„Fängt nicht überall das Beste
mit Krankheit an?“ Novalis

Vermeidet Menschenansammlungen und Kontakt mit anderen, sogar auch das Händeschütteln…“ Diese und weitere strikte Hygieneanweisungen entstammen einer Liste von Verhaltensregeln, die die hebräische Zeitung Ha Do’ar (Die Post) 1920 abdruckte. Bei rinnender Nase sollte man extrem vorsichtig sein und ein Taschentuch verwenden, das in einer Metalldose mit Kampfertropfen und Naphthalinpuder aufzubewahren war. Damals wütete die „Spanische Megaife“ oder der Schapa’at, wie die Spanische Grippe hier bezeichnet wurde, in Europa und raffte Millionen Menschen dahin. Sie fand ihren Weg auch in das damalige Palästina, wo sie sich, vielleicht wegen der damals noch sehr spärlichen Besiedlung, glücklicherweise recht langsam ausbreitete.
Das kann man von Covid-19 leider nicht behaupten. Aber diesmal gibt es fortschrittlichere medizinische Lösungen, und Anfang März hatten in Israel bereits über fünf Millionen Menschen zumindest ihre erste Impfdosis erhalten und die Anzahl der Todesfälle und Schwerkranken begann zu sinken. Damit sind zwei Drittel der über 16-jährigen Israelis Anwärter auf den Grünen Pass, der ihnen den Zugang zu Flügen und Hotels, zu Theater- und Konzertsälen, zu öffentlichen Schwimmbecken und Fitnessstudios eröffnen soll. Wer so einen Grünen Pass vorweisen kann, und dazu gehören auch jene, die infolge einer Corona-Erkrankung nachweislich Antikörper im Blut haben, muss bei der Einreise in das Land auch nicht mehr in Quarantäne. Dieser Pass ist vorläufig für sechs Monate gültig und soll in einer späteren Phase durch ein internationales Zertifikat ersetzt werden. Premierminister Netanjahu wiederholt bei jeder Gelegenheit, wie wichtig es sei, sich impfen zu lassen, und tritt gleich am ersten Tag der Wiedereröffnung sportlich mit schwarzem T-Shirt in einem Fitnessstudio auf, am Tag darauf in Anzug und Krawatte im endlich wieder eröffneten Khan-Theater in Jerusalem. Impf-Mobile stehen am Wochenende vor den Einfahrten zu beliebten Ausflugszielen und am Strand und versuchen, die Ausflügler und Badenden mit der bequemsten Art des Geimpft-Werdens zu bestechen: ohne Anmeldung und ohne Anfahrtsweg.
In früheren Jahren war man da weit weniger zimperlich und musste sich nicht extra ausgefallene PR-Aktionen einfallen lassen, wenn es darum ging, die Staatsbürger gegen eine drohende Epidemie zu immunisieren. Die Bestimmungen des israelischen Gesundheitsministeriums enthalten genaue Anweisungen für den Fall einer Epidemie, und da ist auch heute noch neben Maßnahmen, wie Quarantäne und eventueller Zwangshospitalisierung, das Impfen aufgelistet. Es gäbe also die Möglichkeit, Impfungen einfach anzuordnen. Und in den Jahren nach der Staatsgründung wurden sie, beispielsweise zur Prävention von Polio oder Typhus, auch nicht lange diskutiert, sondern einfach verabreicht und höchstwahrscheinlich dankbar angenommen.

Impf-Mobile stehen am Wochenende vor den Einfahrten zu beliebten Ausflugszielen und versuchen, die Ausflügler mit der bequemsten Art des Geimpftwerdens zu bestechen, nämlich ohne Anmeldung.

Damals hatte sich die Bevölkerung durch die großen Einwanderungswellen nach dem Holocaust innerhalb von wenigen Jahren beinahe verdreifacht, und der junge Staat erlebte immer wieder massive Ausbrüche von Epidemien. Sogar die Pest blitzte in Folge einer Ratenplage in Tel Aviv in den späten 1940er-Jahre noch einmal kurz auf, konnte aber relativ schnell wieder gebannt werden. 1951 gab es dann einen erneuten großen Ausbruch von Kinderlähmung. Die heimtückische Krankheit befiel vor allem Kleinkinder von bis zu fünf Jahren und manifestierte sich mit einer Todesrate von 12 Prozent. Ein Drittel der infizierten Kinder hatte mit permanenten Lähmungserscheinungen zu kämpfen. Die Spitäler waren überfüllt, und es mussten in Windeseile Rehabilitationszentren aus dem Boden gestampft werden.
Genau zu dieser Zeit veröffentlichte der jüdisch-amerikanische Arzt Jonas Salk seine Forschungsergebnisse für einen Impfstoff gegen Poliomyelitis. Viele seiner Kollegen taten den Sohn eines Schneiders aus Manhattan einfach als Scharlatan ab. Aber nachdem in Amerika zwei Millionen Kinder erfolgreich immunisiert wurden, konnte die Wirksamkeit der Polioimpfung nicht mehr negiert werden. Doktor Salk gab das Patent für das Vakzin frei, und auch damals bekundete Israel sofort sein Interesse. Die amerikanische Bevölkerung wehrte sich jedoch dagegen, ihre Rationen mit anderen Ländern zu teilen, und so stellten die Israelis ihre eigene Produktion von Polioimpfstoff in dem extra dafür erschaffenen Goldblum-Laboratorium in Jaffo auf die Beine. 1957 war es dann soweit, und die israelischen Bürger konnte in einer massiven Aktion durchgeimpft werden.

