„Jeder Sammler hat einen Vogel“

2266

Atemberaubend – der erste Eindruck. Aus meterlangen Vitrinen strahlen silberne Judaica in edelster Ausführung. Und wenn Hausherr Dr. Ariel Muzicant mit berechtigtem Sammlerstolz einige Laden öffnet – randvoll mit seltenen jüdischen Archivalien, da und dort einen wertvollen Band aus dem Bücherregal zieht, in den Foldern mit tausenden Exlibris auf ein ganz besonderes hinweist, zu einem Bild an der Wand eine Geschichte erzählt, dann merkt man, dass da echte Leidenschaft im Spiel ist. Ariel Muzicant im Gespräch mit Anita Pollak.

WINA: Wie bist du zum Sammeln gekommen?

Ariel Muzicant: Alles Jüdische interessiert mich seit jeher, insbesondere die jüdische Kunst und jüdische Bücher, und dabei habe ich festgestellt, dass es nirgendwo eine komplette Bibliothek zum österreichischen Judentum gibt. Ich wollte versuchen, eine solche Bibliothek zusammenzutragen. Dann habe ich begonnen, jüdische Kultgegenstände zu kaufen, dann Zeitungen und jüdische Postkarten, und irgendwann bin ich auf Exlibris gestoßen und habe mich in E. M. Lilien verliebt (ein jüdischer Grafiker des Jugendstils; Anm.). Wahrscheinlich bin ich ein bisserl verrückt, aber jeder Sammler hat einen Vogel.

„Jedes Stück hat eine Geschichte, hinter jedem Stück steht ein Mensch, der es für irgendeinen Zweck bestellt oder gekauft hat.“

Welche Rolle spielt der Jagdinstinkt beim Sammeln?

❙ Natürlich spielt der mit. Ich suche um zwei Uhr früh im Internet irgendwelche Bücher, und wenn ich dann eines finde, das mir noch fehlt, ist das schon ein unglaubliches Erfolgserlebnis. Leider bin ich mittlerweile schon bekannt, und so bieten mir Händler aus der ganzen Welt einschlägige Bücher an.

Wie kann man dein Sammelgebiet definieren, das heißt, welche Art von Judaica  kommen auf deinen Radar?

❙ Ich sammle österreichische Judaica oder Judaica aus Österreich oder Judaica mit einem weitestgehenden österreichischen Bezug, wobei ich das nicht mit dem heutigen Staatsgebiet eingrenze. Kultgegenstände sind der kleinste Teil. Der größte sind Archivalien, Bücher, Zeitungen, Postkarten, Kunstgegenstände im weitesten Sinne, d. h. Bilder, Fotografien. Wenn ich einen Thora-Schild von Turinsky sehe, einem Wiener Silberschmied aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, dann ist das ein Klassiker, den man wieder nach Wien zurückbringen will. Es ist auch ein bisschen das Wiederaufbauen einer jüdischen Identität, das mich seit 40 Jahren beschäftigt hat. In der Kultusgemeinde, in meinem Privatleben, mit dem Errichten einer jüdischen Schule und jetzt mit dem Sammeln von österreichischen Judaica.

Stärker als bei anderen Kunstobjekten gibt es da ja auch einen emotionalen Aspekt, weil diese Objekte ihre Geschichten haben. Wer sie besessen hat und wo sie quasi „überlebt“ haben. Ist das mit ein Motiv?

❙ Sie haben eine Geschichte und eine Beziehung zu all dem, was einmal war. Ich bin ja kein typischer österreichischer Jude, aber irgendwo muss man sich lokalisieren, und dann versucht man halt dort, das Verschwundene wieder zurückzubringen. Ich habe mir vorgenommen, das mit meinen bescheidenen Möglichkeiten für Österreich zu tun. Außerdem ist es mir ein Anliegen, dass diese Dinge nicht in falsche Hände geraten oder einfach verkommen. Das heißt, mein Ziel ist, diese Dinge für die Nachwelt zu erhalten und sie in jüdischer Hand zu erhalten.

Du hast mir einen Thoravorhang aus der Synagoge in der Hubergasse gezeigt. Wie und wo hat beispielsweise dieses Stück überlebt?

❙ Ein Händler aus Israel rief mich an und sagte mir, ich habe einen Thoravorhang, der aus Österreich sein könnte, er konnte aber das eingestickte Wort „Ottakring“ nicht entziffern. Der Vorhang war in einem katastrophalen Zustand. Wie der nach Israel kam, sagen sie einem nicht. Ich habe ihn dann vor 35 Jahren gekauft und nach Wien gebracht.

Ist nicht diese Provinienzgeschichte auch interessant?

❙ Ja, ich beschäftige deshalb jetzt zwei Kuratorinnen, die meine Sammlung erforschen, die Objekte zurückverfolgen. Ich möchte nicht eines Tages erfahren, dass eines meiner Objekte ein gestohlenes Objekt der Kultusgemeinde ist. Ich habe zwar alles rechtmäßig erworben und kein schlechtes Gewissen, aber bei manchem kann einem eben niemand wirklich Auskunft geben und man muss oft lange suchen, um etwas herauszufinden.

Nur um Größenordnungen festzuhalten: Wie viele Exlibris besitzt du?

