Ruhe vor dem Nordsturm

Nur einen Tag nach dem brutalen Massaker der Hamas in Israel feuerte die libanesische Hisbollah ihre ersten Raketen auf den jüdischen Staat ab. Dieser sah sich dadurch gezwungen, seine Zivilbevölkerung zu evakuieren und so die Ortschaften entlang der libanesischen Grenze zu Geisterstädten zu machen. Am 27. Juli explodierte eine Rakete iranischer Herkunft auf dem Fussballplatz von Madschd al-Scham und tötete zwölf israelische Kinder beim Spielen. Damit droht die Auseinandersetzung zwischen den Erzfeinden zu eskalieren.

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Geisterstädte: Entlang der libanesischen Grenze können etwa 70.000 Israelis bis heute nicht zurückkehren. Foto: Tal Leder

Als am 6. Oktober 1973 der Jom-Kippur-Krieg ausbrach, wurde Israel zeitgleich an zwei Fronten angegriffen. Am jüdischen Versöhnungstag starteten zahlreiche arabische Nationen unter der Führung von Ägypten und Syrien einen Überraschungsangriff auf Israel, der fast dessen Untergang bedeutete. Mit dem Angriff der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem brutalen Abschlachten von über 1.200 Menschen wurde der jüdische Staat erneut in einen Schockzustand versetzt. Anders als vor 50 Jahren war es zunächst nur eine Invasion in einer Region im Süden – in Ortschaften entlang des Gazastreifens –, doch mit dem Raketenbeschuss der libanesischen Terrororganisation Hisbollah, der wichtigsten Handlangerin des Iran, auf Israels Norden nur 24 Stunden später, wurde der jüdische Staat in einen bis heute andauernden Abnutzungskrieg verwickelt, der praktisch eine zweite Front bedeutet und immer mehr zu eskalieren droht.

„Kurz nach 6:30 Uhr rief mich mein Sohn an, der auf dem Supernova beim Kibbuz Re’im war, und berichtete mir von dem Hamas-Angriff“, erzählt Shlomo Marom aus Metula in Obergaliläa, unweit der libanesischen Grenze, der am weitesten im Norden gelegenen Ortschaft Israels. „Als ich dann im TV noch die ersten Bilder der flüchtenden Festivalbesucher sah und die Präsenz von schwer bewaffneten RadikalIslamisten in den Kibbuzim, wie sie triumphierend in Pick-ups durch die südisraelische Stadt Sderot fahren, habe ich sofort meine Reserveeinheit kontaktiert. Das Land und sein Sicherheitsapparat schienen irgendwie paralysiert zu sein, und so organisierten wir uns über WhatsApp und waren 30 Minuten später schwerbewaffnet auf dem Weg zum Musikfestival, um zu helfen. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass ich mein idyllisches Zuhause in Metula so nicht mehr vorfinden würde.“

Als der 45-jährige Gymnasiallehrer mit seinen Kameraden in einigen an den Gazastreifen angrenzenden Ortschaften eintraf, fand er ein blutiges Schlachtfeld mit vielen Leichen vor sich und unzählige Terroristen, die auf alles schossen, das sich bewegte. Während die Hamas die schlimmsten Verbrechen an Juden seit dem Holocaust verübte, warteten die Zivilisten stundenlang vergeblich auf die Hilfe der israelischen Sicherheitsbehörde. Als sie schließlich kam, gab es schon viele unschuldige Opfer, und die Kämpfe waren blutig und langwierig. Doch Bürger, Polizisten und Soldaten der Reserve aus allen Teilen des Landes nutzten ihre langjährige Armeeerfahrung, organisierten sich blitzschnell in Bürgerwehrgruppen und leisteten erbitterten Widerstand, um die Hamas aufzuhalten. Maroms Einheit konnte sich zu einigen Kibbuzim durchschlagen und kämpfte bis in die frühen Morgenstunden, bis die gesamte Region wieder befreit wurde.

