Der Preis des Krieges

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Vor zehn Jahren endete der Zweite Libanonkrieg. Israel zog einen Großteil seiner Gruppen ab. Die Folgen dieses Krieges für die israelische Armee und Gesellschaft wurden vom Soziologen Reuven Gal untersucht.

Von Itamar Treves-Tchelet   

Zehn Jahre ist es her seit dem Morgen des 12. Juli 2006, als Premierminister Ehud Olmert die Eltern von Gilad Schalit in seinem Büro in Jerusalem empfing. 17 Tage nach der Entführung agierte die israelische Armee wieder im Gazastreifen in der Hoffnung, den jungen Soldaten aus der Gefangenschaft der Hamas zu befreien. Mitten im Gespräch stürzte der militärische Sekretär hinein und drückte Olmert einen kleinen Zettel in die Hand. Darauf stand: Hisbollah hat eine Patrouille im Norden attackiert; zwei Soldaten wurden entführt. Schweigend übereichte er das Stück Papier den Eltern. Eigentlich, eine verbotene Tat. „Lest das!“, sagte er.

Dieser Angriff war der Auftakt des Zweiten Libanonkrieges. In den 34 Tagen darauf führte Israel eine große Militäroffensive im Südlibanon mit einem klaren Ziel durch: die Hisbollah zu zerschlagen. Offiziell war noch keine Rede von Krieg, doch die Lage sah sehr danach aus: Schwere Luftangriffe und punktuelle Feldzüge in den libanesischen Dörfern trafen auf massiven Widerstand der Hisbollah-Kämpfer; täglich landeten mehr als 100 Kurzstreckenraketen in israelischen Ortschaften, inklusive Haifa. Die Medien berichteten von tausenden Zivilisten auf beiden Seiten, die sich auf die Flucht machten. Vor allem bestimmten aber die Bilder von den Beerdigungen der gefallenen Soldaten den Verlauf des Krieges. Sie waren ein Zeichen, dass etwas mit der Kriegsführung nicht stimmte.

„Nach dem Krieg bin ich gegenüber der wahren Absichten von Politikern viel skeptischer geworden. Ich verstehe nun, dass aus ihrer Warte die Dinge wie in einem Schachspiel aussehen.“ Tomer Bohadana

Weder Sieg noch Niederlage

Die große Frage zu jener Zeit war, ob die Armee mit einem großen Feldzug tief in den Südlibanon einmarschieren sollte, um die Raketenangriffe zu stoppen. Diese Entscheidung fiel letztlich 96 Stunden vor dem vereinbarten Ende des Krieges am 14. August. Dies, obwohl die Bedingungen des Waffenstillstandes bereits festgelegt waren. Premier Olmert, Sicherheitsminister Amir Peretz und Generalstabschef Dani Chalutz sahen darin die letzte Chance, als klare Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervorzugehen. Dennoch lief alles anders als geplant. 33 Soldaten kamen in der letzten Offensive ums Leben, darunter Uri, der Sohn des bekannten Schriftstellers David Grossman. Das Hauptziel des Krieges wurde zudem nicht erfüllt: Die Hisbollah konnte aus dem Südlibanon nicht zurückgedrängt werden. Insgesamt starben im Krieg 119 israelische Soldaten und 44 Zivilisten. Etwa 1.190 Libanesen sind umgekommen, hunderte davon waren Hisbollah-Kämpfer. Die Leichen der zwei gekidnappten Soldaten wurden 2008 gegen Kriegsgefangene ausgetauscht.

Danach sagte in Israel keiner, dass der Krieg verloren wurde. Wie ein Sieger fühlte sich aber niemand. Auf die Enttäuschung folgten heftige Proteste. Olmert, Peretz und Chalutz wurden beschuldigt, die letzte Offensive aus politischen Gründen legitimiert zu haben. Der Armee wurde vorgeworfen, unvorbereitet in den Krieg gezogen zu sein. Das Vertrauen der Bevölkerung sei gebrochen, hieß es.

