Noch keine Antwort auf die neuen Herausforderungen

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka spricht über die alten und neuen Formen des Judenhasses, seine Zielsetzungen für den Kampf dagegen und seine persönlichen Erfahrungen mit Marta S. Halpert.

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© Reinhard Engel

Wina: Sie haben als Parlamentspräsident eine Studie zum Thema „Antisemitismus 2018“ in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse jetzt vorliegen. Was war Ihr Beweggrund? Gab es dafür einen aktuellen Anlass?
Wolfgang Sobotka: Ein Grund war sicher die Diskussion über den Anstieg des gesamteuropäischen Antisemitismus und das Faktum, dass Österreich auch keine Insel der Seligen ist. Daher mussten wir uns fragen: Was ist los in Europa und auch bei uns? Nachdenklich stimmte mich das Gespräch mit einem von der IKG eingeladenen Rabbiner, der mir erzählte, dass es in Paris fünf Minuten dauert, bis er auf der Straße persönlich angepöbelt wird, in Berlin etwa 30 Minuten, aber in Wien wäre ihm das in den letzten 25 Jahren nicht passiert.
Der zweite Grund basierte auf der Sorge, dass wir einerseits den eigenen traditionellen Antisemitismus haben und andererseits – laut Behauptungen – jetzt dieser neue furchtbare Antisemitismus noch dazu käme. Wie es zum Beispiel Arik Brauer formulierte: „Die alten Nazis sind’s net, aber es sind die Neuen, die da kommen.“ Ich wollte mich nicht auf Meinungen beschränken, sondern an Fakten festmachen, welche Maßnahmen man setzen muss. Es ging nicht darum, Schuldige und Sündenböcke auszumachen, sondern sehr nüchtern die gesellschaftliche Situation zu analysieren. Vor allem sich nicht wegzuducken und zu sagen, „das gibt es alles nicht.“ Deshalb habe ich ein Ins­titut beauftragt, diese Aufgabe zu übernehmen.

Der Sukkus der Befragung von rund 2.700 Österreicherinnen und Österreichern ergab, dass zehn Prozent manifeste und dreißig Prozent latente antijüdische Vorurteile haben. Die Studienleiterin, Dr. Eva Zeglovits, war überrascht, dass die Befragten sich im persönlichen, also Face-to-face-Interview genau so offen zu antisemitischen Stereotypen äußerten wie online und telefonisch. Das war vor einigen Jahren noch nicht der Fall. Ist der Antisemitismus wieder salonfähig geworden, in der Mitte der Gesellschaft angekommen?
❙ Nein, denn das Positive ist – unter Anführungszeichen –, dass der traditionelle Antisemitismus im Laufe der letzten 30 bis 40 Jahre doch weniger geworden ist. Bei den Hardcorefragen, wie der Leugnung des Holocausts oder der Behauptung, die Juden seien selbst schuld an ihrem Schicksal, zeigt sich deutlich eine Reduktion. Ein positives Signal, wieder in Anführungsstrichen, ist, dass das Verständnis unter den Österreichern zugenommen hat in Hinblick darauf, dass wir aus der historischen Vergangenheit eine Verantwortung gegenüber den Juden haben. Das kann uns Res­pekt abverlangen, dass unsere Bildungsarbeit, die in den Schulen geleistet wird, doch Früchte trägt. Auch die Besuche im ehemaligen KZ Mauthausen bewirken viel: Ich habe als Lehrer selbst Dutzende Schüler durch Mauthausen geführt und bin überzeugt, dass das etwas bringt. Zu glauben, dass jemand dort freiwillig hingeht, ist naiv.

Diese so genannten „positiven“ Aspekte beziehen sich aber nur auf die 2.100 befragten Österreicher?
❙ Ja, wir wissen mittlerweile, wie wir in Österreich mit den „alten Antisemiten“ umgehen sollen, aber auf diese neue Herausforderung haben wir noch keine Antwort. Deshalb ist die Studie wichtig, um zu sehen, welche Maßnahmen wir setzen müssen. Denn was das erste Mal negativ auffällt, ist, dass bei jenen 600 Personen, die zu Hause türkisch oder arabisch sprechen, der Antisemitismus um ein Vielfaches höher ist. Das ist sowohl ihrer antiisraelischen Haltung geschuldet wie auch der ethnischen und gesellschaftlich-patriarchalischen Struktur, aus der sie kommen.
Wie wichtig die Beschäftigung mit dem Phänomen des Antisemitismus ist, hat die Historikern Deborah Lipstadt treffend definiert: Antisemitisch zu sein, bedeutet gleichzeitig, rassistisch, fremdenfeindlich, antiislamisch und demokratiegefährdend zu sein. Da ist auch der Ruf nach dem starken Mann impliziert. Daher ist für uns der Antisemitismus ein wesentlicher Anzeiger, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt.

