
WINA: Herr Dr. Gleitman, Sie sind seit Jahren erfolgreich an der Schnittstelle der israelischen Hightech-Wirtschaft mit asiatischen Kunden und Partnern aktiv. Wie wird die Lage der israelischen Ökonomie in Asien wahrgenommen?
Yehoshua Gleitman: Wir erleben eine Art schwerwiegende Erosion des Markennamens „Israelische Technologie“. Und das hängt von der politischen Situation ab, von Gaza und unserem Vorgehen dort. Die Frage ist nun: Wird diese Erosion nur kurz andauern, oder wird sie permanent sein? Die Marke „Israelische Technologie“ ist weltweit ein Symbol für Innovation und Erfolg, aber sie ist ernsthaft beschädigt.
Hat diese Veränderung praktische Erfahrungen als Grundlage? Ich meine, wurden die Lieferketten israelischer HightechProdukte unterbrochen? Gab es Schwierigkeit mit der zeitgerechten Erstellung neuer Programme?
I Nein, das hat nichts mit den Lieferketten zu tun, nichts mit den tatsächlichen Leistungen. Diese Erosion spielt sich im politischen Bereich ab, nicht im reinen Geschäftsbereich. Momentan – und ich betone: momentan – geht es der israelischen HightechIndustrie recht gut. Nehmen wir eine aktuelle Erfolgsgeschichte: Erst vor zwei Wochen hat Google für eine israelische Cyber-Security-Firma, Wiz, mit gerade einmal 700 Millionen Dollar Umsatz, 23 Milliarden Dollar geboten. Das Angebot wurde übrigens abgelehnt, und ich denke, beide Seiten haben recht gehabt.
Was meinen Sie damit?
I Google hat recht gehabt, so viel zu bieten, eventuell war das noch etwas zu wenig. Die Unternehmer hatten aber auch recht in ihrer Haltung, selbst weiterhin die Kontrolle zu behalten. Es hat vor wenigen Jahren ein ähnliches Beispiel gegeben, mit einer an der Nasdaq notierten Firma namens Mellanox, bekannt für Hochgeschwindigkeitsdatenkommunikation. Sie haben ein Angebot von Nvidia bekommen, eine Übernahme mit 25 Prozent über Marktpreis, etwa sieben Milliarden Dollar. Die Gründer waren dagegen, aber die Investoren haben sich für den Verkauf entschieden.
Was schließen Sie daraus?
I Nach meiner Analyse hängt Nvidias riesiger Erfolg bei AI – Artificial Intelligence (künstlicher Intelligenz) zu einem guten Teil von der schnellen Kommunikation ab, die man durch die Übernahme von Mellanox erreicht hat.
Sie meinen also, man hat zu billig verkauft?
I Eigentlich haben sie diese Firma für nichts gekauft, und sie trägt vielleicht 20 oder 30 Prozent zum Erfolg von Nvidia bei. Die Gründer haben recht gehabt: Als unabhängige Zulieferer hätten sie viel mehr Werte geschaffen, für die Firma und für die Investoren.
Das heißt also, die Gründer von Wiz haben sich mit ihrer Ablehnung gegenüber Google richtig verhalten?
I Das haben sie. Die sind schon sehr reich, vom Verkauf einer früheren Firma, sie brauchen das Geld nicht unbedingt. Und sie leben teilweise sehr bescheiden. Natürlich bedeutet das ein gewisses Risiko, aber auch Chancen.
Das sind jetzt positive Beispiele. Aber Sie haben von Problemen gesprochen.
I Das betrifft unsere gegenwärtige Regierung. Sie ist vollständig entfernt von der Wirtschaft, von Technologie etc. Und das hat nichts mit dem Krieg zu tun. Ich spreche von Bereichen, die nicht dem Krieg ausgesetzt sind. Es gibt einfach ein Fehlen ökonomischen Verständnisses. Und das erzeugt ein strategisches Risiko.
Wo sieht man dieses Risiko?
I Schauen wir uns die Ausgaben für Forschung und Entwicklung an. Als Prozentsatz vom Bruttonationalprodukt waren diese in Israel seit vielen Jahren weltweit an der Spitze. Aber man muss sich auch anschauen, wer das finanziert: Im OECD-Schnitt kommen etwa 40 Prozent von den Regierungen, noch einmal 20 bis 40 Prozent finanziert die örtliche Wirtschaft, und internationale Investoren sind verantwortlich für 20 bis 35 Prozent.