Die Vaccination Nation. In diesem Sinne möchte wohl auch Premier Netanjahu eine unabhängige Produktion von Impfstoff aufbauen, der die Bevölkerung für die kommenden Jahre auch gegen neue Corona-Mutationen absichern soll. Mit an Bord holte er sich einige europäische Länder, darunter Österreich und Dänemark. Kanzler Kurz flog Anfang März extra für eine groß aufgezogene Pressekonferenz zu diesem Projekt ein und war voll des Lobes für die „Vaccination Nation“ und für seinen väterlichen Amtskollegen, der den israelischen Bürgern die nötigen Rationen rechtzeitig abgesichert hatte.
Es ist hier also genügend Impfstoff vorhanden, doch eine Bevölkerung auf Anordnung durchimpfen zu lassen, ist wohl in einer westlichen Demokratie heute nicht mehr zeitgemäß. Da musste nun der – angeblich gegen Fälschungen gut abgesicherte – Grüne Pass her, der den Menschen aufzeigen soll, dass ohne ihn die Rückkehr in ein „normales“ Leben fast nicht möglich ist. Kinder und Jugendliche dürfen inzwischen noch nicht geimpft werden und können daher keinen Grünen Pass erhalten. Ihnen soll überall dort, wo ein solcher verlangt wird, beispielweise bei einer Hochzeit in einer Event-Halle, ein aktueller Corona-Test den Eintritt gewährleisten. Ob und wie sie Auslandsflüge antreten dürfen, ist noch nicht klar.
Es wird auch diskutiert, ob Lehrer*innen ohne den Grünen Pass das Unterrichten in den Schulen verboten werden darf. Und auch der Technologiegigant Mobile Eye kündigte an, dass er im April offiziell „auf grün schaltet“ und nur mehr immunisiertem Personal der Zutritt in die Büroräume gestattet sein wird. Das bedeutet, dass ab dann etwa ein Zehntel der Angestellten des Herstellers von automatischen Steuersystemen nur mehr von zu Hause arbeiten dürfen, falls das überhaupt mit ihrem Job vereinbar ist. Weitere Unternehmen wollen bereits nachziehen. Vollkommen rechtlich abgesichert ist so ein Schritt noch nicht. Aber in welchen Fällen die Weitergabe von Information darüber, wer geimpft ist, gestattet ist, wird bereits gesetzlich geregelt.
Während nun einerseits von einem vierten Lockdown gesprochen wird, verspricht Netanjahu andererseits bis April dieses Jahres die komplette Wiedereröffnung des Landes. Da könnten ihm allerdings neue Mutationen einen Strich durch die Rechnung machen. Und letztlich hängt alles davon ab, wie gut es gelingen wird, die neuen Regelungen bezüglich des Grünen Passes zu implementieren und ihre Durchführung zu kontrollieren. Fraglich bleibt auch, wie viele Impfgegner*innen standhaft bleiben und wie weit das den Verlauf der Epidemie beeinflussen kann.
Der Argwohn gegenüber Impfungen ist nicht neu. Vor einigen Jahren wurde im David Tower in Jerusalem eine gläserne Ampulle ausgestellt, die ein Vakzin gegen Cholera enthielt. Der beiliegende Brief aus dem Jahr 1892 soll vom russisch-jüdischen Mikrobiologen Mordechai Waldemar Haffkine stammen, der im Louis-Pasteur-Institut in Paris die Choleraimpfung entwickelt hatte. Um seinen Gegnern zu beweisen, dass der neu entwickelte Impfstoff nicht schädlich wäre, setzte er sich in einer gewagten Aktion selbst die Nadel. Und tatsächlich war er nach einigen Fiebertagen wieder völlig wohlauf. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte das Impfserum dann auch hier vor Ort produziert werden: in der Filiale des Louis-Pasteur-Institutes im damaligen Palästina.


Bild Adam NieściorukUnsplash

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