„Rechtsextreme und Islamisten spielen sich die Bälle gegenseitig zu“

Fast 13 Jahre bestimmte Raimund Fastenbauer als Generalsekretär für jüdische Angelegenheiten die Geschicke der IKG Wien mit. Ende September scheidet er aus diesem Amt aus und übergibt das Generalsekretariat an Benjamin Nägele. WINA sprach mit ihm zum Abschied über Meilensteine, Herausforderungen und das ewige Thema Antisemitismus.

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©Daniel Shaked

WINA: Sie sind seit 2006 Generalsekretär der IKG Wien. Bald wechseln Sie in den Ruhestand. Sind Sie froh, dass diese Aufgabe dann hinter Ihnen liegt, oder steht die Wehmut im Vordergrund?
Raimund Fastenbauer: Ich scheide mit Wehmut, denn die Arbeit für alle Gemeindemitglieder unabhängig von ihrer Religiosität oder landsmannschaftlichen Zugehörigkeit war mir sehr wichtig. Aber ich denke, es ist besser, in den Ruhestand zu gehen, wenn das, wie ich hoffe, bedauert wird, als zu einem Zeitpunkt, an dem man sich fragt, „na, wie lange will der noch bleiben“.

Welche sind die Schwerpunkte der Arbeit eines Generalsekretärs für jüdische Angelegenheiten?
❙ Das ist der Kampf gegen den Antisemitismus, die Sicherung der freien Religionsausübung hinsichtlich Brit Mila und Schechita, die Zusammenarbeit mit den Rabbinern, die Solidarität mit Israel und die Unterstützung von Projekten der Friedhofssanierung. Das Wichtigste sind aber die jüdische Identitätsbildung und der Blick in die Zukunft. Bei aller Bedeutung, die die Schoah für uns hat – und wir dürfen nicht aufhören, über sie zu reden –, denke ich, wir sollten unser Judentum mit positiven Inhalten definieren und nicht mit einem Selbstverständnis, das uns von außen aufgezwungen wurde, als bloße „Schicksalsgemeinschaft“. Am meisten Genugtuung hat es mir aber gegeben, wenn ich einfach einem Gemeindemitglied helfen konnte.

Was waren aus Ihrer Sicht positive Meilensteine für die IKG während der letzten Jahrzehnte?
❙ Einerseits, dass Versuche, die freie Religionsausübung einzuschränken, gescheitert sind, nicht zuletzt auch durch Unterstützung der anderen Religionsgemeinschaften und der Politik; und nicht zuletzt, was den Antisemitismus betrifft, dass es am Heldenplatz zu einer anderen Art des Gedenkens gekommen ist. Die Auseinandersetzung mit dem so genannten Totengedenken am 8. Mai war für mich persönlich sehr wichtig. In Wirklichkeit war das eine Trauerkundgebung für die Nazi-Niederlage durch Burschenschafter, das sich eben inzwischen umgedreht hat zu einem „Fest der Freude“ ob dem Sieg über die Nazis. Es war mir auch wichtig, den Umstand in der Öffentlichkeit in Erinnerung zu rufen, dass nach 1945 österreichische Regierungen und Diplomaten am Heldenplatz Kränze vor einem Soldatenmahnmal mit einer zugemauerten Nazi-Rolle niederlegten, das von einem illegalen Nationalsozialisten konzipiert worden war. Damit hat man aufgehört.
Für die Identitätsfindung war die Etablierung jüdischer Erziehung wichtig, von der Errichtung der jüdischen Volksschule 1979 in der Seitenstettengasse über den Standort in der Castellezgasse bis zum heutigen Campus in der Simon-Wiesenthal-Gasse. Heute ist die ZPC-Schule etabliert. Als die erste jüdische Volksschule öffnete, kann ich mich erinnern, wie unangenehm berührt die damalige Leitung der jüdischen Gemeinde war, nämlich davon, dass so viele Kinder gleich am ersten Schultag in drei Klassen erschienen sind. Heute gibt es ein vielfältiges jüdisches Schulwesen.

»Ich glaube, dass durch die jüdischen Schulen
auch die verschiedenen Gruppen, die hier leben,
Aschkenasim, Sefardim, Grusinim,
langsam zusammenwachsen.«

Raimund Fastenbauer

 

Warum unangenehm berührt?
❙ Weil die damalige Gemeindeführung aus ihrer assimilatorischen Einstellung heraus einer jüdischen Schule nicht positiv gegenübergestanden sind. Wenige Jahre später hat die IKG die Schule übernommen.