„Seit neun Monaten werden wir beschossen,
doch die Regierung hat uns im Stich gelassen.“
Shlomo Marom

Am selben Tag, dem 8. Oktober, entschied die radikal-islamische Hisbollah, ihren Verbündeten – der sogenannten iranischen Achse des Widerstands – zu helfen, und griff daraufhin den Norden Israels mit den ersten Raketensalven an. Eine knappe Woche später ordnete die Regierung in Jerusalem an, alle Ortschaften in einer Entfernung von zwei Kilometern zur Grenze zu evakuieren. Da die mächtigste Miliz des Libanon in der Vergangenheit schon mehrfach mit einer Invasion Galiläas drohte und die Zivilbevölkerung nicht verschonen würde, war die Gefahr einer Wiederholung des 7. Oktobers zu groß. Etwa 70.000 Israelis aus dem Norden können bis heute nicht zurückkehren, darunter auch die Familie von Shlomo.

Gefährliche Terrortunnel und geschätzte 150.000 Raketen: Die Hisbollah ist schwer bewaffnet und stets bereit anzugreifen. Foto: Tal Leder

„Meine Frau, unsere zwei kleinen Kinder sowie Freunde und Familienangehörige leben seitdem in Hotels in Tiberias, am See Genezareth“, sagt Marom. „Ich wurde gleich nach Kriegsbeginn in die Armee eingezogen und war in den ersten Wochen in schwere Kämpfe tief in Gaza verwickelt. Doch seit Jahresbeginn meldete ich mich freiwillig zu einer Patrouille, um in den Norden versetzt zu werden, wo die Situation womöglich demnächst zu eskalieren droht.“ Seine Rückkehr nach Hause schildert der angehende Schuldirektor total entsetzt: „Als ich nach fast drei Monaten zurückkam, erkannte ich Metula nicht mehr. Wie alle Ortschaften entlang der libanesischen Grenze ist es eine Geisterstadt geworden. Ein Gebäude neben unserem Haus wurde von einer Rakete getroffen und ist größtenteils zerstört. Seit neun Monaten werden wir beschossen, doch die Regierung hat uns im Stich gelassen.“

Die Kriegstrommeln werden an Israels Nordfront immer lauter. Die instabile Region, in der sich die israelischen Streitkräfte (IDF) und die Hisbollah täglich bekämpfen, droht zu eskalieren. Seit dem 8. Oktober hat die radikale Schiitenmiliz, der verlängerte Arm Teherans, rund 8.000 Raketen, KamikazeDrohnen, Geschosse und Artillerie auf israelisches Gebiet abgefeuert, was zu toten Zivilisten, Soldaten und Dutzenden von Verletzten führte. Allein in den vergangenen Tagen waren es über 1.000 Salven. Die IDF berichten von mehreren vereitelten Infiltrationsversuchen entlang der libanesischen Grenze. Die Zahl der dort vertriebenen Israelis wird immer größer, und es gibt keinen klaren Zeitplan für ihre Rückkehr. Trotz diplomatischer Bemühungen eskalieren die Spannungen weiter. Trotzdem wird diese Region von den internationalen Medien weitgehend übersehen.

Übersehenes Leid. „Während Gaza die Schlagzeilen beherrscht, wurde das Leid der israelischen Zivilisten im Norden weitgehend ignoriert“, sagt Aviva Zrihan Weitzman, Stadträtin in Kirjat Schmona, einer Ortschaft inmitten der beeindruckenden Bergregion des westlichen Hula-Tals, während ohrenbetäubende Artilleriesalven Richtung Südlibanon abgefeuert werden. „Das Schockierende ist, dass wir während des gesamten Krieges kaum Aufmerksamkeit bekommen. Selbst innerhalb Israels zeigten die Medien lange nicht, was bei uns wirklich passiert. Die Region hat weder in der Regierung noch geografisch eine einheitliche Stimme, und die Zusammensetzung der Bevölkerung aus verschiedenen Ethnien macht es noch schwerer, für unsere gemeinsamen Bedürfnisse einzutreten.“

