Renaissance oder Folklore? „Jiddisch war ja nie ganz tot“

Thomas Soxberger, Judaist, Jiddist, Übersetzer, Lyriker und Redakteur im Pressedienst des Parlaments, über seinen Weg zum Jiddischen, die Faszination der Sprache und Kultur und über Jiddisch heute.

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THOMAS SOXBERGER studierte Judaistik und Geschichte an der Universität Wien. Postgraduale Studien an der London University. Er arbeitete an verschiedenen Forschungsprojekten und publizierte eine Reihe von Fachartikeln sowie Bücher zur jiddischen Literatur. Seit über zehn Jahren ist er als Redakteur im Pressedienst des Parlaments beschäftigt. © Konrad Holzer

Zwei Bücher aus dem Leyvik-Haus in Tel Aviv hat Daniel Galay für Thomas Soxberger mitgegeben. An der prächtigen Außenstelle des Parlaments am Wiener Stubenring empfängt uns Soxberger nach Dienstschluss in seinem Büro. Dass er einmal hier residieren würde, dass er davor als akademisch ausgebildeter Judaist, Kenner und Aficionado des Jiddischen zum Judentum konvertieren würde, all das war ihm sicherlich nicht an seiner Wiege gesungen worden, die in Waidhofen stand.

WINA: Was bringt einen Bauernsohn aus dem niederösterreichischen Mostviertel zum Jiddischen? Was war da der Auslöser, denn es muss wohl einen gegeben haben?
Thomas Soxberger: Es war der besondere Zeitgeist der 1980er-Jahre, die Waldheim-Zeit, die Diskussionen in Österreich aufgebrochen hat. Ich bin dann zufällig auf den Schriftsteller Manès Sperber gestoßen, der mich fasziniert hat, vor allem seine dreibändigen Memoiren und seine Essays zur jiddischen Literatur. Dann hat mir ein Freund eine Platte mit jiddischen Liedern vom „Zupfgeigenhansel“ gegeben. Und ich habe ein Interview von Geduldig und Thiman mit Kantor Abraham Adler im Radio gehört. Literatur und Musik, die Klezmer-Bewegung, die in den Achtzigern begonnen hat, da entstand ein allgemeines Interesse für das Jiddische, das damals als „Jiddisch-Renaissance“ bezeichnet wurde, es war aber eher eine Renaissance des Interesses. Aber als ich begonnen habe, mich mit dem Jiddischen zu beschäftigen, waren jiddische Bücher kaum zugänglich. In Wien gab es nur die kommunistische Buchhandlung „Das Internationale Buch“, die Bücher aus der damaligen Sowjetunion importierte, da waren einige jiddische Bücher darunter. In Paris lernte ich dann die Medem-Bibliothek der Bundisten kennen, da sah ich erstmals viele jiddische Bücher an einem Ort. Das war ein unvergleichliches Erlebnis.

Ihr Interesse hat Sie dann zu Ihrem Studium geführt. Wie war da Ihr Ausbildungsweg?
I Als ich erfahren habe, dass man bei Professor Jacob Allerhand an der Judaistik auch Jiddisch studieren konnte, habe ich Hebräisch und Jiddisch gelernt und Judaistik und Geschichte studiert. Weil mir das nicht genug war, habe ich dann in Oxford einige der jiddischen Sommerkurse mitgemacht. Gegründet hat sie Dovid Katz, der meinte, man könne nicht immer nur den Tod der Sprache beklagen, sondern müsse etwas dagegen tun, damit es einen „hémschech-dor“, eine Nachfolgegeneration gibt. Er hat in den Kursen die Generation der noch lebenden Vertreter und Vertreterinnen des Jiddischen mit jungen Leuten zusammengebracht. Nach Abschluss meines Studiums in Wien hab ich mit einem Stipendium in London an der School of Oriental and African Studies einen Post-Graduate-Intensivkurs für Jiddisch absolviert.

„Die Faszination an der Sprache geht Hand in Hand mit der Religion.“
Thomas Soxberger

Ist man nach der akademischen Ausbildung nun ein Jiddischist oder ein Jiddist?
I Jiddischist ist, wer eine Gesamtideologie vertritt, den Jiddischismus, also Jiddisch als eine Art Weltanschauung und Kultur. Der stand historisch auch in – teilweise scharfer – Opposition zum Hebräismus, der die hebräische Sprache zur Basis der jüdischen Kultur erklärt. Jiddist ist eine akademische Bezeichnung wie Germanist. In Wien ist bisher keine Jiddistik entstanden, Jiddisch war aber seit den 1970ern etabliert als ein Wahlfach im Rahme der Judaistik. Auch seitens der Germanistik gab es ein starkes Interesse für dieses Wahlfach. In Deutschland wurde die Jiddistik aus der Germanistik entwickelt, dort gibt es sogar gut etablierte Lehrstühle.

Offenbar hat Sie das Interesse für die Sprache auch zur Religion geführt, und Sie sind zum Reform-Judentum übergetreten. Wie hat Ihre katholische Familie darauf reagiert?
I Die Faszination an der Sprache geht Hand in Hand mit der Religion. Für mich gehört das zusammen. Es war eine Suche und hat sich irgendwie konsequent ergeben. Ich bin Vorstandmitglied bei Or Chadash, begehe dort die Feiertage und nehme aktiv am Gemeindeleben teil. Meine Familie hat sich damit abgefunden, dass ich meinen eigenen Weg gehe.

