Aus historischen Gründen sind beide Seiten davon überzeugt, dass ihnen in der Vergangenheit Unrecht angetan wurde, und das stetige Erinnern an diese Geschichte bildet den Kern der palästinensischen und israelischen Nationalidentitäten.“

Der Kampf um die Kontrolle dieses Narrativs ist ein wesentliches Element moderner Kriegsführung, insbesondere angesichts sozialer Medien, 24-StundenNachrichten und der damit verbundenen extremen Geschwindigkeit, mit der Ereignisse auf dem Schlachtfeld einem globalen Publikum mitgeteilt werden. Der Gazakrieg, der nur die jüngste Runde generationenübergreifender Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern darstellt, bildet keine Ausnahme von dieser Regel.Tatsächlich reicht die emotionale Wirkung des Konflikts weit über die Grenzen hinaus, auf die er beschränkt ist, und hat weltweit heftige Reaktionen hervorgerufen. Daher haben die Konfliktparteien großes Interesse daran, ihre Seite im bestmöglichen Licht darzustellen, um internationale Sympathie und Unterstützung zu gewinnen.

„Das Hamas-Massaker vom 7. Oktober hat die Israelis vor allem an die Jahrhunderte des Leidens und der Unterdrückung erinnert, die das jüdische Volk erfahren hat“, erklärt Daniel Bar-Tal, emeritierter Professor der pädagogischen Fakultät an der Universität Tel Aviv. „Also von der Suche des Sündenbocks im Mittelalter und den Pogromen bis hin zum Holocaust. Seit der Staatsgründung Israels mussten sie mit unaufhörlichem Terror und Raketenbeschuss ihrer Nachbarn fertig werden. Dagegen sprechen die Palästinenser hauptsächlich über 1948 und 1967, von der Zeit der Flucht. Ihre sogenannte Vertreibung ist stets allgegenwärtig. Die Jahrzehnte des Leidens im Exil, in Flüchtlingslagern und verwahrlosten Städten haben ihre nationale Erfahrung seitdem geprägt.“

Sich fortschreibende Narrative. Der Sozialpsychologe erklärt, dass die Opferrolle aus der Perspektive beider Gesellschaften die Fortsetzung von etwas ist, das in der Vergangenheit lag. Gespräche zwischen beiden Gruppen verkommen unweigerlich zu einem Wettstreit darüber, wer mehr gelitten hat und damit die moralische Überlegenheit für sich beanspruchen kann. Auf diesem Gipfel gibt es nur Platz für einen. Alle Ansprüche der anderen Seite auf Anerkennung ihrer Nöte müssen als unrechtmäßig zurückgewiesen werden. So werden beispielsweise Plakate israelischer Geiseln von propalästinensischen Unterstützern heruntergerissen, und die Opferrolle verkommt zum Nullsummenspiel. Seiner Meinung nach kann diese Situation jedoch auch ein wünschenswerter Status sein, den Akteure anstreben, die auf der Weltbühne Unterstützung suchen. So können diese mit größeren Ressourcen, Mitgefühl und Unterstützung aller Art rechnen. Aufgrund verschiedener soziokultureller Normen und Werte, die international weit verbreitet sind, wird die Pflicht – vor allem von staatlichen Akteuren –, vermeintlichen Opfern zu helfen, allgemein als moralische Verpflichtung angesehen, sofern sie mit ihren nationalen Interessen übereinstimmen.

„Manchmal kann der Generationenwechsel
die Wahrnehmung des Opferstatus abschwächen.“
Ella Berchansky

„Die Rolle des Opfers ist erhebend“, erklärt Bar-Tal. „Sie verleiht dem Leiden Sinn und Trost und ermöglicht es den Menschen, ihre aktuellen Probleme zu rationalisieren. Sie kann sogar zu einer Quelle des Stolzes werden, zu einem einigenden Element einer Gesellschaft, aus dem die Mitglieder Inspiration schöpfen und sich von den üblichen Regeln moralischen Verhaltens befreien können.“ Der Nahostexperte weiß, dass Außenstehende oft mit den Handlungen derer sympathisieren, denen Unrecht widerfahren ist. Das ermöglicht Opfern, nach anderen Regeln zu handeln als der Rest von uns. Sie verspüren seltener das Bedürfnis, Kompromisse einzugehen, da sie bereits genug gelitten haben. Sie streben nach Gerechtigkeit, weniger nach Rache; ihre Handlungen und Exzesse sind verständlich oder sogar entschuldbar.

„Jede Gesellschaft hat ein Ethos, das sie leitet“, sagt Bar-Tal. „Sie glaubt fest an die Wahrheit und Objektivität ihrer jeweiligen Überzeugungen, betrachtet aber das Narrativ der feindlichen Gruppe als falsch oder verzerrt. Einige Völker, die seit 25 Jahren unter Konfliktbedingungen leben, haben solch eine Kultur des Denkens entwickelt. Diese umfasst mehrere Themen, die miteinander verbunden sind und zusammen eine Art Ideologie für diese Gesellschaft bilden.“

Für den Konfliktforscher sind aber auch die Medien für die Verinnerlichung bestimmter Erzählungen verantwortlich, da sie oftmals unter dem Einfluss der entsprechenden Regierung stehen. Er hebt eine Reihe von Sozialisationsfaktoren, kulturellen Produkten und gesellschaftlichen Institutionen wie Schulen hervor, die zur Verbreitung bestimmter konfliktfreundlicher Narrative und Einstellungen in der Gesellschaft beitragen. Diese können Antagonismen vermeiden, wenn sie ein funktionales psychologisches Repertoire an Überzeugungen, Einstellungen und Emotionen entwickeln.