Die 52-jährige vierfache Mutter und Dozentin an der Fakultät für Sozialarbeit am nahegelegenen Tel-Hai College kritisiert an den großen Nachrichtensender, dass sie über die ständigen Raketenangriffe des Nachbarstaates monatelang schwiegen und ebenso kein Interesse zeigten, die Geisterstädte sowie die Geschichten der Binnenflüchtlinge und Waldbrände – bei denen bisher über 70.000 Hektar vernichtet wurden – zu dokumentieren. Dies steht in krassem Gegensatz zu der Berichterstattung, die normalerweise über andere Konfliktgebiete erfolgt, und wirft Fragen über ihre Voreingenommenheit und die Komplexität der Berichterstattung über Israels Verwundbarkeit auf. Auch auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) gab es keine Verurteilung.

„Ich fürchte mich eher vor einem
weiteren Massaker, als vor dem Krieg.“
Shlomo Marom

Weitzman und ihre Familie entschieden sich unmittelbar nach den Angriffen vom 7. Oktober, ihre Ortschaft nicht zu verlassen, sondern zu bleiben und ihrer Gemeinde zu helfen. Gemeinsam mit ihren Nachbarn, von denen viele im hohen Alter oder körperlich behindert sind und nicht in der Lage waren, das Haus zu verlassen, eröffneten sie einen zivilen Kriegsraum. Dort werden Tausende von Mahlzeiten für die von der Regierung im Stich gelassene Soldaten zubereitet, lebensnotwendige Vorräte gesammelt und unermüdlich gearbeitet, um die Bewohner von Kirjat Schmona und den umliegenden Gemeinden zu unterstützen.

Doch die Menschen dort sind enttäuscht, denn sie glauben, dass die Gefahr an der Nordfront von vielen Israelis nicht verstanden wird. Da eine diplomatische Lösung derzeit unwahrscheinlich erscheint, bleibt das Vertrauen in die Regierung, ihre Sicherheit zu gewährleisten, bestenfalls brüchig.

Foto: Tal Leder

Inzwischen hat die IDF den Zugang zu den nördlichen Ortschaften abgeriegelt. Nur mit spezieller Genehmigung können Anwohner oder Journalisten die Gegend besuchen. „Die israelische Führung steht in der Pflicht, die Sicherheit wiederherzustellen und Projekte umsetzen, um junge Familien in den Norden zurückzubringen“, erklärt Weitzman. „Wir müssen die Hisbollah von der Grenze vertreiben. Sie droht schon lange mit einer Invasion, um Galiläa zu erobern. So ein Angriff könnte noch verheerender sein als das, was im Süden passiert ist.“

Gleich nach dem zweiten Libanonkrieg von 2006 baute die Hisbollah mit finanzieller Unterstützung und technischer Versorgung ihres Schutzpatrons Iran seine Drohkulisse auf. Zwar beendete die UNResolution 1701 praktisch den Konflikt im Sommer 2006, und die Schiitenmiliz musste sich nördlich bis zum LitaniFluss zurückziehen. Doch das passierte nicht wirklich. Die internationalen Truppen der UNIFIL, die in der Nähe stationiert sind und für Ruhe sorgen sollten, sind nur Papiertiger und schon lange nicht mehr an der Grenze zu sehen. Stattdessen haben sich dort Kämpfer der Radwan-Einheit verschanzt. Die Elitesoldaten der Hisbollah warten nur auf ihren Marschbefehl. Zu Land oder notfalls auch über einige ihrer noch aktiven Terrortunnel. Sicherheitsexperten schätzen ihr Waffenarsenal mittlerweile auf über 150.000 Raketen aller Art. Darunter viele, die sämtliche zivile und militärische Einrichtungen in Israel angreifen könnten. „Seit dem 8. Oktober wurde Israel von der Hisbollah über 2.000 Mal angegriffen“, erzählt Sarit Zehavi, Direktorin des Alma Research Center in Kfar Vradim, eine knappe Stunde südlich von Kirjat Schmona entfernt. „Aus Angst vor einer ähnlichen Invasion wie im Süden floh bei Kriegsbeginn fast die gesamte Bevölkerung aus den anliegenden Ortschaften an der libanesischen Grenze und hinterließ 43 Geisterstädte. Der Plan der Hisbollah ist damit aufgegangen, und jetzt versuchen sie, den jüdischen Staat in einen totalen Krieg hineinzuziehen, um Israel als Aggressor darzustellen.“