Was hat sich durch die jüdischen Schulen – es gibt ja inzwischen mehrere – verändert?
❙ Ein anderes Bewusstsein, die Möglichkeit, sich frei zu entwickeln, ohne wie an einer nicht jüdischen Schule ständig erklären zu müssen und darum zu kämpfen, dass man an jüdischen Feiertagen zu Hause bleibt oder Schularbeiten verlegt werden. Es gibt nun die Selbstverständlichkeit, in einer jüdischen Umgebung aufzuwachsen, um dann in der Folge selbst zu entscheiden, welchen jüdischen Weg man imstande und bereit ist zu gehen. Ob der jetzt mehr oder weniger religiös ist, ist eine individuelle Entscheidung. Aber das Wissen sollte für alle da sein.

Haben Sie das Gefühl, dass das zu mehr Zusammenhalt geführt hat in den jüngeren Generationen?
❙ Ich glaube schon, und ich glaube auch, dass durch die jüdischen Schulen auch die verschiedenen Gruppen, die hier leben, Aschkenasim, Sephardim, Grusinim, langsam zusammenwachsen. Da gibt es auch sehr viele Beziehungen und auch schon Ehen. Das konnte man sich in den ersten Jahren gar nicht so vorstellen.

Das heißt, neben dem Bildungsziel wurde auch innerjüdische Integration erreicht.
❙ Ja, dazu hat der gemeinsame Schulbesuch sehr viel beigetragen.

An welche schwierigen Situationen können Sie sich in Ihrer Zeit als Generalsekretär erinnern, und wie konnten diese gemeistert werden?
❙ Die Geschichte mit der Aula hat mich sehr beschäftigt, gerade auch, weil sie meinen persönlichen Freund Rudi Gelbard s. A., der inzwischen leider schon verstorben ist, als unmittelbar Betroffenem und anderen Überlebenden sehr nahegegangen ist. Wir haben immer – und das war das Verdienst der Präsidenten Ariel Muzicant und Oskar Deutsch, die für die politischen Aussagen verantwortlich sind – mit einer klaren Stimme gesprochen, egal, von woher der Wind geweht hat, weil Antisemitismus kennen wir ja von drei Richtungen, aber jeder sieht ihn nur beim anderen. Die extreme Rechte, die ihre eigene Vergangenheit vergessen machen will, sieht den Antisemitismus beim politischen Islam. Die antizionistische Linke, stark etwa in England, sieht ihn nur bei den Rechten oder, polemisch gesagt, bei den toten Juden und hasst den Staat der lebenden Juden. Und die Muslime sind überhaupt unschuldig, weil sie selbst Fremdenfeindlichkeit ausgesetzt sind; und wenn es Antisemitismus gibt, dann ist es exportierter Antisemitismus in den Nahen Osten, und was an antijüdischen Aussagen bereits im Koran steht, fällt total unter den Tisch. Wir haben das Problem mit allen Seiten.
Man muss da einen Weg der Mitte gehen: einerseits aus unserer eigenen Tradition heraus, da wir ja häufig selbst Flüchtlinge gewesen sind; Flüchtlingen, die Asyl suchen, positiv gegenüberzustehen, aber andererseits der nichtjüdischen Öffentlichkeit bewusst machen, dass durch eine unkontrollierte Zuwanderung, insbesondere von Menschen aus dem nahöstlichen Raum, wo sie seit Kindertagen mit antisemitischen Vorurteilen konfrontiert sind, für die Juden nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa eine Gefahr besteht; und da war es nicht einfach, den richtigen Weg zwischen den beiden Polen zu finden.

»Inzwischen gibt es einen steigenden Rechtsextremismus, insbesondere in Deutschland auch politische Morde, in Ostdeutschland sogar offene Aufmärsche von NeonaziGruppierungen.«
Raimund Fastenbauer

 

Ist diese Differenzierung beim politischen Gegenüber beziehungsweise bei einer breiteren Öffentlichkeit angekommen?
❙ Ich glaube, nach einiger Zeit schon. Was uns natürlich nicht daran hindern sollte, gegen jede Form einer pauschalisierenden Fremdenfeindlichkeit aufzutreten. Heute ist es im Übrigen ja oft so, dass man erkennt, dass nicht nur manche der Flüchtlinge und Zuwanderer das Problem sind, sondern die zweite und dritte Generation der Gastarbeiter, also deren Kinder und Enkel, die nicht wirklich integriert worden sind. In den Sechziger- und Siebzigerjahren hat man Gastarbeiter hergeholt, die die „Drecksarbeit“ machen sollten, die die Österreicher nicht bereit waren zu tun; aber man hat nicht so weit human gedacht, dass sie auch Familien haben, die nachkommen. Da hat man sich nicht wirklich um die Integration gekümmert, und wenn Sie mir dieselben Fragen, die Sie mir heute stellen, vor vielleicht acht oder zehn Jahren gestellt hätten, hätte ich Ihnen gesagt, dass die Muslime in Österreich, anders als vielleicht in Frankreich, in Belgien oder in Skandinavien, eigentlich überhaupt kein Problem darstellen, weil sie mehrheitlich aus der Türkei oder aus Ex-Jugoslawien, aus Bosnien, kommen und dort nicht so eine Radikalität ist wie im Nahen Osten. Inzwischen hat sich das total geändert.

