„Nicht wegschauen, wenn Unrecht geschieht“

Weil er meist nur 90 Sekunden Zeit hat, um seine Message zu transportieren, spricht Hillel Neuer auch ohne Zeitdruck höchst rasant. Und der UN Watchdog, Menschenrechtsexperte und bei der UNO gefürchtete Anwalt Israels hat wirklich viel zu sagen. Davon konnte man sich in Wien anlässlich eines WIZO-Charity-Abends im Rathaus überzeugen.

1769
Hillel Neuer Vor 50 Jahren in Kanada geboren, wo er auch Jus studierte, setzte Hillel Neuer seine juridische Ausbildung in Jerusalem fort, arbeitete am Höchstgericht in Israel und als internationaler Anwalt in New York, bevor er als Menschenrechtsaktivist und Executive Director von UN Watch, einer Menschenrechts-NGO, nach Genf übersiedelte. Er verfasste zahlreiche Publikationen über Internationales Recht und Menschenrechte. Bei der UNO, in zahlreichen UN-Organisationen und Medien kämpft er unermüdlich gegen die Dämonisierung und die Delegitimierung Israels an. 2018 erhielt er das Ehrendoktorat der McGill University in Montreal. © UN Watch

WINA: Die israelische Zeitung Ma’ariv zählt sie zu den „Top 100 Most Influential Jewish People in the World“. Wie fühlt man sich in dieser Gesellschaft?
Hillel Neuer: Das ist schmeichelhaft, aber auch eine Verantwortung, denn wenn man Einfluss ausüben kann, ist das eine Verpflichtung dem jüdischen Volk gegenüber. Ich betrachte es als eine hohe Latte, die man mit seiner Arbeit ständig zu erreichen versuchen muss.

Weshalb haben Sie sich entschlossen, Menschenrechtsaktivist zu werden, wo Sie doch bereits als Rechtsanwalt in Amerika erfolgreich waren?
❙ Ich bin noch immer Rechtsanwalt, und auch, als ich in New York als Anwalt tätig war, übernahm ich einige Menschenrechtsfälle. Ich hatte bei meiner Ausbildung an der McGill University das Privileg, einen der prominentesten Menschenrechtsjuristen, Professor Irvin Cotler, als Lehrer zu haben. Er fragte uns Studenten einmal: Was würden Sie als Direktor einer Menschenrechts-NGO tun? Damals dachte ich noch nicht im Entferntesten an eine solche Position, doch zehn Jahre später war ich der Direktor einer Menschenrechtsorganisation. Also bin ich überzeugt, dass dieser Professor Einfluss auf mich hatte. Persönlich finde ich es sehr erfüllend, wenn wir Opfern politischer Verfolgung, Inhaftierten aus Kuba, Venezuela, Pakistan oder Simbabwe eine Plattform geben können, die sie nie hatten. Wenn man dann Anerkennung für die Arbeit erfährt, gibt es einem Kraft, sich weiter für Verfolgte einzusetzen. Obwohl der Preis manchmal hoch ist, weil die ärgsten Diktaturen, wie etwa China, einen auch bedrohen und bekämpfen, aber wenn man sich nicht für die Opfer dieser Diktaturen einsetzt, braucht man diesen Job gar nicht zu machen.

Sie setzen sich nicht nur für Individuen ein, sondern bekämpfen als Executive Director der Menschenrechtsorganisation UN Watch besonders auch die Dämonisierung und Delegitimierung Israels durch den UN-Menschenrechtsrat. Ich nehme an, Sie tun das vor allem als Jude. Kommen Sie aus einer religiösen oder eher säkularen Familie?
❙ Ich bin in einer sehr bewusst jüdischen, jüdisch-idealistischen Familie aufgewachsen, und das reicht Generationen zurück. Meine Großeltern stammen aus der ehemaligen Monarchie außerhalb Lembergs und waren bereits in den 30er-Jahren in einer Vororganisation der Bnei Akiva engagiert, meine Eltern trafen sich in einem Bnei-Akiva-Lager. Auch ich war in der jüdischen Community sehr aktiv. Ich erinnere mich, wie ich als Kind im Winter frierend in Montreal vor dem Sowjetischen Konsulat für den Dissidenten Natan Sharanski demonstrierte.