Die Denkfabrik für Sicherheitspolitik analysiert seit Jahren die Aktivitäten der Hisbollah. Zehavi ist sich sicher: Die Schiitenmiliz will den Norden Israels überfallen und ein ähnliches Massaker wie die Hamas verüben. Sie plädiert für eine Unterstützung des Westens, allen voran der USA. Durch seinen wichtigsten Partner lebt die Hoffnung im jüdischen Staat, dass der Westen gewinnt und nicht vor antidemokratischen Regimen kapituliert, die wie der Iran religiös motiviert sind.

„Im Kampf von Gut gegen Böse braucht Israel die US-Hilfe“, erklärt Zehavi. „Vor allem im UN-Sicherheitsrat, um sicherzustellen, dass keine Resolutionen verabschiedet werden, während unsere Geiseln noch nicht zu Hause sind. Darüber hinaus bedeutet ein Waffenstillstand nicht automatisch Frieden. Wir können nicht in die Situation vom 6. Oktober 2023 zurückkehren und das Risiko eingehen, dass unsere Feinde uns erneut angreifen. Das Ziel muss es sein, dass Demokratien immer gegen den Terror siegen.“

Um das zu erreichen, muss Israel aber erst einmal seine Abschreckung wiederherstellen. Da dies auf diplomatischem Wege eher unwahrscheinlich ist, wird es womöglich zum dritten Libanonkrieg kommen. Für den jüdischen Staat wäre dieser Waffengang eine grundlegend andere und größere Herausforderung als die mit der Hamas, insbesondere, da die IDF schon seit neun Monaten in Gaza kämpfen.

Historische Chance. „Im Nahen Osten gilt Verhandeln und Nachgeben als Schwäche“, sagt Shlomo Marom aus Metula in Obergaliläa. „Israel hat die historische Chance, die Hisbollah empfindlich zu treffen. Die IDF haben mehr Waffen als in den Kriegen von 1967 und 1973 und sind auch viel besser ausgebildet. Die andere Seite sollte gewarnt sein.“ Doch die vom Iran unterstützte Hisbollah ist eine viel effektivere und leistungsfähigere Streitmacht als die Hamas. Nicht nur hilft sie bei der Ausbildung irakischschiitischer Milizen und der Huthis im Jemen. Ihre Kämpfer haben auch wichtige Erfahrungen im syrischen Bürgerkrieg gesammelt.

Doch sie hat auch den Libanon in den Kampf um den Gazastreifen verwickelt und das Schicksal ihres Landes von einem möglichen Waffenstillstand dort abhängig gemacht. In Israel wiederum hat das Massaker der Hamas die Bevölkerung traumatisiert. Für viele ist klar, dass nie wieder eine so große Bedrohung für den jüdischen Staat entstehen darf – egal, ob im Süden oder im Norden.

„Ich fürchte mich eher vor einem weiteren Massaker als vor dem Krieg“, erklärt Marom und blickt von Metula auf die nahegelegenen libanesischen Dörfer auf der anderen Seite. „Ein Krieg zwischen Israel und der Hisbollah hat das gefährliche Potenzial, in einen regionalen Flächenbrand abzudriften. Er wird die Entwicklung von Frieden und Konflikten in der Region für die kommenden Jahre verändern. Doch schon die alten Römer sagten: Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor.“

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