
Das neue Schuljahr hat wie geplant am 1. September begonnen. Pünktlich, kein Streik. Zweieinhalb Millionen Schülerinnen und Schüler sind damit zurück zur Routine. Zu den Erstklässlerinnen gehört auch Abigail Idan. Vor zwei Jahren war sie von der Hamas nach Gaza verschleppt worden, fünfzig Tage später kehrte sie zurück – als Waise. Jetzt trägt sie stolz den großen Schulranzen auf dem Rücken. Das Leben muss weitergehen.
Und in die erste Schulwoche fiel dann auch gleich der siebenhundertste Tag seit dem 7. Oktober 2023. Auf dem Programm standen Aktivitäten, die sich mit dem Schicksal der Geiseln beschäftigten; es ging um das Befinden der Soldaten und der Verletzten, um die Unterstützung von Trauerfamilien sowie Hilfe für die Kinder von Berufssoldaten und Reservisten. 48 Minuten sollten den 48 verbliebenen Geiseln gewidmet werden.
Doch das Programm schien seltsam losgelöst von der politischen Realität. Denn der Regierungschef will plötzlich kein Abkommen mehr, das zumindest einen Teil der Geiseln zurückbringen würde. Wenigsten nicht mehr, seit die Hamas dem Vorschlag zugestimmt hat. Ein solcher Deal sei nicht mehr relevant, sagt Netanjahu, inzwischen gehe es ihm nur mehr um ein umfassendes Abkommen, also alle verbliebenen Geiseln auf einmal zurück, ein Ende des Krieges, aber zu israelischen Bedingungen: Sicherheitskontrolle über Gaza, dessen Demilitarisierung und die Entwaffnung der Hamas.
Manche gehen wieder zurück an die
Front, wenn sie gerufen werden. […] das
Gehirn ist auf das Kriegsgeschehen gepolt,
und mit ihm kommen sie besser klar
als mit dem zivilen Alltag.
Unklar bleibt, was genau ihn zum Umdenken veranlasst hat. Und Erklärungsbedarf gibt es. Auch aus der Sicht vieler Reservisten, die sich gerade erneut anschicken, in Uniform zu schlüpfen, um Gaza-Stadt zu erobern. Offenbar soll die geplante Militäroperation jetzt erst einmal beginnen und so die Hamas noch stärker unter Druck gesetzt werden.
Die bittere Wahrheit aber ist, dass auch zwei lange Jahre Krieg eine Terrororganisation wie die Hamas nicht zum Hissen der weißen Flagge gebracht haben. 900 israelische Soldaten sind inzwischen seit dem 7. Oktober gefallen. Deshalb warnten sämtliche militärischen Sicherheitsberater vor einer Übernahme von Gaza-Stadt durch die Armee, und selbst Netanjahus eigene Likud-Minister zweifelten am Erfolg der neuen Operation.
Nach einer Umfrage des Israel Democracy Institute ist für die Mehrheit der Israelis die Rückholung der Geiseln oberste Priorität, auch um den Preis eines Kriegsendes, das keinen „totalen Sieg“ darstellt. Das Vertrauen in die Armee ist nach wie vor hoch oder sehr hoch (82–94 Prozent), jenes in die Regierung mit 22 bis 28 Prozent hingegen gering.
Erstmals seit dem Krieg sind jetzt auch wieder Kinder in den grenznahen Gebieten in ihre alten Schulen zurückgekehrt. Sie waren – und nicht wenige sind es immer noch – als Evakuierte nach dem 7. Oktober auf temporäre Unterkünfte und Klassenzimmer angewiesen. An der südlichen Grenze zum Gazastreifen gibt es – verglichen mit dem letzten Jahr – einen Anstieg von 80 Prozent der Schüler. Aber da sind immer noch fünf Gemeinden, die wiederaufgebaut werden müssen: Nir Oz, Be’eri, Kissufim, Holit und Kfar Aza.
Im Kibbuz Nirim bedeutet das eine willkommene Rückkehr zur alten Routine, erzählt ein pensionierter Lehrer. „Für uns ist es sehr wichtig, dass wir das Schuljahr hier wieder eröffnet haben, denn das steht – statt Angst – für Resilienz und Hoffnung.“ Aber der entfernte Lärm von Hubschrauberfeuer und Kriegsgeräusche erinnert alle daran, dass es eben nicht normal ist. Yagev Buchstab, der am 7. Oktober aus Nirim entführt wurde, ist immer noch nicht zurück. Bereits am August 2024 hieß es, er sei nicht mehr am Leben.
