schnell. spannend. zeitkritisch

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Felix Dörmanns mitreißender Zeitroman Jazz aus dem Jahr 1925 wurde in der Wiener Edition Atelier neu aufgelegt. Kolportage von gestern, die heute aktueller nicht sein könnte. Von Hermann Schlösser

Viele Romane der Zwischenkriegszeit erzählen Geschichten aus der unmittelbaren Gegenwart, und zwar auf unterhaltsame, manchmal auch reißerische Art. Die Literaturwissenschaft hat diese Bücher meist mit spitzen Fingern angefasst und unter dem Etikett „gehobene Unterhaltungsliteratur“ abgelegt. Seit einiger Zeit jedoch werden die Zwanziger-Jahre-Zeitromane als lohnende Lektüren wiederentdeckt. Auch Felix Dörmanns „Wiener Roman“ Jazz, der jetzt in der Edition Atelier von Alexander Kluy neu herausgegeben wurde, gehört in diesen Zusammenhang. Er ist 1925 erschienen und schildert die krisenhaften Jahre der Inflation und des hektischen Amüsements. Während das Geld an Wert verlor, tanzte man in den Bars wie verrückt. Das Symbol für die Genusssucht der damaligen Spaßgesellschaft war folglich die Tanzmusik. Damals galt alles, was irgendwie synkopisch und erregend war, als „Jazz“, und oft genug wurde die aufgekratzte Epoche selbst als „Jazz-Zeitalter“ bezeichnet.

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In diesem weiten Sinn des Wortes ist auch Dörmanns Buchtitel zu verstehen

Der Autor erzählt die fatale Liebesgeschichte zwischen der verarmten Baroness Marianne Hartenthurn und dem ungarischen Kriegsgewinnler Ernö Kalmar. Als die beiden einander treffen, ist er ein kleiner Schieber, sie ein früh verwaistes Fräulein aus feiner Familie, das außer Adel und Schönheit wenig besitzt. Kalmar erkennt Mariannes Fähigkeiten als Tänzerin und baut sie in Wien als Star auf, während er durch skrupellose Währungsspekulationen, die einem auch heutzutage bekannt vorkommen, zum reichsten Mann der Stadt aufsteigt. Es wird an mehreren Stellen angedeutet, dass der hochintelligente, aber eiskalte Kalmar ein Jude ist, der sich auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn vom Wiener Weihbischof taufen lässt, um seine Baronesse standesgemäß heiraten zu können.

Marianne erkennt jedoch immer klarer, dass Kalmar sie nur aus eigensüchtigen Parvenü-Sehnsüchten liebt. Wie es im Zeitroman der Zwanzigerjahre häufiger vorkommt, wird sie drogensüchtig und verliebt sich in eine Frau, die zudem noch eine militante Kommunistin ist. Von ihr agitiert, beschließt sie, an Kalmar Rache zu nehmen – und das Ganze endet fürchterlich.

Natürlich geschieht in diesem Roman, der in knappen Sätzen und kurzen Kapiteln dahineilt, noch sehr viel mehr als das. Die Story ist das Gerüst für eine Fülle von Zeitbeobachtungen. Sie fallen manchmal etwas klischeehaft aus – edle Adelige, miese Parvenüs! –, sind aber auf jeden Fall spannend zu lesen.

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Es ist anzunehmen, dass der versierte Felix Dörmann (1870–1928), der sich auch als Operettenlibrettist und Filmpionier einen Namen gemacht hat, vor allem die Absicht hatte, seine Leser zu unterhalten. Und das ist ihm zweifellos gelungen.

LESEPROBE aus Jazz

Das eleganteste und stillste Ringstraßencafé verliert seinen Charakter – soweit es noch einen hatte.

Früher war das Café Imperial der Treffpunkt einer vornehmen Auslese der Wiener Gesellschaft gewesen. Während des Krieges ergreifen die Fett- und Marmeladeschieber, die Valutenkäufer, die Kohlenhändler, die Agenten der auswärtigen Missionen, die mit Ex- und Importerlaubnissen einen wüsten Handel treiben, davon Besitz. Dazwischen sitzen zweideutige Kuriere kleinerer Staaten, die Geld und Juwelen für entsprechende Provisionen ins Ausland schmuggeln, um sie vor dem Zugriff der einheimischen Behörden in Sicherheit zu bringen. Mit falschen und echten Pässen wird ein schwunghafter Handel getrieben. Personen erscheinen und verschwinden nach geheimnisvollem Flüstern. Versiegelte Pakete wechseln hin und her. Manchmal erhebt sich ein wüster Skandal, der sich bis zu Tätlichkeiten steigert. Dazwischen drängt sich allerhand Weibliches, teils mit erotischen, teils mit politischen Absichten. Dirnen und Damen in engster Nachbarschaft.

Das eine Zimmer des Café Imperial wird zum Sowjetzimmer.

Nach der Überflutung Wiens mit den aus Rußland und der Bukowina ausgewiesenen Ostjuden brechen die ungarischen Emigranten über die Stadt herein und setzen sich fest.

