Wie das 20. Jahrhundert verlaufen wäre, wäre der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen? Ein Interview mit dem Historiker Richard Ned Lebow. Von Anna Goldenberg
Die einzige Frage, die Richard Ned Lebow nicht beantworten kann, ist die nach seinem Geburtstag. „Ich bin 1941 in Paris geboren“, sagt der Politik- und Geschichtsprofessor, der am angesehenen Dartmouth College in New Hampshire an der US-Ostküste lehrt. „Meinen offiziellen Geburtstag feiere ich am 24. April 1942.“ Bevor seine Mutter im Juli 1942 einen Transport bestieg, der sie nach Auschwitz brachte, übergab sie einem französischen Polizisten ihren Sohn. Der Polizist rettete Lebow das Leben. Als Baby wurde er über Spanien und Portugal nach New York geschmuggelt, wo ihn eine amerikanische jüdische Familie adoptierte. Auf den gefälschten Papieren, die ihm während der Flucht ausgestellt wurden, stand als Geburtsort New York – und als Geburtsdatum jener 24. April.
Seine persönliche Vergangenheit war es auch, die ihn dazu bewegte, Geschichte und Politik zu studieren und sich mit Krieg und Vorurteilen zu beschäftigen. „Ich wollte verstehen, warum mich all diese Leute umbringen wollten“, sagt er. Heute kann er auf eine lange Liste von Publikationen und prestigeträchtigen Stellen zurückblicken. Sein besonderes Interesse gilt seit einiger Zeit der kontrafaktischen Geschichtsforschung, auch virtuelle Geschichte genannt, die sich mit der „Was wäre gewesen, wenn“-Frage beschäftigt.
Pünktlich zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 veröffentlichte Lebow ein neues Buch mit dem Titel Archduke Franz Ferdinand Lives!. Lebow argumentiert, dass der Erste Weltkrieg hätte verhindert werden können, wäre das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie am 28. Juni 1914 in Sarajevo nicht geschehen. Er entwirft zwei Alternativszenarien für das 20. Jahrhundert: In der optimistischen Version wird Hitler nie politisch aktiv, es gibt keinen Holocaust und keine Sowjetunion – und möglicherweise auch kein Israel. Technologie und Medizin entwickeln sich langsamer. Im „Worst Case Scenario“ kommt es hingegen zu einem nuklearen Wettrüsten, das in einem brutalen Krieg im Jahr 1975 kulminiert.
Warum das realistischste Szenario wohl irgendwo dazwischen läge und es wichtig ist, kontrafaktische Geschichtsforschung zu betreiben, erklärt Lebow im Gespräch.