Nach einer Umfrage des Israel Democracy
Institute ist für die Mehrheit der Israelis die
Rückholung der Geiseln oberste Priorität,
auch um den Preis eines Kriegsendes, das
keinen „totalen Sieg“ darstellt.
In den sozialen Medien macht unterdessen ein 20 Minuten langes Video die Runde. Da sitzt Udi Kagan vor einem Mikrofon auf der Bühne, im Saal ein großes Publikum. Der Komiker, Schauspieler und Drehbuchautor, Jahrgang 1981, ist bekannt für seine Stand-up-Shows. Nun erzählt er erstmal öffentlich von seinem Posttrauma. Es verfolge ihn seit seiner Zeit als Soldat während der Zweiten Intifada. Danach hat er angefangen, zu trinken und Drogen zu nehmen – bis er um Hilfe bat. Und genau das will er den Soldaten von heute sagen: dass sie sich helfen lassen, bevor er dafür zu spät ist; dass sie sich trauen sollen, über ihr Problem zu reden. „Solche Dinge sterben im Tageslicht und blühen im Dunkeln.“
Jeder, der ein Handy hat, hat das vermutlich inzwischen gesehen. Aktueller könnte kein Thema sein. Nach Angaben der Gesundheitsdienste gab es im Juli einen dramatischen Anstieg an posttraumatischen Störungen unter Erwachsenen, fast doppelt so viele wie vor zwei Jahren. Das Verteidigungsministerium redet von 26.000 Patienten, die derzeit wegen mentaler Gesundheitsproblemen betreut werden, verglichen mit 12.000 vor dem Krieg. Zwölf Prozent aller Reservisten wiesen nach ihrem Einsatz in Gaza laut einer Studie Anzeichen für PTBS auf: Angstzustände, Depressionen – begleitet von Albträumen, Panik, Wutausbrüchen und gravierenden Persönlichkeitsveränderungen. Väter und Ehemänner, die nicht mehr richtig funktionieren. Aber das volle Ausmaß bleibt unklar.
Lange war das Thema mit Scham besetzt. Man redete lieber nicht darüber. Jetzt ist gibt es zumindest ein Bewusstsein dafür. Wichtig war hier Itzik Saidyan, der sich 2021 vor dem Gedenktag der Gefallenen in Brand gesetzt hat. In Bat Yam hat er das Projekt Auf Augenhöhe gestartet, bei dem man auf Gleichgesinnte trifft, zusammen surft und dabei versucht, die unsichtbaren Wunden zu heilen.
Manche gehen wieder zurück an die Front, wenn sie gerufen werden. Weil sie trotz ihres Zustandes gebraucht werden und weil die posttraumatische Belastungsstörung oft „pausiert“, wenn sie in der Reserve sind. Denn das Gehirn ist auf das Kriegsgeschehen gepolt, und mit ihm kommen sie besser klar als mit dem zivilen Alltag. Sie gehen auch, weil sie die anderen in ihrer Einheit nicht im Stich lassen wollen und immer noch hoffen, die Geiseln befreien zu können.
Das Nationale Zentrum für Trauma und Resilienz der Universität Tel Aviv warnt allerdings davor, Traumatisierte erneut einzuberufen. Seit Kriegsbeginn nahmen sich mehr als 50 Soldaten das Leben, über die Hälfte von ihnen Reservisten mit PTBS. Allein im Juli waren es sieben. Betroffene haben gerade ein Lager vor der Knesset aufgeschlagen. Sie fordern weniger Bürokratie, schnellere Behandlungen und vor allem bessere Wege, um Problemfälle rechtzeitig zu identifizieren. Eine solche Situation war noch nie, sagen sie. Es gebe so viele Soldaten und Sicherheitskräfte, die „den Krieg verlassen, aber die der Krieg nicht verlässt“. Wenn jemand ein Bein amputiert hat, dann reagiere man schnell, aber wenn jemand nach 150, 200 oder 300 Tagen da rauskommt und um Hilfe fleht, ohne sie zu bekommen, dann sei das dramatisch. Mal sehen, wo wir nach den Feiertagen sein werden.
























