Novemberpogrom 1938: Zu Mittag, als das ganze Viertel bebte

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Marta S. Halpert besuchte die heutigen Orte dreier zerstörter Wiener Synagogen.

Gesunde Wohnungen – glückliche Menschen“ verkündet die 1987 angebrachte helle Tafel auf dem Haus Zirkusgasse 22. Unter der Ägide von Bürgermeister Helmut Zilk wurde dieses modernistische, graue Wohnhaus erbaut. Keine fünf Meter daneben prangt eine bescheidene dunkle Metalltafel zur Erinnerung an eine der ersten und prächtigsten Synagogen Wiens: den Tempel der Türkischen Israeliten, errichtet genau 100 Jahre vor dem Glücklich-Wohnen-Bau. „Am 10. November 1938 wurde die Synagoge in Brand gesteckt. Um 12.58 Uhr war die Inneneinrichtung verbrannt. Als die mächtige zwölf Meter hohe Kuppel einstürzte, bebte das ganze Viertel.“

Diese Beschreibung befindet sich im soeben erschienenen Gedenkbuch der Synagogen und jüdischen Gemeinden Österreichs, herausgegeben vom Jerusalemer Synagogue Memorial unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. em. Dr. Meier Schwarz. „Fast 50 Jahre wurde die Zahl der zerstörten Synagogen mit 267 angegeben – eine Zahl, die übrigens vom Reichssicherheitshauptamt Heydrichs in die Welt gesetzt wurde –, wir können aber durch unsere langjährige Forschungsarbeit belegen, dass im Novemberpogrom über 1.500 Synagogen im gesamten deutschen Reich zerstört wurden“, so Elisheva Shirion, die Autorin des fünften Bandes der Gedenkbuchreihe.

Erinnerung auf einer Stange

Auch auf den Wiener Spuren von nur drei der insgesamt 170 Synagogen und jüdischen Bethäuser, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Österreich existierten, entdeckt man den lieblosen bis verletzenden Umgang mit diesem traurigen Kapitel der österreichisch-jüdischen Geschichte. Vor dem schmucklosen Wohnhaus in der Leopoldsgasse 29, wo bis zum 10. November 1938 die orthodoxe „Polnische Schul“ stand, erspäht man eine frei stehende Eisenstange, auf der eine Gedenktafel montiert ist: Wegen des Widerspruchs der Hausbewohner durfte diese nicht an der Hauswand angebracht werden. Die Beth Israel Synagoge wurde vom berühmten Architekten Wilhelm Stiassny 1892/93 als dreischiffiger Raum mit maurischen Stilelementen und einem zentralen Zwiebelturm erbaut, mit Sitzen für 420 Männer und 217 Frauen. Hier beteten die schon im Vormärz bis 1848 nach Wien gezogenen polnischen Juden.

„Um 12.58 Uhr war die Inneneinrichtung verbrannt. Als die mächtige zwölf Meter hohe Kuppel einstürzte, bebte das ganze Viertel.“

Wer die primitive Tafel in der Leopoldsgasse beschämend findet, hat die Erinnerungsplakette für den Beth Hakneseth in der Unteren Viaduktgasse 13 im dritten Bezirk noch nicht entdeckt – weil er entweder keinen Hund hat oder einen aufrechten Gang. Zwanzig mal zwanzig Zentimeter misst die in das Trottoir eingelassene Messingplatte: Ein paar knappe Zeilen beurkunden hier die frühere Existenz eines jüdischen Bethauses von 1870. Weil sich dieses im Innenhof befindet, verschafft man sich durch „Fremdläuten“ Eingang. Dieses Beth Hakneseth entging nur deshalb dem brandwütigen Pöbel, weil es sich ähnlich wie der Stadttempel in der Seitenstettengasse in einem bewohnten Ensemble befand. Leider kann man das ehemalige Gotteshaus nicht besichtigen: Heute nutzt es Christian Ludwig Attersee als Künstleratelier. „Der malt ja gar nicht mehr, das ist nur ein Lager für seine Bilder“, erklärt ein freundlicher Nachbar.

Und es vibriert wieder – das jüdische Leben

Die erste urkundlich erwähnte Synagoge in Wien war der Türkische Tempel, denn die türkischen Juden lebten schon seit 1736 hier. Gegründet wurde die sephardische Gemeinde von Diego d’Aguilar, dessen Biografie ein spannendes Drehbuch liefern könnte: In eine jüdische Familie in Madrid als Moses Lopez Pereira hineingeboren, wurde er als Kind entführt und getauft, um ihn vor der Inquisition zu schützen. Er wurde nicht nur katholischer Priester, sondern sogar Inquisitor in Madrid. Sein Vater starb als Märtyrer am Scheiterhaufen; als seine Schwester beim Ausüben des jüdischen Glaubens entdeckt und von der Inquisition zum Tode verurteilt wurde, suchte die Mutter Hilfe beim Inquisitor – sie sprach ihn mit seinem jüdischen Namen an und gab sich zu erkennen. Aber es war zu spät: D’Aguilars Schwester war schon hingerichtet worden. Sohn und Mutter flohen gemeinsam nach Portugal, London und Amsterdam. 1723 erreichte D’Aguilar Wien alleine, seine Mutter war unterwegs gestorben. In Wien soll Diego d’Aguilar – der Legende nach – Kaiserin Maria Theresia jenes Geschenk überbracht haben, das sie bei einem Besuch in Madrid dem damaligen Inquisitor d’Aguilar gegeben hatte. Er rührte sie mit seinem traurigen Schicksal so sehr, dass sie ihm und einigen sephardischen Familien Asyl und freie Religionsausübung gewährte. D’Aguilar nutzte 1745 seine guten Beziehungen bei Hof, um die drohende Ausweisung der Juden aus Böhmen und Prag zu verhindern.

„Ganz ist die Verdrängung […] den Bewohnern weder in der Zirkusgasse noch in der Leopoldsgasse gelungen.“

 

„Die sephardische Gemeinde galt als wohlhabend und selbstbewusst. Sie wurde von österreichischer Seite mit mehr Freizügigkeit behandelt als die ‚eigenen‘ aschkenasischen Juden“, erklärt Elisheva Shirion, „vielleicht weil sie unter dem Schutz des Ottomanischen Reiches standen“.

Apropos Novemberpogrom und „Schöner Wohnen“ mit oder ohne Tafel: Ganz ist die Verdrängung der Geschichte den Bewohnern weder in der Zirkusgasse noch in der Leopoldsgasse gelungen: Das neue jüdische Leben vibriert vor ihren Augen, nicht nur am Karmelitermarkt.

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