„Jede Gesellschaft hat ein Ethos, das sie leitet.
Sie glaubt fest an die Wahrheit und Objektivität
ihrer jeweiligen
Überzeugungen.“
Daniel Bar-Tal

Die meisten Untersuchungen konzentrieren sich darauf, wie die Opfer-Täter-Dichotomie zur Unlösbarkeit des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern beiträgt, da beide Seiten nicht in der Lage sind, sich von der Politik des Unmuts zu lösen, um einen endgültigen Frieden zu erreichen. Die narrative Kriegsführung hat zu einer Art Statuswettbewerb geführt, bei dem beide Seiten darin konkurrieren, als Opfer anerkannt zu werden und ihren Gegner als Täter darzustellen.

„Mangelnde Empathie gegenüber dem Feind ist ein bekanntes Phänomen in der Geschichte von Konflikten“, meint die Psychologin Ella Berchansky aus YehudMonosson in der Nähe von Tel Aviv. „Wenn etwas so Traumatisches wie der 7. Oktober passiert, erscheint dies so monströs, dass ein allgemeines Gefühl großer Bedrohung entsteht. In einer solchen Situation geht es nur noch ums Überleben, darum, sich selbst zu retten, was eine natürliche menschliche Reaktion ist. Dabei schaut man meist auf die Menschen, die man liebt, und man hat kein Mitgefühl mehr für Fremde, die außerhalb der eigenen Familie, Gemeinschaft und des Volkes stehen.“

Zeit der Entscheidung: Vergangenheit oder Zukunft?
Die Trauma-Expertin erklärt, dass dadurch manchmal extreme Handlungen von Opfern gerechtfertigt werden, wenn man sie in den richtigen Kontext stellt. Sowohl Israelis wie auch Palästinenser fordern immer wieder, dass ihre Kriegshandlungen aus der historischen Perspektive heraus beurteilt werden. „Manchmal kann der Generationenwechsel die Wahrnehmung des Opferstatus abschwächen“, erzählt Berchansky. „Das scheint in diesem Fall aber weniger wahrscheinlich, da die jeweilige Erzählung sowohl in der israelischen als auch in der palästinensischen Bildung früh und konsequent eingeimpft wird. Der Holocaust ist in israelischen Schulen allgegenwärtig, und viele glauben, dass nur die Aufrechterhaltung der Erinnerung an den Horror eine Wiederholung verhindern kann, während palästinensische Jugendliche täglich mit der Niederlage von 1948 konfrontiert werden. Kinder auf beiden Seiten werden dazu angehalten, sich an das Unrecht zu erinnern, das ihren Eltern und Großeltern angetan wurde.“

Dieser gegenseitige Opferanspruch ist ein nahezu unüberwindbares Hindernis für den Frieden. Obwohl die jüngste Gewaltwelle im Nahen Osten aufgrund ihrer Intensität und Barbarei schockierend ist, sollte sie nicht überraschen. Die Geschichte – oder vielmehr die Art und Weise, wie die Menschen sich an ihr Narrativ erinnern – verhindert jede sinnvolle Lösung der Probleme in der Region.

„Wenn es um Kritik seitens der internationalen Gemeinschaft und Institutionen geht, ist es offenbar einfacher und sicherer, mit dem Finger auf Israel zu zeigen“, sagt Shlomo Tzabari. „Gleichzeitig hat sich die Hamas auf dem Schlachtfeld der Wahrnehmungen einen Vorteil verschafft, da sie sich nicht moralisch rechtfertigen muss. Sie kann ungestraft agieren, ohne die internationale Anerkennung ihrer Zivilisten als Leidende zu beeinträchtigen. Es spielt demnach keine große Rolle, ob ihre Mitglieder Täter sind, wenn Israel ebenfalls als solcher angesehen und die palästinensische Bevölkerung als dessen Opfer betrachtet wird.“

Der Sozialpädagoge weiß um die unzähligen antisemitischen Erzählungen über „israelischen Kolonialismus, Apartheid und Besatzung“, die verwendet werden, um das Schweigen und die Gleichgültigkeit der Welt über getötete Israelis oder die noch immer in Gaza festgehaltenen Geiseln zu rechtfertigen und Opfer und Täter gleichzusetzen. Gleichzeitig profitiert die Hamas von den zivilen Opfern in Gaza, da diese die globale Opposition gegen Israel bestärken. Die Terrororganisation nützt die sozialen Medien sehr effektiv, um dem jüdischen Staat die Schuld für den Tod ihrer Bevölkerung zu geben. Die Berichterstattung in den Mainstream-Medien und die Arbeit von NGOs, die auf die Not der Zivilisten aufmerksam machen, können in dieser Hinsicht ebenfalls genutzt werden.

„Die palästinensische Terrororganisation beging einen Völkermord und verkaufte der Welt, dass ihre Bevölkerung selbst Opfer eines Genozids sei“, erklärt Tzabari. „Wir erleben heute eine globale Intifada, die auf einer falschen Erzählung basiert und zu weltweitem Chaos geführt hat. Die Menschen in der freien Welt sind als nützliche Idioten in die Falle der Hamas getappt.“ Doch der Sozialpädagoge ist auch der Meinung, dass Israelis und Palästinenser sich irgendwann entscheiden müssen, was für sie von größerer Bedeutung ist: die Zukunft oder die Vergangenheit. „Es ist ein langer Weg, und jetzt ist noch nicht die Zeit für Deradikalisierung; doch beide Seiten müssen einsehen, dass ihre Kinder wichtiger sind als ihre Vorfahren, sonst wird das Blutbad für immer weitergehen.“

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