„[…] so wie man die Evangelikalen nicht an den
Schalthebeln der Macht in den USA haben
möchte, so wollen wir das nicht in Israel.“
Yehoshua Gleitman
In Israel ist es doch deutlich anders?
I Es ist dramatisch anders. In Israel sind internationale Investoren für 80 Prozent der Finanzierung von Forschung und Entwicklung verantwortlich. Das hat natürlich Vorteile, es ist offener, man bekommt effizienteres Management, etwa im Vergleich zum Staat. Aber es gibt hier auch eine negative Seite: Diese Art der Finanzierung ist sehr sensibel gegenüber lokalen Risiken.
Sie meinen, diese Geldgeber könnten ihre Investitionen schnell wieder abziehen?
I Genau. Man kann etwa österreichische Regierungsgelder nicht dafür verwenden, Firmen in Belgien zu finanzieren. Auch lokale Financiers sind nicht sensibel gegenüber lokalen Risiken, sie sind ja selbst Teile davon. Internationale Investoren sind sehr sensibel. Wir haben das in vielen Fällen in der Vergangenheit gesehen, etwa bei der asiatischen Krise der vier Tiger im Jahr 1997. Damas wurden die internationalen Gelder von einem Tag auf den anderen abgezogen. Das heißt also insgesamt, dass das Risiko-Niveau von Israel sehr hoch ist.
Was schließen Sie daraus?
I Noch geht es gut. Internationale Investoren suchen und finden Gelegenheiten, sich in Israel zu engagieren. Aber wenn die Regierung so weitermacht, und zwar mit ihrer ökonomischen Nicht-Politik weitermacht, und sie haben keine Wirtschaftspolitik, dann werden wir Probleme bekommen. Wir sehen schon bei den großen internationalen Rating-Agenturen, dass sich unsere Ratings verschlechtern.
Was könnte man also machen, was sollte man machen?
I Die 80 Prozent werden sie nicht so schnell ersetzen können. Das würde eine Zeit lang dauern und sehr intelligentes ökonomisches Denken erfordern, bestimmte Regulierungen, ein Bündel von Maßnahmen. Ich bin mir sicher, dass diese Regierung dazu nicht fähig ist.
Aber hätte eine andere Regierung überhaupt die notwendigen Budgetmittel, diese 80 Prozent internationale Investitionen zu ersetzen?
I Nein, das hätte sie nicht, das wäre aber auch nicht notwendig. Momentan beträgt der Regierungsanteil der Hightech-Finanzierungen in Israel bloß etwa zehn Prozent. Da besteht also gegenüber dem OECD-Schnitt eine Lücke. Die Regierung sollte gegen den herrschenden Trend auftreten und versuchen, diese Lücke etwas zu schließen. Dazu braucht es keine Unsummen. Es ginge darum, zunächst von zehn auf 20 Prozent zu kommen. Das würde ein Signal aussenden, und dafür braucht es nicht so viel Geld, das ginge trotz der unerwarteten Ausgaben, die der Krieg erfordert. Ich spreche davon, in einem Jahr vielleicht eine Milliarde Euro zu investieren.
Und warum macht das keiner?
I Die Regierung hat eine andere Agenda.
Sie meinen, eine nationalistische Agenda?
I Es ist mehr als nationalistisch, man kann von messianisch sprechen, Man kann das etwa mit den evangelikalen Bewegungen in den USA vergleichen. Aber so wie man die Evangelikalen nicht an den Schalthebeln der Macht in den USA haben möchte, so wollen wir das nicht in Israel.
Also wie groß sehen sie das tatsächliche Risiko, dass diese 80 Prozent internationaler Investoren sich zwar nicht insgesamt plötzlich zurückziehen, aber doch beträchtliche Teile ihrer Gelder?
I Das Risiko wird stetig zunehmen, daher brauchen wir einen Politikwechsel. Ich denke, wenn wir bis zum Jahresende reagieren, können wir diesen Risiken begegnen. Wenn wir aber bis 2026 warten, und dann wären die nächsten regulären Wahlen, wenn also die gegenwärtige Regierung ohne Wirtschaftspolitik weitermacht, und wie gesagt, sie hat keine, dann haben wir ein erhebliches Risiko. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum man vorzeitige Wahlen abhalten sollte, und ökonomische Gründe sind ein erheblicher Teil davon.
