Normalität herstellen

Die Antisemitismusbeauftragte der EU, Katharina von Schnurbein, sieht europaweit eine große Dunkelziffer, wenn es um die Dokumentation von antisemitischen Vorfällen geht. Wichtig ist es, in allen Mitgliedsstaaten ein Bewusstsein für die Erfassung von Antisemitismus zu erreichen, sagte sie am Rand der Konferenz An End to Antisemitism! im Gespräch mit WINA.

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Katharina von Schnurbein zum Imperativ „An End to Antisemitism!“: Wenn man nicht das Maximum anstrebt, wird man auch das Minimum nicht erreichen. © Gerhard Deutsch/picturedesk.com

Interview mit Katharina von Schnurbein

WINA: Der Antisemitismus steigt, heißt es, quer durch Europa. Es gibt aber keine offizielle Statistik. Gibt es tatsächlich einen Anstieg oder nur mehr mediale Aufmerksamkeit?
Katharina von Schnurbein: Es gibt Daten in verschiedenen Ländern, insbesondere dort, wo es eine Meldestelle gibt, die Daten erhebt und dann mit der Gemeinde und der Polizei zusammenarbeitet. Die Daten zeigen dort, wo das kontinuierlich gemacht wurde, wie in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Österreich, dass nicht nur die Straftaten zunehmen, sondern eben auch der alltägliche Antisemitismus.

NGOs sammeln meist die Daten gemeldeter Vorfälle, das erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Ja, es gibt natürlich eine große Dunkelziffer. Das merken wir auch in Gesprächen mit Vertretern jüdischer Gemeinden. Insbesondere in Westeuropa haben diese täglichen Überlegungen, steige ich jetzt bei der Metrostation aus oder nehme ich die nächste, ziehe ich eine Kappe über die Kippa oder nicht, zugenommen. In manchen osteuropäischen Ländern wiederum ist die direkte Bedrohung im Alltag weniger fühlbar, den alten Antisemitismus gibt es aber sehr stark. Wenn die jüdische Gemeinde etwas will und sie geht zu einer offiziellen Stelle, dann hört sie, macht es selber, ihr habt doch Geld.

Um handeln zu können, ist es immer gut zu wissen, womit man es konkret zu tun hat. Ist eine europaweite offizielle Erfassung von Antisemitismus abseits der heutigen NGO-Arbeit angedacht?
Ich würde die Arbeit der Meldestellen nicht unterschätzen. Die Arbeit, die sie machen, ist sehr wichtig, insbesondere weil sie abgeglichen wird mit der Polizei. Ansonsten: Auf europäischer Ebene gibt es eine Gruppe unter der Leitung der Grundrechteagentur hier in Wien zur besseren Erfassung von Straftaten. Selbst das ist in Europa im Moment noch nicht vergleichbar. Es gibt jedes Jahr auch einen Bericht der FRA (Grundrechteagentur, Anm.), und da haben letztes Jahr wieder neun Staaten im Bereich Antisemitismus null Vorfälle gemeldet. Was auch etwas aussagt.

„Die Straftaten sind nur die Spitze des Eisbergs.
Mir geht es auch um das tägliche Wahrnehmen
von Antisemitismus.“
Katharina v. Schnurbein

Welche Staaten waren das?
Bulgarien, Zypern, Estland, Ungarn, Litauen, Luxemburg, Malta, Portugal, Slowenien. In manchen Ländern mag es tatsächlich keine antisemitischen Vorfälle geben, weil die jüdische Gemeinde so klein ist, aber bei anderen kann man sich nur wünschen, dass dem so wäre. Glauben kann man es nicht. Die Datenerhebung ist für mich einer der besten Gradmesser dafür, dass eine Regierung erkannt hat, wir müssen etwas machen. Denn natürlich gehen, wenn man anfängt, das gut zu messen, erstmal die Zahlen hoch. Und wenn sie hochgehen, dann muss man auch daran arbeiten. Ich habe oft von den Gemeinden gehört, dass sie sich alleine gelassen fühlen. Und daher denke ich, zur Datenerfassung gehört auch anzuerkennen, was antisemitisch sein kann. Da ist die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance, die auch von Österreich angenommen wurde, ganz hilfreich, um zu sehen, wie sich Antisemitismus heute äußert. Antisemitismus ist eben nicht mehr in erster Linie nur mehr rassistisch oder religiös, sondern wir haben Antizionismus, wir haben muslimischen Antisemitismus, und das alles kann sich dann auch irgendwie vermengen.

