Raketen auf Tel Aviv

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Fortan gehört die hedonistische Mittelmeermetropole zur Front, auch wenn hier nur fünf Mal Luftalarm ausgelöst worden ist. Nachrichten aus Tel Aviv von Gisela Dachs.

Homöopathische Mittel, davon sind ihre Anhänger überzeugt, können trotz minimaler Dosierung einen starken Effekt erzeugen, da sie systemverändernd wirken.

In diesem Sinn kann man die Raketenangriffe auf Tel Aviv einordnen, die von der Hamas in Gaza als neues Kriegsmittel gegen Israel eingesetzt wurden. Es waren nicht viele. Die dumpf klingenden Explosionen nach dem Versiegen der Sirene ließen sich an den Fingern abzählen. Es hilft auch zu wissen, dass die „Eiserne Kuppel“ gut funktioniert und die feindlichen Geschosse bereits hoch oben im Himmel abgewehrt hat. Nur ein einziges Mal trafen die herunterfallenden Teile ein Auto und steckten es in Brand. Der Schaden blieb in Grenzen.

Maya weigerte sich während dieser Tage, ins Auto zu steigen, weil sie nicht sicher sein konnte, welcher Schutz ihr im Alarmfall zur Verfügung stand.

Trotzdem veränderte die Sirene etwas am Bewusstseinszustand. Dass die Cafés und der Strand dennoch ziemlich voll waren und sich in diesen Tagen junge Leute gleichsam ungerührt über ganz andere Dinge unterhielten, ändert daran nichts. Seit zwanzig Jahren hatte man in der Stadt den langgezogenen durchdringenen Ton nicht mehr gehört. Außer natürlich in den Fernsehberichten über die Raketenangriffe im Süden. Aber für Tel Aviver war der Alltag dort, oft nur dreißig Kilometer entfernt, Lichtjahre weit weg gewesen. Es gab immer eine Art unsichtbare Grenze, die ihre Stadt zu schützen schien. Und auf einmal klang der lapidare Satz, hunderte von Malen in den Nachrichten gehört, ganz anders in den Ohren: „Eine Rakete schlug in Sderot/Ashdod/Netivot ein, es gab weder Verletzte noch Sachschaden.“ Da fragten sich vor allem die Mütter entsetzt, wie das die Eltern im Grenzgebiet zu Gaza wohl bloß immer machen. Bleiben ihnen doch nur 15 Sekunden bis zum Einschlag.
Die Tel Aviver sind noch gut dran
Sie haben ganze 90 Sekunden Zeit, um Schutz zu suchen. Sei es in einem fensterlosen Treppenhaus, im Bunker oder notfalls auf dem Boden liegend mit den Armen über dem Kopf. Nach dem ersten Raketenalarm in ihrem Leben erstellte die siebenjährige Maya eine Länderliste in bunten Farben. Auf ein Blatt Papier schrieb sie alle Staaten der Welt, die zu Israels Freunden oder, vielleicht besser gesagt, nicht offiziell zu dessen Feinden gehören. Die lange Liste hat das Mädchen ein wenig beruhigt. „Dann ist unsere Lage ja vielleicht doch nicht so schlimm“, sagte sie.

Aber ihre Angst blieb erst einmal. Sie wollte nicht mehr alleine schlafen, ließ niemanden mehr duschen, weil man so ja nicht sprungbereit ist, wenn die Sirene ruft. Den Kindern aus ihrer Klasse ging es ähnlich. Sie stellten praktische Fragen: Hört man die Sirene beim Haareföhnen? Was macht man, wenn man gerade auf dem Klo sitzt? Ist nachts genug Zeit, um sich etwas überzuziehen? Soll man einfach barfuß zwei Stöcke tiefer laufen? Was ist sicherer: im Treppenhaus ausharren oder den entfernteren Schutzkeller aufsuchen?

Maya weigerte sich während dieser Tage, ins Auto zu steigen, weil sie nicht sicher sein konnte, welcher Schutz ihr im Alarmfall zur Verfügung stand. Die Vorstellung, sich einfach bloß auf den Boden zu legen und den Kopf in den Armen zu verbergen, gefiel ihr gar nicht. Also blieb sie zu Hause.

In psychologischer Hinsicht ist es für einen Soldaten leichter, mit einer solchen Situation umzugehen, sagt ein älterer Israeli, der es wissen muss. Während dieser aktiv etwas tun könne, um sich zu verteidigen, seien die daheim der Bedrohung passiv ausgeliefert.

Als während des Golfkriegs 1991 die Raketen in Tel Aviv einschlugen, hatten sich die Menschen vor irakischen Angriffen mit chemischen Waffen gefürchtet. Sie saßen mit Gasmasken in versiegelten Räumen und harrten wochenlang ihrem Schicksal. Manche setzten sich irgendwann darüber hinweg, andere verließen fluchtartig die Stadt. Über diese besondere Atmosphäre in Tel Aviv, wo nach allgemeiner Auffassung lauter Privilegierte, Künstler, Linksintellektuelle und die meisten Kriegsdienstverweigerer lebten, wurden später Filme gedreht. In den letzten Jahren klagten die Menschen im Süden oft, dass man in Israel erst wirklich von ihrem Schicksal Notiz nehme, wenn auch die Tel Aviver betroffen seien. Falls es diese berüchtigte Tel Aviver „Blase“ tatsächlich je gegeben hat, ist sie nun jedenfalls geplatzt.

Im Bruchteil einer Sekunde versucht das Hirn erschrocken herauszufiltern, ob das schon wieder ein Warnzeichen ist, das einen zur Flucht antreiben soll.

Auch wenn das Leben während der Sirenentage weiterhin seinen gewohnten Gang ging. Die Läden waren alle offen, die Lehrer unterrichteten, Banken und Büros funktionierten: Die Sirene hat etwas im Unterbewusstsein verändert, das fortan anders als früher auf Alltagsgeräusche reagiert. Das kann eine Autoalarmanlage sein, die plötzlich in der Nachbarschaft loslegt, oder eine Tonlage in einem Lied im Radio. Im Bruchteil einer Sekunde versucht das Hirn erschrocken herauszufiltern, ob das schon wieder ein Warnzeichen ist, das einen zur Flucht antreiben soll. Vielleicht lassen solche Reflexe nach einiger Zeit ja wieder nach. Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist es besser, dass sie bleiben, damit einen die Sirene beim nächsten Mal nicht mehr überrascht.

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