❙ Ich hab fast 8.000 Exlibris, davon 5.000 verschiedene. Das weist auf 5.000 hauptsächlich private jüdische Bibliotheken, die es einmal gegeben hat. Jetzt versucht meine Spezialistin, einige Menschen hinter diesen Bibliotheken zu erforschen, das ist Detektivarbeit. Wer waren die Besitzer, wer hat die Exlibris gestaltet, das sind ja oft namhafte Künstler, das ist eine ganze Welt von Bibliotheken, und mit Bibliotheken assoziiere ich das jüdische Volk. Es ist unheimlich spannend.

Wie viele Menschen fischen noch im selben Teich, d. h. wie viele Konkurrenten hast du auf diesem Markt?

❙ Sehr wenige. Es gibt kaum Käufer, weil nur wenige die Bedeutung der Exlibris kennen, d. h. ich kaufe das meiste zum Rufpreis.

Du sammelst auch so genannte Archivalien. Was versteht man darunter?

❙ Ich habe tausende von Briefen, Dokumenten, Zeugnisse, Fotografien, Erlässe, Pässe, Lebensdokumente, Essensmarken, Postkarten aus den KZs und Ghettos; Reklame für Mazzesverkäufe, Theaterzettel, Eintrittskarten in jüdische Theater etc.

Welchen Sammlungsschwerpunkt hast du bei den Kultgegenständen?

❙ Ich sammle, wie gesagt, zu Österreich und habe mit meinem Sohn eine Vereinbarung, dass ich etwa mit 1910 aufhöre und er bei dieser Periode anfängt.

Allgemein gibt es einen Boom am Kunstmarkt, trifft das auch für Judaica zu bzw. wie haben sich die Preise entwickelt? Kann man sagen, in welchen Dimensionen sich der Handel abspielt?

❙ Judaica sind etwa doppelt so stark gestiegen wie der normale Kunstmarkt. Das hat damit zu tun, dass Juden zu Geld kommen und in jüdische Kunst investieren. Vor allem die alten Dinge wurden ja in der Schoah zerstört, und es ist nur eine beschränkte Menge übrig geblieben. Und darauf werfen sich jetzt viele, und dementsprechend werden die Sachen unerschwinglich. Die Preise können in die Millionen gehen.

Gibt es prominente Künstler, deren Werke besonderen Wert haben?

❙ Ja, vor allem bekannte deutsche Silberschmiede oder Schmiede aus dem mitteleuropäischen Raum, die nur sehr beschränkt produziert haben. Das Gleiche gilt für Handschriften. Vieles ist in Museen; jüdische Museen können aber kaum mehr ankaufen.

Apropos Museum. Wie groß ist deine Sammlung im Vergleich zur Sammlung Berger, die sich im Wiener Jüdischen Museum befindet?

❙ Größer. Die Sammlung Berger hat großartige Stücke, aber sie ist nicht homogen. Berger hat gekauft, was ihm gefallen hat, was ich anfangs auch gemacht habe, bis mich Profis aufmerksam gemacht haben, dass man sich auf bestimmte Dinge konzentrieren muss. Anfänglich sind ja alle so Trotteln, wie ich es war, die keine Ahnung von Kunst haben. Erst als ich mehr verstanden habe, habe ich begonnen, Ramsch abzustoßen und dafür gute Sachen zu kaufen.

Worauf muss man da besonders achten?

❙ Gerade im Judaica-Bereich gibt es sehr viele Fälschungen bei den Kultgegenständen. Die Fälschungen haben schon im 18. und 19. Jahrhundert begonnen, da hat man verschiedene Objekte zusammengebaut oder etwa eine Zuckerdose als Etrogbehälter verkauft. Heute gibt es besonders in Osteuropa ganze Industrien, die am laufenden Band Gegenstände produzieren und als antik verkaufen. Es gibt in der ganzen Welt höchstens 20 Fachleute, die sich wirklich gut auskennen. Ich bin auch oft reingefallen und habe sicher etwa 100 Fälschungen gekauft. Heute frage ich bei jedem Kauf nach.

Was ist dein wertvollstes Stück?

❙ Das ist ein Aron ha-Kodesch (Wandschrank zur Aufbewahrung der Thorarollen; Anm.) aus dem Besitz der Rothschilds und um 1750 in Breslau von einem sehr bekannten Silberschmied produziert, ein traumhaft schönes Objekt!

Für wen sammelt ein leidenschaftlicher Sammler wie du?

❙ Wenn man ehrlich ist, nur für sich selbst, das Vergnügen hat man selbst. Alle Leute, die etwas anderes sagen, beschummeln sich. Jedes Stück hier hat eine Geschichte, und hinter jedem Stück steht ein Mensch, der es für irgendeinen Zweck bestellt oder gekauft hat. Es gibt hier auch viele Gegenstände für den alltäglichen Gebrauch. Besuminbüchsen für den Schabbatausgang oder Challemesser oder eine Lokschen-Kigelform. Jedes davon hat einmal zu einem jüdischen Haushalt gehört, und diese Dinge zu retten, ihre Geschichte zu erforschen und der Nachwelt zu erhalten, ist mein Anliegen. Wer es einmal später führen wird? Ich gründe kein Museum, ich borge bei Anfragen Museen kostenlos, aber es ist mein Privatvergnügen. Meine Kinder sollen einmal machen, was sie wollen, ich habe meinen Spaß dabei gehabt.

Bild © privat

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here