Protest, der auf Wänden weiterlebt‏

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Tel Aviv avanciert zum nahöstlichen Hotspot der Street Art. Im Fokus der israelischen Künstler stehen aber nicht der Konflikt mit Palästina, sondern gesellschaftliche Probleme wie die hohen Mietpreise. Anlässlich der Ausstellung Do not disturb – Israels Urban Art besuchte der Künstler Untay Wien und gestaltete eine Wand in der Siebensterngasse. Von Michael Ortner  

„Kunst ist eine Chance, Abstand zu den Problemen zu gewinnen.“ Boaz Sides, Street Artist

Allmählich entsteht ein Gesicht an der Wand. Das kantige Kinn, die zarte Nase und der kleine Schmollmund sind bereits zu erkennen. Der junge Mann mit dem Nasenring und dem Drei-Tage-Bart führt den Pinsel mit ruhiger Hand, mit jedem Strich wird die weiße Mauer in der Siebensterngasse in Wien-Neubau etwas roter. Sprühdose und Farbeimer stehen auf dem Boden, zu seinen Füßen liegt ein Skizzenbuch – der Entwurf für das fertige Bild. Brain Freeze wird er den schräg abgeschnittenen Kopf nennen, aus dem blaue Bänder wie Schlangen herausragen. Vermutlich spielt er mit dem Namen auch auf die kühlen Temperaturen an, die Mitte März in Wien noch herrschen. Denn in Tel Aviv, wo Boaz Sides lebt und arbeitet, hat es an diesem Tag bereits über 20 Grad. „Ich wäre schon viel weiter mit dem Bild, aber ich musste mir ein zweites Paar Socken holen“, erzählt der junge Israeli, eingepackt in Wollmütze, Schal, Hoodie und Militärjacke, um dem kalten Wind zu trotzen.

Cheshin_(c)_Michael-Ortner
Leora Cheshin erklärt beim Artist Talk in der Inoperable Gallery eine ihrer Fotografien.

Ungewöhnlich ist auch der Ort, an dem der Street Artist sein Werk hinterlässt. Denn statt der Hausmauer in der geschäftigen Siebensterngasse sucht er sich in seiner Heimatstadt lieber abgelegene Stellen wie verlassene Häuser oder kahle Wände in Hinterhöfen. Als Untay, so sein Pseudonym, verschönert er auch ausgebrannte Autos und verwandelt sie so zu öffentlichen Kunstwerken. „Ich suche nach Orten, die eine Geschichte haben, und versuche meine Arbeit damit zu verbinden“, sagt Sides. Der 31-Jährige zählt zu den Vertretern einer jungen Generation von israelischen Street Artists, die seit einigen Jahren die Kunst der Straße in der Küstenmetropole aufblühen lassen. Es gibt Ausstellungen, Festivals und zahlreiche Führungen, etwa im Bohèmeviertel Florentin.

Doch was macht die zweitgrößte Stadt Israels zum Street-Art-Hotspot? „Man kann überall und zu jeder Zeit malen, sogar bei Tageslicht“, so Sides. Die Polizei würde sich nicht viel darum scheren, denn sie hätten viel größere Probleme. „Alles in Israel dreht sich um den Konflikt. Wir sind im Krieg groß geworden, dienten in der Armee, und auch jetzt leben wir mit der Angst vor einem Angriff. Kunst ist eine Chance, Abstand zu den Problemen zu gewinnen.“ Darum haben seine Arbeiten keine politische, sehr wohl aber eine sozialkritische Dimension.

Street Art als Ausdruck der Protestbewegung

01_Untay-at-work_(c)_Michael-OrtnerDenn die Mieten in Tel Aviv steigen seit Jahren stark an. Den Zahlen eines Reports des israelischen Staatskontrolleurs Joseph Schapira zufolge sind sie in den vergangenen fünf Jahren um 30 Prozent hochgeklettert, die Preise für Immobilien gar um 55 Prozent. „Sich ein Haus zu kaufen, ist nicht leistbar“, sagt Sides. Er selbst könnte von seiner Kunst allein nicht leben, er arbeitet nebenbei als Grafikdesigner. Auch die Lebensmittelpreise sind extrem hoch. Manche bestellen sich Rasierklingen, Shampoo oder Nudeln gleich im Ausland, da es trotz Versandkosten immer noch billiger ist, als in einem Supermarkt vor Ort einzukaufen. Erst vor Kurzem stellte das sozialwissenschaftliche Taub Center in Jerusalem fest, dass für 20 Prozent das Einkommen nicht mehr ausreicht, um ausreichend Lebensmittel kaufen zu können.