Hat das mit der Politik in der Türkei zu tun?
❙ Ja, einerseits, mit der Türkei Erdoğans, aber auch mit dem verstärkten Einfluss Saudi-Arabiens in Bosnien. Da kommen jetzt Einflüsse durch die Gruppierungen des politischen Islams nach Österreich. Und die Problematik fängt ja nicht bei den Terroristen an, bei den Dschihadisten, sondern bereits bei den Muslimbrüdern und ähnlichen Gruppierungen, die in Österreich recht gut verankert sind.

Wenn wir das Thema Antisemitismus insgesamt beleuchten – Sie haben die verschiedenen Ausprägungen bereits skizziert: Von wem geht wirklich eine Bedrohung für die jüdische Gemeinde aus?
❙ Vor ein, zwei Jahren war der Antisemitismus von der Seite des politischen Islam angesichts diverser Anschläge von Frankreich bis Skandinavien auch in Österreich stärker im Vordergrund. Inzwischen gibt es auch einen steigenden Rechtsextremismus, insbesondere in Deutschland, auch politische Morde, in Ostdeutschland sogar offene Aufmärsche von Neonazi-Gruppierungen. Manche politischen Entwicklungen kommen immer mit einiger Verspätung nach Österreich. Also wir sind Gefahren von beiden Extremen ausgesetzt, die sich auch teilweise immer auf die Gegenseite berufen und sich damit rechtfertigen. Die Rechte sagt: die Zuwanderung, die Islamisten. Die Islamisten sagen: Es gibt die Rechten, die islamfeindlich sind und die keine Integration zulassen. Und so spielen sie sich die Bälle immer gegenseitig zu. Das ist wie Pest und Cholera.

Nun lautet die Gretchenfrage: Wie kann man Antisemitismus Ihrer Meinung nach wirksam begegnen?
❙ In dem man Aufklärungsarbeit betreibt, indem man sich nicht zurückzieht und auch nach vorne denkt, nicht schweigt, dem offen entgegentritt, sich dabei natürlich Verbündete sucht. Das ist eine sehr langwierige Arbeit. Antisemitismus hat leider eine Jahrtausende alte Tradition und Geschichte, er wird nicht von heute auf morgen verschwinden. Aber wir müssen aktiv sein, und wir sind in einer besseren Situation, als Generationen vor uns gewesen sind, weil wir den Staat Israel haben. In diesem Sinn setze ich besondere Hoffnung auf die jüdische Jugend, etwa die Hochschüler, die sich in Wien zu einem enorm aktiven Faktor im Kampf gegen Antisemitismus und für den Staat Israel entwickelt haben.

Sie haben nun gesagt: Man muss laut sein. Man muss Antisemitismus ansprechen und soll sich nicht verstecken. Das ist aber etwas, das teilweise passiert, wenn es in Deutschland Empfehlungen gibt, nicht mit Kippa auf die Straße zu gehen. In Wien hat man das Gefühl, es ist eine selbstbewusste Gemeinde, und es ist auch der Antisemitismus, zumindest in Bezug auf tätliche Übergriffe, nicht so spürbar wie in Deutschland, Frankreich oder auch England. Man könnte also sagen, für Jüdinnen und Juden ist es in Wien relativ sicher.
❙ Relativ. Die Diskussion über diese Empfehlung war berechtigt, und die Kippa zu verstecken, ist nicht die richtige Antwort, aber so wie es der Antisemitismusbeauftragte gemeint hat, ist es eine realistische Aussage, da es leider in der Tat in manchen Gegenden von Paris und Brüssel oder eben auch in Berlin in der Tat nicht empfehlenswert ist, mit einer Kippa zu gehen.

Was läuft dann in Wien besser als anderswo, weil hier kann man mit Kippa gehen. Es gibt zwar auch hier Zwischenfälle, aber keine Messerangriffe.
❙ Ich habe vorhin gesagt, manchmal kommen politische Entwicklungen nach Wien mit einiger Verspätung. Ich hoffe nicht, dass das die Erklärung ist, sondern vielleicht sind wir ein bisschen besser dran als andere Gegenden Europas, aber ich würde mich nicht darauf verlassen.