Wenn man sich Europa ansieht, gibt es unterschiedliche Problemlagen. In Frankreich wurden Jüdinnen und Juden in den vergangenen Jahren ermordet, wie beim Anschlag auf eine Schule in Toulouse oder auf einen koscheren Supermarkt. Aus England gibt es immer wieder Berichte, dass orthodoxe Juden auf der Straße bespuckt und beschimpft werden. In Deutschland und Österreich scheint dagegen wieder der Antisemitismus von Vertretern rechter Parteien zu blühen, der sich in sozialen Medien rasch verbreitet. Gleichzeitig wird ein Ansteigen von muslimischem Antisemitismus beklagt, der durch Flüchtlinge importiert worden sei, was sich aber mehr auf die Einstellung mancher bezieht und weniger auf konkrete Übergriffe. Ein Problem – viele Ausformungen. Wie können Sie als Antisemitismusbeauftragte Gegenkonzepte finden, die auf die gesamte EU passen?
Es ist ein weites Feld. Grundsätzlich muss man sagen: Es gibt ja eine europäische Rechtsgrundlage. Die Rahmenrichtlinie zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit von 2008 legt verschiedene Sachen fest, die sehr hilfreich sind für die verschiedenen Länder und auch für die verschiedenen Formen von Rassismus oder Straftaten. Sie müsste anständig angewendet werden. Holocaustleugnung oder -trivialisierung ist zum Beispiel europaweit verboten. Es geht aber nur um die Straftaten, diese sind nur die Spitze des Eisbergs. Mir geht es auch um das tägliche Wahrnehmen von Antisemitismus. Auf europäischer Ebene haben wir in Bezug auf die Hassrede online den Code of conduct (ein Verhaltenskodex, der von der EU-Kommission mit Facebook, Twitter, YouTube und Mic­rosoft verhandelt wurde und der vorsieht, dass Anträge auf Entfernung illegaler Hasskommentare in weniger als 24 Stunden geprüft werden, Anm.), und wir sehen da wirklich guten Fortschritt, zumindest was die gemeldeten Einträge anbelangt.

Zum Thema Flüchtlinge: Zum einen muss man vorsichtig sein, bisher haben wir keine Daten, dass hier konkrete Vorfälle verursacht werden. Wovon man ausgehen kann, und das haben auch schon Studien gezeigt, ist, dass antisemitische Ressentiments unter Geflüchteten höher sind, auch deshalb, weil sie aus Ländern kommen, in denen Hass gegen Juden und gegen Israel einfach zum öffentlichen Diskurs gehört. Wir haben aber auch Migranten, die schon länger hier sind, die in ihrem Milieu immer noch antisemitische Ressentiments haben, die höher sind als in der Gesamtgesellschaft. Und ich glaube, wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir nicht anerkennen, dass das so ist. Denn indem wir das anerkennen, helfen wir denen, die eine unglaubliche Arbeit tun – auch Muslime in der muslimischen Gemeinschaft –, um diese Vorurteile anzupacken.
Aus meiner Sicht ganz wichtig ist aber der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft. Da gibt es das Beispiel des Jungen in einer deutschen Schule, der von seinen Mitschülern drangsaliert wurde. Als die Eltern zur Schule gegangen sind, haben die Lehrer mit Verweis auf den Konflikt im Nahen Osten schulterzuckend festgestellt, dass es kein Wunder ist, dass er sich hier widerspiegelt. Und da muss man sagen, diese Art von nicht wahrgenommenem Antisemitismus ist, finde ich, sehr schwierig. Und wenn Israel mit hineinkommt, wird es noch komplizierter. Kein Konflikt irgendwo in der Welt rechtfertigt Gewalt in Europa.

Dann wiederum gibt es Regierungen wie in Ungarn und Polen, die Entscheidungen treffen (die Anti-Soros-Kampagne; das jüngste Gesetz, das unter Strafe stellt, zum Beispiel Auschwitz als polnisches Lager zu bezeichnen), die antisemitisch interpretiert werden können. Wie sind solche Entscheidungen mit den Werten der EU vereinbar?
Ich glaube, dass die Frage vielleicht eine andere ist, und zwar, wie man Opferrollen wahrnimmt. Da gibt es eben die Wahrnehmung, dass die Empathie für Opfer begrenzt ist. Zu den konkreten Maßnahmen in Polen muss man aber sagen, die Interpretation der Geschichte muss man den Historikern überlassen. Und jedes Land ist dafür verantwortlich sicherzustellen, dass seine Gesetze mit der Meinungsfreiheit vereinbar sind.

Trotzdem machen solche Gesetze etwas mit Menschen, gerade auch in jüdischen Gemeinden. Aus Polen hört man, dass sich Juden bis heute oft nicht nach außen als Juden zu erkennen geben. Führt so ein Gesetz zu noch mehr Druck, sich nicht zu seinem Judentum zu bekennen? Daher nochmals die Frage: Ist das mit den Werten der EU vereinbar?
Antisemitismus muss immer bekämpft werden, das ist ein Grundwert der EU. Wir sind in Kontakt mit den jüdischen Gemeinden in Polen, und das ist sicher etwas, was ich auch in die Kommission hineintrage. Die Werte der EU drücken sich auch dadurch aus, dass man diese Dinge ansprechen kann, aber man spricht sie nicht unbedingt sofort über die Medien an, sondern in direkten Gesprächen. Die Kommission verschließt die Augen davor nicht, aber es ist eine sehr komplexe Angelegenheit.