Die israelische Ökonomie besteht aber nicht nur aus dem Hightech-Sektor. Es gibt immer noch landwirtschaftliche Exporte, die Tourismusbranche, den boomenden Rüstungssektor. Wie sieht es dort ihrer Meinung nach aus?
I Die Hightech-Branche ist ein entscheidendes Segment der Wirtschaft. Wir sprechen dabei von 55 Prozent der Steuereinnahmen, 60 bis 65 Prozent der Exporte kommen aus diesen Branchen. Ohne den Hightech-Sektor wären wir ein Dritte-Welt-Land. Schauen wir uns die anderen Sektoren an: Die Landwirtschaft ist zwar wichtig, aber sie trägt nur etwa fünf Prozent zum Bruttonationalprodukt bei. Die Gegend rund um Gaza, ein bedeutendes landwirtschaftliches Produktionsgebiet, erholt sich gerade, die Menschen kehren wieder zurück. Das gilt natürlich nicht für den Norden. Und übrigens geht es der Landwirtschaft am Golan dieses Jahr sehr gut, trotz des schrecklichen Angriffs auf den Fußballplatz der Drusen.
„Meine einzige Quelle für Optimismus wären
möglichst baldige Wahlen.
Es sind harte Zeiten.“
Yehoshua Gleitman
Sprechen wir von anderen Sektoren, etwa vom Tourismus.
I Der trägt nur etwa vier Prozent zum BNP bei, und da ist schon der lokale Tourismus inkludiert. Natürlich gibt es dort viele Jobs, allerdings sehr schlecht bezahlt. Aber die Bedeutung des Sektors kann man nicht mit dem in anderen Ländern vergleichen, etwa in Griechenland oder Italien. Überdies könnte sich der Tourismus nach einer politischen Lösung in Gaza schnell wieder erholen.
Wie geht es der Rüstungsindustrie? Die boomt doch, nicht zuletzt nach den Abraham-Abkommen mit einigen arabischen Ländern?
I Hier muss man die kurzfristige und die langfristige Entwicklung unterscheiden. Kurzzeitig geht es der Branche gut, und da spreche ich nicht von lokaler Produktion für die israelische Armee. Ich meine nur die Exporte, die boomen, und zwar seit dem Beginn des Ukrainekriegs.
Und das, obwohl Israel nicht direkt an die Ukraine liefert? Der russische Angriff auf die Ukraine hat ganz neue Märkte eröffnet. Manche Firmen haben nicht einmal im Traum mit derartigen Möglichkeiten gerechnet, etwa bei Raketen-Abwehr-Systemen. Sie meinen „Arrow 3“ für Deutschland?
I Vor vier Jahren hätte niemand in Deutschland an solche Anschaffungen gedacht. Aber der Markt ist noch viel größer, da geht es etwa um Drohnenabwehr oder um Cyber-Sicherheit. Und ein großer Vorteil der israelischen Rüstungsindustrie liegt daran, dass ihre Produkte in der Realität, im Kampf, entsprochen haben. Kurzzeitig wird es der Branche gut gehen, langfristig kann es Probleme geben. Der weitere Vorteil der israelischen Rüstungsindustrie liegt in Technologie und Innovation. Früher ist die Innovation aus dem militärischen Bereich gekommen und dann in den Zivilbereich übergeschwappt. Heute hat sich das gewandelt, sie kommt eher aus den Universitäten und teils aus dem zivilen Bereich. Von dort fließt die Innovation wieder in den militärischen Bereich zurück.
Wo liegen da die Risiken?
I Unter anderem im akademischen Bereich. Auch dieser bekommt viel Geld von außen. Ich bin am Board der Hebrew University in Jerusalem, und unser Budget hat drei Säulen: Da gibt es zunächst einmal die grundlegende staatliche Finanzierung, dann die Spenden und schließlich die wissenschaftlichen Forschungskooperationen. Bei den Spenden haben wir heuer unser Jahresziel schon im Sommer erreicht, bei den internationalen Wissenschaftskooperation gibt es Probleme. Es gibt internationale Wissenschaftler, die nicht sehr enthusiastisch sind, mit uns zu kooperieren. Dieses Problem haben wir jetzt, wir wissen nicht, ob sich das verfestigt. Das hängt sehr von der politischen Lage ab.