Diese Missstände treiben 2011 Zehntausende auf die Straßen von Tel Aviv und anderen Städten. Untay nimmt als Aktivist an der Protestbewegung teil. „Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit“, lautete der Slogan. Dann wurde gewählt, an den Bedingungen hätte sich aber nichts geändert. Inspiriert von den Demonstranten, die Bandanas – Kopftücher – als Schutz gegen Tränengas getragen hatten, überträgt er sie als Symbol für den Wandel in verschiedenen Farben an Hauswände und Fassaden. Das Projekt nennt er „Soul of a citizen“: „Ich will mit den Bandanas an die Menschen der Demonstrationen erinnern, weil die Medien und Politik das Thema sofort abgewürgt haben“, erzählt der Künstler. Bisher hat er rund 150 dieser Bandanas hinterlassen – bald könnten es mehr werden. Denn mit der Wahl im März 2015 flammte auch die Protestbewegung neu auf.

Brain Freeze: die fertige Arbeit von Untay in der Siebensterngasse.
Brain Freeze: die fertige Arbeit von Untay in der Siebensterngasse.

In Wien ist Sides das erste Mal – auf Einladung der Inoperable Gallery. Dort werden einige kleinere Arbeiten von ihm und anderen israelischen Street Artists wie Dede, Pilpeled oder der Broken Fingaz Crew aus Haifa im Rahmen der Ausstellung Do not disturb – Israels Urban Art gezeigt. Zu sehen sind unter anderem eine Arbeit auf einem gefundenen Holzstück, das er mit Acrylfarbe und Sprühdose bemalte, und alte Plattencover vom Flohmarkt, die ihm als „Leinwand“ dienen. Gegenübergestellt sind den Arbeiten der Street Artists die großformatigen Prints der Fotografin Leora Cheshin, die seit mehr als zehn Jahren die künstlerische Entwicklung von Street Art in Israel dokumentiert.

Zurück in der Siebensterngasse. Boaz Sides wärmt sich an einem Becher Tee, seine Finger sind von pinker und blauer Farbe überzogen. Den halben Kopf an der Wand hat er vollendet, drei bis vier Stunden werde er noch für die blauen Bänder brauchen, die aus dem Kopf wachsen. In ein paar Tagen wird er wieder nach Tel Aviv zurückkehren, auf der Suche nach abgelegenen Orten mit Geschichten. ◗

Leora Cheshin (66)
wurde in Jerusalem geboren. Als Fotografin begleitet sie seit mehr als zehn Jahren die Entwicklung der Street Art in Israel. Die Szene in Tel Aviv, Kfar Saba, Haifa und Jerusalem dokumentierte sie in zwei Fotobüchern – Befriend your Demon (2009) und Do not disturb (2012). Mit ihren großformatigen Prints hat sie an zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen teilgenommen. Cheshin ist außerdem Mitglied in der Jerusalemer Kunstvereinigung. Die Fotografin lebt und arbeitet in Jerusalem.

Boaz Sides (31)
studierte visuelle Kommunikation am Holon Institute of Technology. Er lebt und arbeitet in Tel Aviv als Street Artist und Grafikdesigner. Unter dem Pseudonym Untay malt er im öffentlichen Raum auf Wänden, im Atelier arbeitet er mit verschiedensten Materialien wie Papier, Karton oder Holz. Seine Werke sind sowohl autobiografisch als auch sozialkritisch beeinflusst. Neben einer Vielzahl von Ausstellungen in Israel war er 2015 auch an einer Gruppenausstellung in London beteiligt.

Do not disturb – 
Israels Urban Art 
Bis 25. April 2015
Inoperable Gallery, Stiegen-
gasse 2/3, 1070 Wien;
Di.–Fr., 12–18 Uhr, Sa., 12–16 Uhr
inoperable.at 

Bilder: © Inoperable Gallery

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