„Das Ziel muss es sein, Antisemitismus zu beenden
und eine Normalität herzustellen für die Juden in Europa, indem sie sich entscheiden können – will ich mein Kind auf eine öffentliche Schule schicken oder auf eine jüdische, will ich eine Mesusa an der Tür haben oder nicht.“

 

In Wien tagte vor Kurzem die Konferenz An End to Antisemitism!. Ist das möglich oder eine Utopie?
Ich glaube, ich habe selten eine Konferenz erlebt, bei der so viel über den Titel der Konferenz diskutiert wurde, und das ist ja schon mal ein gutes Zeichen. Wir wissen natürlich, dass 3.000 Jahre Antisemitismus nicht durch eine Konferenz beendet werden. Ich glaube, da ist niemand, der so naiv wäre, das zu glauben. Aber wenn man nicht das Maximum anstrebt, wird man auch das Minimum nicht erreichen. Das Ziel muss es sein, Antisemitismus zu beenden und eine Normalität herzustellen für die Juden in Europa, indem sie sich entscheiden können – will ich mein Kind auf eine öffentliche Schule schicken oder auf eine jüdische, will ich eine Mesusa an der Tür haben oder nicht, will ich eine Kippa tragen oder nicht, und welche Metrostation ich nehme, darüber brauche ich nicht nachzudenken, sondern ich entscheide danach, welche näher ist. Und diese Normalität muss man immer im Kopf haben, wenn es darum geht, wo wir eigentlich hin wollen.

Immer wieder wird von Vorsitzenden jüdischer Gemeinden betont, viele Jüdinnen und Juden denken daran, angesichts der jetzigen Situation Europa zu verlassen. Was bedeutet das für die EU?
Europa ohne Juden ist kein Europa. Wir wollen auch Antwort auf diese Frage haben und machen jetzt mit der FRA zusammen 2018 die zweite repräsentative Umfrage zur Wahrnehmung von Antisemitismus unter Juden. Den ersten Bericht gab es 2012/13. Wir stellen dabei unter anderem die Frage, „Haben Sie im letzten Jahr darüber nachgedacht zu emigrieren?“, in dem Bewusstsein, dass allein schon die Überlegung, dass jemand auf gepackten Koffern sitzt, eine Tragödie ist und davon zeugt, dass etwas mit der Gesamtgesellschaft nicht stimmt. Und dass man da etwas machen muss.

Welche Gegenstrategien haben Sie hier?
Der Bericht soll dazu dienen, mehr policy, mehr Druck, mehr Initiativen zu lancieren.

Wann werden die Daten vorliegen?
Im Dezember 2018. Zum ersten Mal werden dies auch vergleichbare Daten sein, weil es die zweite solche Umfrage ist. Wichtig ist, dass sich die Mitglieder der jüdischen Gemeinden bei der Befragung auch zahlreich beteiligen.


503 antisemitische Vorfälle

Das Forum gegen Antisemitismus (FGA) verzeichnet von 2016 auf 2017 erneut einen leichten Anstieg von Meldungen über antisemitische Beschimpfungen, Vandalenakte sowie Übergriffe. Mit 503 dokumentierten Fällen verzeichne man ein „Allzeithoch“, so Amber Weinber. 2016 waren 477 Meldungen eingegangen.

Tötet die Juden“-Rufe bei einer Demonstration, einschlägige Postings in sozialen Medien, Hakenkreuzbeschmierungen oder Beschimpfungen von Juden auf der Straße: Antisemitismus zeigt sich in vielen Facetten. Das Gros der Meldungen bezieht sich auf Judenfeindliches im Internet sowie Briefe und Anrufe. Tätliche Angriffe wurden im Vorjahr fünf gemeldet (gegenüber sieben 2016). Wie Weinber betonte, nehme allerdings die „Enthemmung von Tätern“ zu: Immer öfter erfolgen Beschimpfungen von Angesicht zu Angesicht.

IKG-Präsident Oskar Deutsch betonte, dass es dennoch im internationalen Vergleich sicher sei, als Jude oder Jüdin in Wien zu leben. Als unglaubwürdig bezeichnete Deutsch das immer wieder von FPÖ-Vertretern geäußerte Bekenntnis, gegen Antisemitismus aufzutreten. Glaubwürdig könne dies nur sein, wenn es für ein paar Jahre zu keinen antisemitischen Vorfällen in den FPÖ-Reihen komme.

Antisemitismus-Vorfälle 2017:

Briefe; Anrufe 203
Internet; Social Media 171
Vandalismus 51
Beschimpfungen/Bedrohungen 28
Tätliche Angriffe 5
Sonstige 45
Insgesamt 503

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