»Juden haben sich immer in überproportional großer Zahl aktiv für Gerechtigkeit engagiert.«

 

Glauben Sie, dass sich Juden generell stärker für Gerechtigkeit und Menschenrechte einsetzen?
❙ Ja, es ist eine historische Tatsache, dass sich Juden immer schon in überproportional großer Zahl aktiv für Gerechtigkeit engagiert haben. Das kommt aus der Ethik der Tora, die uns lehrt: Erinnert euch, wie ihr Sklaven in Ägypten wart, und behandelt den Fremden unter euch gut. Ideen der Gerechtigkeit gehören zum Judentum ebenso wie das Rechtssystem, das es verbietet, den Fremden zu unterdrücken, und gebietet, Witwen und Waisen zu unterstützen. Das sind grundlegende soziale Ideen des Judentums, die auch säkulare Juden teilen. Ein andere Botschaft des Judentums ist es, nicht wegzuschauen und nicht gleichgültig zu sein, wenn Unrecht geschieht. Ich denke, das hat mich auch geformt.

Hillel Neuer. „Juden wurden immer als die Feinde dessen gesehen, was gerade als das Gute galt.“© UN Watch

Wir haben in Ihrem Vortrag viel vom „Double Standard“ und der Dämonisierung Israels in der Internationalen Gemeinschaft und den Medien gehört. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verschärft. Haben Sie persönlich eine Erklärung dafür?
❙ Ja, es kommt darauf an, wie man Geschichte betrachtet. Entweder aus der Nähe mit dem Vergrößerungsglas oder aus größerer Entfernung. Im näheren Fokus gesehen, waren die frühen 60er-Jahre, als man etwa den berühmten Film Exodus sah, der Höhepunkt der Phase, in der Israelis als Helden betrachtet wurden. Heute ist das Gegenteil der Fall. Israel wird von der UN als verbrecherischer Staat gesehen, und dafür ist auch viel an Realpolitik verantwortlich. Der arabische Ölreichtum und das Ölembargo wurden wirksam. Die arabischen Staaten, die Israel nicht am Schlachtfeld besiegen konnten, begannen den Staat zunehmend diplomatisch auf der internationalen Bühne zu schwächen und zu isolieren, es gab die Angst vor dem Terrorismus, wenn man Israel unterstützt; all das ist Realpolitik, die man rational nachvollziehen kann. Doch gibt es meiner Meinung nach noch andere Gründe. Denn aus der weiteren Perspektive von 1.000 Jahren war es eher die Regel als die Ausnahme, dass Juden dämonisiert, isoliert und für alle möglichen Übel der Welt beschuldigt wurden. Von 1948 bis 1967, also nur 19 Jahre lang, gab es eine historische Ausnahme, da waren die Antisemiten wegen Hitler noch etwas verlegen, und es gab diese neue Idee von Israel und der Kibbuz-Bewegung. Jetzt ist Israel quasi der Jude, der diffamiert wird. Juden wurden immer als die Feinde dessen gesehen, was gerade als das Gute galt. Im Christentum waren die Juden Gottesmörder, im Kommunismus Kapitalisten, im Kapitalismus Kommunisten, in der Rassentheorie waren die Juden die minderwertige Rasse. Heute sind Menschenrechte, internationales Recht und Antirassismus modern, und die Juden werden in der UN als die größten Verletzer dieser Rechte gesehen und Israel als einziger rassistischer Staat. Das ist eine schreckliche Geschichte der Dämonisierung, und deshalb fordere ich unsere Freunde in diesen Bereichen auf, aufzuwachen und zu sehen, dass die gebrauchte Sprachregelung korrekt und gut erscheinen mag, die Motive dahinter aber sehr verschieden davon sind.

