Die große Lyrikerin Gertrud Kolmar offenbart sich als sensible Briefschreiberin und Zeugin einer vernichteten Welt. Von Anita Pollak
Wer kennt Gertrud Käthe Chodziesner? „Eine der größten Lyrikerinnen“ nannte sie ihre Weggefährtin Nelly Sachs, doch auch unter ihrem Pseudonym Gertrud Kolmar ist sie nicht allzu vielen ein Begriff, denn ihre expressiven formvollendeten Gedichte erreichten schon zu ihren Lebzeiten nur einen kleinen Leserkreis. Eine neue Gesamtedition ihrer Briefe erlaubt nun Einblick in die Lebenssituation der 1894 geborenen deutsch-jüdischen Dichterin, die 1943 in Auschwitz umkam.
Von einem ausgelassenen „Kinderfest“, bei dem die jungen Leute Walzer tanzten, ist im ersten Brief die Rede, von ihren Schwierigkeiten zu schreiben erzählt sie, 23 Jahre später, im letzten Brief an ihre Schwester. Dass sie nur wenige Tage später mit den letzten noch in Berlin lebenden Juden von der Fabrik, wo sie als Zwangsarbeiterin schuftete, direkt nach Auschwitz deportiert werden würde, darauf weist in diesen Zeilen nichts hin. Hilde, der elf Jahre jüngeren Schwester, war bereits 1938 die Flucht in die Schweiz geglückt, gemeinsam mit ihrer Tochter Sabine, dem geliebten kleinen „Ungeheuer“, an das „Tante Trude“ immer wieder rührend-kindgerechte Briefe schrieb. In unerreichbarer Ferne blieb diese Nichte ihr Kindersatz, über den Verlust des eigenen Kindes, das sie als junges Mädchen auf Drängen der Eltern abtreiben musste, ist sie lebenslang nicht hinweggekommen. Intimes von ihren durchwegs unglücklichen und kurzen Beziehungen zu Männern erzählt sie auch der Schwester nicht, da kann man aus manchen Gedichten schon mehr herauslesen.