Könnte das doch mit den politischen Rahmenbedingungen zusammenhängen? Jüdische Einrichtungen in Wien werden gut bewacht. Oder liegt es vielleicht auch am Konzept der Gemeinde, wie sie für Sicherheit sorgt und das Gespräch mit den politisch Verantwortlichen sucht?
❙ Vielleicht ist es in der Tat gelungen, den politische Verantwortlichen sowohl auf lokaler wie auch Bundesebene die Problematik nahe zu bringen. In der Sicherheitsthematik unterstützt man uns in der Tat sehr.

Worin sehen Sie die Herausforderungen für die Wiener jüdische Gemeinde in den kommenden Jahren?
❙ Abgesehen vom Problem der Sicherheit der jüdischen Gemeinden in Europa sehe ich eine Herausforderung auf demografischem Gebiet. Wir brauchen eine jüdische Zuwanderung, und die wird in der momentanen politischen Situation nicht leicht erzielbar sein. Wir waren da in der Vergangenheit leider auch nicht erfolgreich. In den Ziffern hat sich das noch nicht so niedergeschlagen, weil wir – bei registrierten Mitgliedern von etwa 7.900 Personen – von einer tatsächlichen Anzahl von Juden in Österreich von zwischen 12.000 und 15.000 ausgehen. Es gibt insofern ein Reservoir von nicht registrierten Juden, in dem man sozusagen fischen kann. Aber wir haben eine Auswanderung insbesondere bei der Jugend, die entweder im Ausland studiert und dann nicht zurückkommt oder, insbesondere in der Orthodoxie, sich den Ehepartner im Ausland sucht und in andere jüdische Zentren auswandert, wie etwa Manchester, Antwerpen, London, die USA oder Israel.
Wir haben da eine Abwanderung. Diese wird sich in den kommenden Jahren verstärkt durchschlagen, und wir müssen uns tatsächlich sehr bemühen, um eine Zuwanderung zu erzielen. Es gibt eine geringe Zuwanderung innerhalb der EU. Wien hat zwar eine stark ausgeprägte jüdische Infrastruktur, die andere Gemeinden mit mehr Mitgliedern, etwa in Deutschland, nicht haben; aber Zuwanderung von außerhalb der EU ist dennoch nahezu unmöglich, weil die Anforderungen der Rot-Weiß-Rot-Karte einfach zu hoch gesteckt sind.

Ist das aber nicht ein bisschen ein Dilemma: Da hat man die jüdischen Schulen und schafft mehr Jüdischkeit, was aber auch zu mehr Religiosität führt – und in der Folge zu mehr Abwanderung. Wenn ich mich wiederum nicht um jüdische Erziehung kümmere, habe ich mehr Assimilation und verliere so Mitglieder.
❙ Ich sehe das nicht als Dilemma. Ob jemand nach Israel oder auch nicht nach Israel geht, ist seine bzw. ihre persönliche Entscheidung, die jede und jeder für sich treffen wird. Aber wenn ein Gemeindemitglied nach Israel geht, würde ich das persönlich nicht in dem Maße bedauern, wie wenn ich sehe, dass sich ein Gemeindemitglied assimiliert, einen nicht jüdischen Ehepartner sucht und seine Kinder dann nicht mehr in eine jüdische Schule schickt. Das ist für mich nicht gleichzusetzen. Für die Statistik ist aber beides relevant, das stimmt.

Haben Sie Empfehlungen für Ihren Nachfolger?
❙ „Empfehlungen“ würde so klingen, wie wenn ich ihm sozusagen Anweisungen geben würde. Das möchte ich nicht tun. Es muss jeder seinen eigenen Weg gehen. Ich werde ihn, so gut ich kann, unterstützen und in manchen Bereichen in anderer Form vielleicht weiter aktiv sein.


Raimund Fastenbauer,
geb. 1950 in Wien, studierte Judaistik und Politikwissenschaft an der Universität Wien sowie Wirtschaftswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er war viele Jahre in der Privatwirtschaft tätig, bevor er im Frühjahr 2006 sein Amt als Generalsekretär für jüdische Angelegenheiten der IKG Wien antrat. Bereits zuvor engagierte er sich intensiv für die jüdische Gemeinde, etwa als Mitglied des Kultusvorstands oder Gründungsmitglied des Schulvereins der Zwi-Peres-Chajes-Schule. Im Vorjahr ergänzte er sein 1975 erworbenes Magisterium um ein Doktorat. In seiner Dissertation behandelte er das Thema Antisemitische Motive als „cultural code“ im Diskurs des modernen Antizionismus im Internet und deutschsprachigen Printmedien. In der Arbeit, die an der Uni Wien vom Institut für Judaistik und der islamischen Religionspädagogik betreut wurde, verglich er traditionelle antisemitische Motive (christlich, rassistisch) mit antijüdischen Motiven im Koran und ging der Frage nach, wie sich beides im modernen Antizionismus mischt. Fastenbauer ist verheiratet mit Elisheva und Vater von zwei erwachsenen Kindern.

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