Wolfgang Sobotka im Gespräch mit WINA-Redakteurin Marta S. Halpert. © Reinhard Engel

Zwei Wochen vor der Präsentation dieser Studie eröffneten Sie eine russische Wanderausstellung zum Thema „Holocaust: Vernichtung, Befreiung, Rettung“. Damals sickerten vor allem Details über die hohe Judenfeindlichkeit unter türkisch- und arabischsprechenden Personen durch.
Der so genannte Spin ging somit eindeutig in Richtung „importierter Judenhass“. In der Studie wurden aber nicht Geflüchtete aus dem Jahr 2015 befragt, sondern 600 Menschen, die hier geboren wurden oder mindestens zehn Jahre bereits in Österreich leben. Diese Erhebung wird von den Studienleitern als nicht repräsentativ, aber doch aussagekräftig bezeichnet. Hat die Integration komplett versagt?
❙ Nein, ich glaube, wir haben diese Herausforderung nicht ausreichend wahrgenommen, da es sich hier um eine permanente Herausforderung handelt, die wir erst in den letzten Jahren angenommen haben. Es bleibt die Frage offen, wie wir auf diese Personen einwirken können, damit sie an ihrem eigenen Geschichtsbild arbeiten. Wir sehen in europäischen Städten, wie gefährlich Parallelgesellschaften werden können. Zum Glück ist unsere jüdische Gemeinde durch Polizei und andere Sicherheitsmaßnahmen gut geschützt, sodass wir keine Tendenz merken, dass Juden – wie in Frankreich – auswandern wollen.

»Der Antisemitismus ist ein Anzeiger,
in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt.« 
Wolfgang Sobotka

Die erhobenen Prozente sind bei den 2.100 autochthonen Österreichern noch immer erschreckend hoch. Sollte man dieser Mehrheit nicht genauso viel Aufmerksamkeit widmen?
❙ Ja, da braucht es eine klare Haltung, auf allen gesellschaftlichen Ebenen offen dagegen aufzutreten, in den Schulen und am Arbeitsplatz. Da reicht es nicht, nur Gerichte arbeiten zu lassen. Man muss auch das Bild Israels als einzige Demokratie im Nahen Osten zurechtrücken. Da hat die Regierung auch schon einiges getan. Ich selbst habe in Israel auf parlamentarischer Ebene versucht, einen Beitrag zu leisten, der in dieser Situation unerlässlich und notwendig ist. Der Antisemitismus hat im Zweiten Weltkrieg das größte Verbrechen an der Menschheit verursacht und den Geist ruiniert. Daher müssen wir die Menschen in die Verantwortung zurückholen, das ist ein ganz wesentlicher Reinigungsprozess. Daher haben wir einen Simon-Wiesenthal-Preis ausgelobt, einen Preis für zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus. Denn diese Aufgabe kann man weder dem Parlament noch dem Gesetz überantworten. Das braucht einen breiten gesellschaftlichen Grundkonsens.

Die positiven Ergebnisse der Studie, dass jüngere und gebildetere Menschen weniger Ressentiments gegen Juden haben, quittierten Sie mit dem Ausspruch: „Bildung wirkt.“ Sind gebildetere Schichten nicht auch fähiger, ihre Antworten dem „sozial Erwünschten“ anzupassen?
❙ Den latenten Bodensatz an Antisemitismus werden wir wahrscheinlich nicht wegbringen. Aber wir brauchen innerhalb von zwei Jahre die Sicherheit, dass wir der Orgie der Gewalt im Netz, diese Hasspostings unterbinden können.
Denn diese Anonymität im Netz unterstützt auch die alten Nazis, indem sie sich denken: „Dann kann ich das auch!“ Aber jene, die noch nicht radikal sind, müssen wir überzeugen.

Sie haben gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit und vor allem im Gedenkjahr 2018 viele Initiativen und Schwerpunkte gesetzt, um die Auseinandersetzung Österreichs mit seiner Geschichte zu befeuern. Sie wollten das Kapitel Schoah nicht mit der „ins­titutionellen“ Gedenkroutine abschließen. Haben Sie persönliche Gründe für Ihre Haltung, hatten Sie spezifische Erfahrungen oder fühlen Sie sich als Historiker in der Verantwortung?
❙ Da gibt es mehrere Zugänge: Kurt Tutter, der seit 20 Jahren mit seinem Wunsch durch das Land zieht, den ermordeten österreichischen Juden ein Mahnmal zu setzen, ist mir sehr ans Herz gewachsen. Er will diesen Menschen ihre Namen zurückgeben, weil sie als Nummern entmenscht wurden.
Sie wissen, dass mein eigener Großvater Nationalsozialist war, er ist 1943 gestorben und hat sich meines Wissens persönlich nichts zuschulden kommen lassen. Trotzdem habe ich mich immer wieder gefragt, wie jemand, der Goethe und Schiller liest, ein Nazi werden kann. Ich bin in meiner Schulzeit auch immer wieder als „Nazibua“ tituliert worden – das hat mich sehr mitgenommen. Ich habe später auch im DÖW gearbeitet, denn dieses Thema ist mir ein persönliches Anliegen, eine Reinigung meiner Familie.
Schlussendlich ist es ein persönliches Bekenntnis geworden: Ich habe Menschen angezeigt, die sich öffentlich antisemitisch geäußert haben, und mir dafür dementsprechende Anfeindungen eingehandelt. Das hat weniger mit meiner politischen Haltung als mit meiner persönlichen Einstellung zu tun. Denn als Politiker hat man das einfach zu tun, da ist es eine Verpflichtung, aber persönlich ist es eine Haltung.