Und fast über Nacht ändert sich der Charakter der Stadt, immer mehr kommt die Mentalität der »Zugereisten« zum Ausdruck. Wien wird balkanisiert und verzigeunert.

Ernö Kalmar findet im Sowjetzimmer selbstverständlich seine Heimat und alle landsmännische Unterstützung, die er braucht, um nicht zu verhungern.

Da sitzen sie, die Leute aller Regierungsperioden, die von den Tagen des Umsturzes bis zur Horthyregierung einander gefolgt waren.

Da sitzt der letzte Gesandte der ungarischen Räterepublik, der es vom Mechaniker und Agenten für Schreibmaschinen bis zum Oberkommandanten der Roten Armee gebracht hatte. Da sitzt, aufrecht und charakterfest, der ehemalige Handelsminister der Karolyi-Zeit, den die Roten gezwungen hatten, als Propagandachef für sie in die Schweiz zu gehen, der aber die Mission benützt hatte, um seinem Vaterland ein für allemal den Rücken zu kehren, nachdem er die erhaltenen Propagandagelder getreulich zurückgeschickt hatte. Da sitzt der Maler, der am ersten Mai die Hauptstadt in ein rotes Farbenmeer getaucht hatte. Da sitzen der rote Theaterintendant, daneben der Komponist der roten Hymne und Vorstand aller Musikschulen aus den Tagen der Räterepublik. Da sitzen sie, die Leute aller Regierungsperioden, die von den Tagen des Umsturzes bis zur Horthyregierung einander gefolgt waren. Sogar der schwarze Riese, von dem es heißt, er sei der geistige Urheber der Ermordung Tiszas, weilt unter ihnen.

Und wenn sie auch streiten, einander verachten und bekämpfen, im Hasse gegen die Horthyregierung sind sie alle einig. Und sie schreien und toben und gestikulieren und gründen Zeitungen: Die Zukunft, Der freie Mensch, Diogenes.

Im Vorraume des Sowjetzimmers sitzen die Spione und Vertrauten der weißen Regierung, die ihre Wiener Filiale gegenüber im Grand Hotel hat, und notieren emsig, wer im Sowjetzimmer zu sehen ist; und sie inszenieren Überfälle und Entführungen roter Politiker, um sie nach Budapest zu verschleppen und dort vors Gericht zu stellen oder verstümmelt und zerstochen in der Donau verschwinden zu lassen, wenn das Material nicht genügt, sie offiziell an den Galgen zu bringen.

Ernö Kalmar findet eine Anstellung bei der Zeitung Der freie Mensch. Er muß gleichzeitig Artikelschreiber, Inseratenagent und Austräger sein. Die Not der Emigranten ist groß und Wien ist arm und teuer. Geld ist nur bei den Kriegsgewinnern und ihrem Anhang zu finden.

... überall steckt sein Geld drin, und er selbst und seine Verwaltungsräte und Direktoren schwimmen in Geld und machen enorme Geschäfte auch für
eigene Rechnung.

Aber noch ist nicht alle Hoffnung geschwunden, daß in Ungarn der rote Terror noch einmal aufflammt – diesmal von Österreich aus. Die ungarischen Terroristen in Verbindung mit den russischen Sowjetagenten, die Wien überschwemmen, arbeiten fieberhaft. Die Kommunistenpartei verfügt über große Beträge zu Agitationszwecken, zwei rote Bataillone der Volkswehr stehen zu ihrer Verfügung. Ein Plan ist ausgearbeitet. Man wird sich Wiens bemächtigen und die sozialistische Regierung stürzen. Die Rollen und Ämter sind im voraus verteilt. Für den Ostermontag ist der große Kommunistenputsch angesetzt, der auch in Wien den roten Terror aufrichten soll.

Aber die sozialistische Regierung ist wachsam. Sie hat von den Plänen Wind bekommen und trifft Gegenmaßregeln. Die Kasernen, aus welchen die roten Bataillone ausrücken sollen, um die Besetzung Wiens durchzuführen, bleiben im entscheidenden Moment von außen gesperrt und bewacht. Der neuerliche Umsturz mißlingt. Ein Verzweiflungssturm auf die Polizeizentrale wird abgewehrt und auf den Straßen liegen die Kommunisten in ihrem Blut.

Der Putsch ist gescheitert – Wien ist der Bolschewikengefahr entronnen und atmet auf.

Die letzte Hoffnung der emigrierten Ungarn, von Wien aus die Heimat wieder erobern zu können, ist begraben. Wien entledigt sich vor allem der russischen Sow-jetemissäre. Die ungarischen Emigranten werden zwar geschont, aber sie müssen sich mit den Tatsachen abfinden und dem roten Idealismus abschwören. Es heißt, sich an Wien anpassen und Existenzmöglichkeiten zu finden. Der politische Rausch weicht dem Selbsterhaltungstrieb und dem angeborenen Geschäftssinn.


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