»Menschen, die Israel hassen, tun dies,
egal,
welche Regierung es hat.«

Ist es aus dieser Perspektive nicht sehr demotivierend, für etwa zu kämpfen, das so deprimierende Aussichten hat? Einer gegen die Mehrheit?
❙ Juden waren immer einer gegen die Mehrheit. Aber wenn es eine Mission gibt, so ist es die, gegen Ungerechtigkeit und für menschliche Würde zu kämpfen. Wir können das Schlachtfeld nicht verlassen, sondern müssen bleiben und das Wort ergreifen. Ich treffe aber immer wieder auf großartige, mutige Verbündete, sowohl in der Menschenrechtsarbeit wie auch in der Arbeit für Israel, die begreifen, dass das, was gegen die Juden beginnt, dieser irrationale Wahn, nicht bei den Juden aufhört, sondern die ganze Gesellschaft vergiftet. Wir brauchen heute generell etwas mehr Rationalität. Ein Beispiel: Von 2006 bis 2016 gab es beim Menschenrechtsrat in Genf bei all den 192 Staaten außer Israel 67 Resolutionen der Menschenrechtsverletzung. Israel wurde als einzelner Staat in 68 Resolutionen verurteilt! Das heißt, es gab mehr Resolutionen gegen Israel allein als gegen Iran, Syrien, Nordkorea und alle anderen Staaten der Welt zusammen. Das ist eine irrationale Besessenheit, und ich würde sagen, pathologisch.

Sie haben in Ihrem Vortrag auch von einem Licht der Wahrheit gesprochen. Wo sehen Sie dieses, sind Sie da noch optimistisch?
❙ Es ist unsere Aufgabe, dieses Licht zu entzünden. Wenn wir etwas aufdecken und einige der schrecklichen Dinge zur Sprache bringen, entzünden wir dieses Licht und verbreiten die Wahrheit auch in den Medien. Ich bin realistisch, aber wir haben eine Vision und glauben noch immer, dass Veränderung möglich ist. Wir haben zum Beispiel erlebt, wie Südafrika, ein rassistischer Staat, Nelson Mandela zum Präsidenten gewählt hat, Václav Havel war eingesperrt und wurde dann Präsident. Was das jüdische Volk betrifft, sind alle Probleme, die wir heute haben, nichts im Vergleich zu dem, was die Generation meiner Großeltern durchmachte. Wir haben erlebt, dass wir einen starken, stolzen, freien Staat Israel haben und was er erreicht hat, obwohl noch vieles verbessert werden muss. Juden waren im Laufe der Geschichte nie besser dran als heute, trotz all der Probleme.

Wird es in Ihrer Arbeit schwieriger, für Israel einzutreten?
❙ Es wird schwieriger, weil die allgemeine Haltung Israel gegenüber schwieriger wird. In den 60er-Jahren war Israel in Amerika und in Teilen von Europa populärer, nach dem Sechs-Tage-Krieg wechselte das Paradigma und Israel wurde alles, was Europa nicht wollte: Besetzer, Imperialist, Rassist, Menschenrechtsverletzer. Und das verbreitete sich in Europa schnell. Die Hasser Israels werden aggressiver, aber auch Israel, die Regierung Netanjahu, entfernte sich in vielen Dingen von liberalen, demokratischen Werten. Die Sprache, die jetzt in Israel unter Netanjahu verwendet wird, macht unseren Job auch nicht leichter. Obwohl ich nicht glaube, dass das letztlich signifikant ist, denn sogar unter Shimon Peres und als sich Israel aus Gaza zurückzog, gab es UN-Verurteilungen. Ich denke, auch unter einer linken Regierung würden die Probleme nicht verschwinden. Menschen, die Israel hassen, tun dies, egal, welche Regierung es hat.


Viele interessante Interviews und Gespräche auch in Zukunft auf den Seiten von wina – Das Jüdische Stadtmagazin lesen. Jetzt ganz einfach Abo bestellen, oder verschenken über unserem Webshop!

1 KOMMENTAR

  1. „Glauben Sie, dass sich Juden generell stärker für Gerechtigkeit und Menschenrechte einsetzen?
    ❙ Ja, es ist eine historische Tatsache, dass sich Juden immer schon in überproportional großer Zahl aktiv für Gerechtigkeit engagiert haben… Ein andere Botschaft des Judentums ist es, nicht wegzuschauen und nicht gleichgültig zu sein, wenn Unrecht geschieht. Ich denke, das hat mich auch geformt.“
    War der Mann schon mal in Israel und in den besetzten Gebieten?

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here