»Selbstverständlich übergebe ich die Studie
dem FPÖ-Klubobmann persönlich.«
Wolfgang Sobotka

Die erste Gedenkveranstaltung des Parlaments, kurz nach Bildung der türkis-blauen Koalition, fand noch ohne IKG-Präsident Oskar Deutsch statt. Sie haben damals sowohl Verständnis wie auch Respekt für die Beschlüsse der IKG gezeigt. Wie würden Sie heute Ihr Verhältnis zur jüdischen Community beschreiben?
❙ Genau so wie damals. Ich habe ja mit vielen Mitgliedern der Kultusgemeinde Kontakt, egal in welcher Fraktion sie sich bewegen. Ich mische mich in Interna nicht ein. Es ist eine gute Tradition, dass man mit den gewählten Vertretern den engsten Kontakt pflegt. Mein Verhältnis ist ein sehr gutes und offenes. Ich kann auch verstehen, wie sie agieren und welche Sorgen sie haben.

Was geschieht jetzt mit dem besorgniserregenden Resultat der Studie?
❙ Einerseits werden wir in unserer Demokratiewerkstatt gezielte Programmmodule einführen. Ich übergebe sowohl dem Bundespräsidenten wie auch allen Ministerien ein Belegexemplar. Das mache ich persönlich und ersuche sie, für ihre Bereiche zu überlegen, welche Maßnahmen sie treffen wollen.
Und ich bleibe dabei, dass es wichtig ist, die Führungen im KZ Mauthausen zu machen, denn wenn man das gut macht, kann man auch eine Haltungsveränderung bewirken – und das muss unsere Zielsetzung sein.

Bekommt die FPÖ auch eine Kopie der Studie? Wird die ÖVP ihren Koalitionspartner auf Grund dieser Erkenntnisse in die Pflicht nehmen?
❙ Selbstverständlich übergebe ich es dem FPÖ-Klubobmann persönlich. Ich bin nicht der Kontrollor der einzelnen Gruppierungen. Die Parteien sind selbst verantwortlich, ihre Möglichkeiten zu prüfen. Aber es muss klar sein: Der Kampf gegen den Antisemitismus ist nicht das Anliegen der Israelitischen Kultusgemeinde oder von ein paar Engagierten, das muss ein gesamtpolitisches Anliegen aller Österreicher und Österreicherinnen im Land sein.

Sie haben den Antisemitismus auch als „gesamteuropäische Herausforderung“ bezeichnet, vor allem in Hinblick auf den Anstieg der judenfeindlichen Vorfälle in ganz Europa. Erwarten Sie bei den EU-Wahlen das Erstarken der rechten Parteien? Auch im Hinblick darauf, dass – siehe Orbáns Fidesz-Partei – solche bereits die EVP vor sich hertreiben?
❙ Laut den Prognosen sieht es so aus, dass jene Parteien stärker werden, die sich eher an nationalen Diskursen beteiligen. In der EVP selbst darf es weder Antisemitismus noch Toleranz dafür geben. Aber wenn man gegen illegale Migration ist, ist man noch nicht automatisch ein Antisemit. Im DÖW war ich immer ein Außenseiter, weil die Losung lautete: Ein Antifaschist darf nur ein Sozialdemokrat sein. Niemand hat eine Pacht darauf: Die persönliche Haltung ist ausschlaggebend. Mir wäre es am liebsten, niemand würde daraus politisches Kapital schlagen.


Wolfgang Sobotka,
geboren 1956 in Waidhofen an der Ybbs, schloss sein Studium der Geschichte an der Universität Wien (Mag. phil.) ab. Er absovierte Studien an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst (Violoncello und Musikpädagogik) sowie Dirigieren am Bruckner-Konservatorium in Linz und unterrichtete sowohl an der AHS in Waidhofen wie auch an der Musikuniversität Wien. Wolfgang Sobotka war in zahlreichen politischen Funktionen aktiv, zuletzt von April 2016 bis Ende 2017 Bundesminister für Inneres. Im Dezember 2017 wurde er zum Präsidenten des Nationalrates gewählt.

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