Und was bedeutet das dann für die Rüstungsindustrie?
I Langfristig braucht sie die Innovation von außen. Und dafür braucht sie die Universitäten und die Ideen kleiner Start-ups. Dann kann es weitere Entwicklungsschritte geben, das geht nicht linear, sondern in einzelnen Stufen.
Also wenn wir das Gespräch zusammenfassen: Sind Sie pessimistisch, optimistisch oder neutral, was die nächsten paar Jahre der israelischen Wirtschaft betrifft?
I Ich bin leider ziemlich pessimistisch, und ich bin von meinem Naturell her kein Pessimist. Womit nährt sich mein Pessimismus? Wenn man Probleme erkennt, kann man daran gehen, sie zu bekämpfen. Aber wenn man nicht versteht, worum es geht, wie will man dann diese Kampf führen? Die Regierung versteht die Ökonomie nicht, und sie will sie nicht verstehen. Der gegenwärtige Finanzminister lebt in einer Parallelwelt. Meine einzige Quelle für Optimismus wären möglichst baldige Wahlen. Es sind harte Zeiten.
Herr Dr. Gleitman, danke für das Gespräch.
Hightech, staatlich und privat, zivil und militärisch
Dr. Yehoshua „Shuki“ Gleitman, Jahrgang 1949, hat als Manager umfangreiche Erfahrung im israelischen Hightech-Sektor, und zwar sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich. Seine Karriere ist zwar einzigartig, aber doch auch wieder typisch für die technischen und ökonomischen Eliten in Israel. Gleitman hat an der Hebräischen Universität in Jerusalem Magistergrad und Doktorat in physikalischer Chemie mit Auszeichnung abgeschlossen und hängte dort mehr als zehn Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an. In seiner Militärlaufbahn (er hält den Rang eines Oberstleutnants) leitete er im Verteidigungsministerium die Laserforschung der Armee. Der Übergang ins Management einer elektro-optischen Firma für Marine und Luftwaffe war ein logischer, es folgten weitere Spitzen-Jobs in der Rüstungsindustrie.
Von 1992 bis 1997 war Gleitman Chief Scientist der Regierung, eine Art Wissenschaftskoordinator Richtung Industrie, etwa im Status eines Staatsekretärs. Sein Büro mit 25 Mitarbeitern gehörte zum Industrie- und Handelsministerium. Unter seiner Technologieförderung nahm die israelische HightechIndustrie einen rasanten Aufschwung, die Fördermittel gingen damals schnell von 100 Mio. Dollar pro Jahr auf 400 Mio. Dollar in die Höhe.
Seit 1997 hält Gleitman verschiedene Management-Spitzenpositionen, unter anderem war er CEO des an der USTechnologiebörse Nasdaq notierten Mischkonzerns Ampal-American Israel Corporation. Dazu gehörten auch die Moriah-Hotels, deren Chairman er war und die er später an Sheraton verkaufte. Von 2000 bis 2005 war er Generaldirektor von SFKT, einer Beteiligungsgesellschaft ausschließlich für Hightech-Unternehmen. Von 2000 bis 2012 war er außerdem Managing Partner der Venture-Capital-Gesellschaft Platinum.
Bis 2020 saß Gleitman zehn Jahre lang im Board of Directors des an der Nasdaq gelisteten israelischen Rüstungskonzerns Elbit Systems, dort leitete er zwei wichtige Ausschüsse, jenen für Prüfung und den für Finanzen. Er ist seit Jahren schwerpunktmäßig in Asien aktiv, unter anderem vertritt er seit 1999 als Honorarkonsul Singapur in Israel. Im chinesischen Guangzhou leitet er als Chairman zwei Israel Biotech Funds und einige weitere Unternehmen. Neben seinen aktuellen Jobs in China ist Gleitman derzeit Chairman der an der Tel Aviver Börse notierten Investmentfirma Capital Point, mit Beteiligungen an zahlreichen Hightech-Firmen. An der Hebräischen Universität in Jerusalem ist er Mitglied im Executive Operating Committee.