Hierarchie der Toten

Doch um die Konsequenzen des Zweiten Libanonkrieges richtig zu deuten, empfiehlt der Soziologe Reuven Gal, die zwei vorangegangenen Kriege zu betrachten. „In Israel werden Kriege in zwei Gruppen geteilt“, erklärt er, „Zwangskriege und Wahlkriege“. Der Jom-Kippur-Krieg 1973 gehöre der ersten Gruppe an, denn der überraschende Angriff auf Israel war eine direkte Existenzbedrohung. Dieser Krieg wurde besonders wegen des militärischen Versagens kritisiert. Der Erste Libanonkrieg 1982 zählt hingegen zu den Wahlkriegen. Er war der erste Krieg in der Geschichte, der keinen Konsens in der Gesellschaft erhielt. „Beide Aspekte – das militärische Versagen und der fehlende Konsens – fielen im Krieg von 2006 zusammen.“

In anderen Worten meint Gal, dass trotz der Enttäuschung, die schließlich zu den Rücktritten von Amir Peretz und Dani Chalutz führte, der Zweite Libanonkrieg aus politischer und militärischer Sicht eher wenig Neues zu bieten hatte. „Neu hingegen war die gestiegene Sensibilität für die Gefallenen“, sagt er, „denn alle militärisch-taktischen Überlegungen wurden nach der befürchteten Anzahl der Verluste bestimmt. Vorher kannten wir so was kaum.“

Seit 2010 leitet Reuven Gal einen Verein, der sich der Erforschung der Beziehungen von Gesellschaft und Militär widmet. Der Zweite Libanonkrieg war der Anstoß für hunderte Publikationen, die sich mit den Wandlungen in der israelischen Gesellschaft befassten. „Eine Studie zeigte z. B., wie Soldaten im Krieg durch die Berichterstattung wieder als Kinder ihrer Eltern betrachtet wurden“, erzählt er, „dies ist eine markante Wandlung im Image des israelischen Kämpfers.“

Eine weitere Studie argumentierte, dass die gesellschaftliche Hierarchie der Kriegsopfer sich komplett geändert hätte. Früher, meint Gal, galten gefallene Soldaten als legitimer Preis eines Krieges. „Doch jetzt, so die Studie, gibt es möglicherweise mehr Legitimität für tote Zivilisten als für tote Soldaten“, sagt er, „denn das höchste Ausmaß an gesellschaftlicher Empathie ist eigentlich bei den gefallenen Soldaten – unseren toten Kindern – zu finden. Danach kommen die Reservesoldaten. Die getöteten Zivilisten finden sich erst an dritter Stelle.“

Reparatur

Am vorletzten Tag des Krieges ist Tomer Bohadana aus seinem Koma erwacht. Rechtzeitig, um die entstehenden Proteste gegen die versagende Kriegsführung mitzuerleben. Als der Hubschrauber ihn 48 Stunden zuvor ins Rambam-Spital in Haifa brachte, war er kaum noch am Leben. Nur die zwei Finger des Arztes – gedrückt auf die Schusswunde am Hals – verhinderten sein Verbluten. Am Landeplatz, dort wo die Kameras warteten, konnte er mit letzten Kräften seine Hand hochheben – und das Victory-Zeichen zeigen. Bohadana wurde zum Symbol.

„Dieser Krieg war einer der gerechtfertigtesten Kriege“, meint er heute, „aber wenn Politiker Menschen in den Krieg schicken, müssen die Menschen sicher sein, dass die Politiker alles gemacht haben, um den Krieg zu verhindern.“ Zehn Jahre später nimmt die Verletzung keinen zentralen Platz in seinem Leben ein. Ein Wendepunkt war sie aber dennoch: „Nach dem Krieg bin ich gegenüber der wahren Absichten von Politikern viel skeptischer geworden. Ich verstehe nun, dass aus ihrer Warte die Dinge wie in einem Schachspiel aussehen.“

Nach einer erfolglosen Phase als Geschäftsmann erkannte Bohadana die Pädagogik als seine Lebensmission. Im März 2015 gründete er Darna, ein Internat für vorbestrafte Jugendliche. Ziel für die kommenden zwei Jahre ist, dass sie alle ihre Matura machen und dann einen für sie selbst wertvollen Militärdienst leisten. „Ich glaube fest an die Entwicklung des eigenständigen Denkens“, erzählt er, „die Jugendlichen müssen lernen, zu hinterfragen.“
Die Grenze zum Libanon ist heute so ruhig, wie sie schon seit mehr als 30 Jahren nicht war. Die Hisbollah ist aber weiterhin stark im Südlibanon präsent. Berichten zufolge besitzt sie nun Raketen, die jeden Punkt in Israel erreichen können. Seit 2006 hat sich die Regierung in Israel dreimal umgebildet. Die Armee hat ihre Lehren aus dem Zweiten Libanonkrieg gezogen. Diese wurden bereits in den Militäroperationen im Gazastreifen umgesetzt. „Die Armee hat sich komplett erholt“, meint Reuven Gal, „das Vertrauen in sie ist wieder so hoch wie in den besten Zeiten.“

Bild: © Israel Defense Forces / picturedesk.com

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