Sie sind auch Übersetzer aus dem Jiddischen und selbst Autor. Wie kam es zu den eigenständigen jiddischen Dichtungen?
I Ich suchte nach einer Möglichkeit, mich jiddisch auszudrücken. Ich habe Lyrik geschrieben und sogar in jiddischen Zeitschriften publiziert. In den 1980erJahren, der Zeit der Öffnung Osteuropas, hat die Moskauer Zeitschrift Sowjetisch Hejmland mit einem Programm einen letzten Versuch unternommen, jiddische Journalisten und Schriftsteller auszubilden. Daraus sind unter anderem meine späteren Lehrer Mikhail Krutikow und Gennady Estraikh hervorgegangen, die nun in den USA sind. Estraikh hat dann in Oxford ab 1994 ein paar Jahre die jiddische Literaturzeitschrift Di pen redigiert, und dort sind meine ersten jiddischen Gedichte erschienen. Ich habe dann auch übersetzt, unter anderem einen modernistischen Roman von Israel Rabon, Die Gass – Die Straße. Dann Gedichte Wiener jiddischer Autoren der Zwischenkriegszeit unter dem Titel Nackte Lieder. Der Band ist, wie auch meine Dissertation Revolution am Donaukanal, im Wiener Mandelbaum Verlag erschienen.

„Das Klezmer-Phänomen ist Teil
einer Erinnerungskultur
und eines Revivals.“

Wie hält man heute im deutschsprachigen Raum Jiddisch als gesprochene Sprache am Leben, haben Sie eine Möglichkeit, es aktiv zu praktizieren?
I Ja, es gibt einige Leute aus den Jiddisch-Programmen, mit denen ich Kontakt halte. In Deutschland gibt es zum Beispiel Jiddisch-Konferenzen, auf denen Vorträge in Jiddisch und Deutsch gehalten werden können. Und da wird zwischendurch auch Jiddisch als Lingua franca gesprochen unter Leuten, die sich für die Sprache interessieren und Kurse gemacht haben.

Beobachten Sie auch die vielzitierte „Renaissance“ des Jiddischen?
I Eine Renaissance im eigentlichen Sinne der Wiederbelebung ist es nicht, weil es nie ganz tot gewesen ist. Das, was wahrgenommen wird, ist ein Medienphänomen, wie etwa bei der Netflix-Serie Shtisel. Jiddischsprachige Menschen und ihre Kultur waren ja immer da, nur wurden sie medial nicht wahrgenommen, für mich hat das so einen Beigeschmack, wenn man von „Renaissance“ spricht. In erster Linie geht es um Bemühungen von Leuten, die etwas, das ihnen wichtig ist, bewahren und weitergeben wollen. Ich kenne einige, die vom familiären Hintergrund her noch Jiddisch sprechen, aber in Wien war Jiddisch immer ein Randphänomen, die säkulare moderne jüdische Kultur war selbstverständlich das Deutsche.

Eine Rolle beim Revival des Jiddischen spielt die Musik. Klezmer-Sänger lernen jiddische Liedtexte. Wie authentisch ist diese jiddische Folklore?
I Klezmer spricht Emotionen an, beliebt sind meist kurze, leicht verständliche Liedtexte. Die ersten Aufnahmen von Geduldig und Thiman hatten eine große Breitenwirkung. Das Phänomen kam aber aus Amerika. Als sich ab den 1960er-Jahren Menschen ihrer ethnischen Wurzeln besonnen haben, traf sich das mit einer jungen jüdischen Generation auf der Suche nach ihrer Identität, auch im Verhältnis zu Israel. Das Klezmer-Phänomen ist Teil einer Erinnerungskultur und eines Revivals.

Wie kam es zur Ausbildung einer jiddischen Hochsprache, die überregional gültig ist?
I Ein wichtiger Faktor war die jiddische Presse, ein weiterer das jiddische Theater. Die jiddische Sprache war immer in ganz viele Dialekte differenziert, die Bühnensprache war ein Kompromiss, damit das Publikum überall möglichst viel versteht. Daraus ist ein TheaterJiddisch als eine eigene „Standardsprache“ entstanden. In Polen und in anderen Ländern war es dann vor der Shoah die jiddische Schulbewegung, die festlegte, wie man Jiddisch sprechen sollte. Die Initiative zu Regeln und Norm wurde auch ausgelöst durch eine jiddische Presse und Druckwerke, eine Schriftsprache und Literatursprache muss ja überregional zugänglich sein. Das moderne Jiddisch hatte in der großen jüdischen Auswanderungsbewegung zu Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige Kommunikationsfunktion und wurde auch in Amerika eine Lingua franca.

Sie sind nun hauptberuflich in der Parlamentsdirektion tätig. Wo und wie bringen Sie da Ihre Ausbildung als „Jiddist“ unter oder ein?
I Es war in den Neunzigerjahren für mich schwierig, im akademischen Bereich Fuß zu fassen, daher hatte ich vorerst einen Teilzeitjob im Parlament angenommen und bin seit mehr als zehn Jahren Redakteur im Pressedienst des Parlaments, d. h. ich schreibe Presseaussendungen und Zusammenfassungen von Parlamentsausschüssen und Nationalratssitzungen. Das Jiddische kommt dabei leider etwas zu kurz. Ich bin Vollzeit beschäftigt und kann daher auch nicht mehr unterrichten. Mit meinen Jiddisch-Ambitionen muss ich vermutlich auf meine Pension warten.

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