Schuhe, Schlüssel und Tora

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Michael Yonatanov ist Handwerker mit Hingabe. Doch in seiner Werkstätte sind auch stets israelische Rabbiner präsent – am MP3-Player. Text und Fotos: Reinhard Engel

Wirklich, mein Mann hat schon im Voraus bezahlt?“ „Ich kann das doch nicht zwei Mal verlangen“, lächelt Michael Yonatanov die englische Touristin an, die ihre Schuhe beim fordernden Wien-Besuch beschädigt hatte. Yonatanov ordiniert in einer winzigen Werkstätte am Salzgries im ersten Wiener Bezirk. Die Galerie, die an einer Seite den schmalen Raum entlangläuft, deutet noch auf den früheren Nutzer hin. „Das war ein Textilgeschäft, vor allem für Wäsche.“ Yonatanov glaubt, sich auch noch an die Markenware zu erinnern: Huber. Heute steht auf seiner Visitenkarte „Schuhservice – Schlüsseldienst – Reparaturen aller Art.“ Ein Schild am Eingang zeigt, dass hier auch Russisch gesprochen wird.

Leidenschaft Schuh. Das Restaurieren alter Herrenschuhe gehört zu Yonatanovs liebsten Herausforderungen.
Leidenschaft Schuh. Das Restaurieren alter Herrenschuhe gehört zu Yonatanovs liebsten Herausforderungen.

Ehe Yonantanov im Jahr 1985 hier einzog, hatte er schon eine lange Wanderschaft hinter sich. Geboren wurde er 1954 in Duschanbe, in der damaligen Sowjetrepublik Tadschikistan, seine Eltern stammten ursprünglich aus Usbekistan. „Wir sind Bucharen, fromme Juden“, betont er. Der Vater betrieb mit elf Partnern eine Tischlereigenossenschaft für orientalisch verzierte Möbel, aber eigentlich hatte er Schuhmacher gelernt. Gemeinsam mit fünf Geschwistern wuchs Michael in einem traditionell jüdischen Haushalt auf. „Ich habe schon als Kind beten gelernt, meine Mutter hat koscher gekocht.“ Einmal pro Woche war Hausschlachtung – ein Schaf –, Gemüse und Fisch kaufte man am Markt. Es gab eigentlich keine Probleme.

Dennoch führte der Vater die Familie 1974 via Österreich nach Israel. „Das war einfach sein Traum, er wollte ins Land der Väter.“ Michael, der vor dem zweijährigen sowjetischem Militärdienst in einer Gastronomieschule Koch gelernt hatte, nahm nach sechs Monaten israelischer Armee seinen Beruf wieder auf. Er arbeitete unter anderem im Dan-Hotel in Tel Aviv und in der Betriebsküche der Schokoladefabrik Elite. Dann machte er sich selbstständig und betrieb nacheinander zwei kleine Lokale für Arbeiter im Süden von Tel Aviv. Aber er kam mit dem heißen Klima nicht zurecht, war mehrmals krank. Die Klimaanlage in einer Schusterwerkstätte in Alt Jaffa, in der er dann werkte, brachte ihm eine schwere Bronchitis ein, und er überlegte, Israel wieder zu verlassen. Mittlerweile hatte er eine Frau und drei kleine Söhne.

Auf alles spezialisiert

Zuerst sah er sich in Berlin um, aber da fand er keine passende sephardische Synagoge. In Wien brachten ihn Bekannte in die bucharische Gemeinde in der Tempelgasse, und er beschloss, hier zu bleiben. Nachdem er systematisch die in Frage kommenden Branchen durchgegangen war, entschloss er sich für Schuhreparatur und Schlüsselservice, fand das gerade leer gewordene kleine Lokal und begann zu arbeiten. Schon einige Monate später holte er die Familie nach.

„Wir sind spezialisiert auf alles – zum Überleben muss man einfach alles machen.“

„Handwerk ist immer eine gute Sache“, erzählt er. „Und wir scheuen uns nicht vor der Arbeit.“ Das Schuhmachen hatte er noch in der Sowjetunion bei Verwandten nebenbei mitbekommen, mit einem spitzbübischen Lächeln sagt er: „Wir sind spezialisiert auf alles.“ Etwas nachdenklicher dann der Zusatz: „Zum Überleben muss man einfach alles machen.“ Aber sein heutiger Beruf ist ihm mehr als bloße Hilfe zum Überleben. Er kann fast schwärmerisch werden, wenn er von seinen liebsten Aufträgen spricht, dem Restaurieren schöner handgemachter Herrenschuhe. Das kräftezehrende Nachnähen ist ihm viel näher als das bloße Kleben kaputtgegangener Industrieware. Nebenbei verkauft er auch Schuhe, rahmengenähte Budapester und glänzende Western-Boots – hier und in einer Dependance in Gumpendorf.

Die Werkstatt in Wiens erstem Bezirk erzählt von Vergangenheit und Gegenwart zwischen Handel und Handwerk, Stoffen, Leder und Metall.
Die Werkstatt in Wiens erstem Bezirk erzählt von Vergangenheit und Gegenwart zwischen Handel und Handwerk, Stoffen, Leder und Metall.

Die führt übrigens einer der Söhne, dabei hatte dieser ursprünglich das TGM abgeschlossen. Ein weiterer Sohn ist Programmierer, der dritte arbeitet als Manager im Beit Halevi, dem Haus der Zukunft, einem bucharischen Zentrum im 20. Bezirk. „Alle haben etwas gelernt“, erzählt der Vater stolz. Und alle sind längst österreichische Staatsbürger. „Wir waren ehrlich, haben nie eine Strafe bekommen, deshalb ist es schnell gegangen.“

Gefragt, warum er während der Arbeit stets religiöse Texte hört, antwortet Yonatanov. „Wir waren immer fromm. Und ich habe nicht immer mit Kunden zu reden. Wenn ich allein in der Werkstatt bin, lerne ich eben, höre mir manche Auslegungen mehrmals an, bis ich sie verstanden habe.“ Einen besonderen Anstoß, noch frommer zu werden, gab ihm ein dramatisches Erlebnis vor mehr als zehn Jahren. „Da bin ich einmal zuhause plötzlich umgefallen und war schon tot. Doch dann bin ich wieder zurückgekommen, es war wie ein Schlag von oben.“

„Es geht dabei auch darum: Wie soll ein Mensch sein?“

Aber selbst seine starke Frömmigkeit macht ihn nicht weltabgewandt. „Es geht dabei auch darum: Wie soll ein Mensch sein?“ Er möge auch Freude haben an dem, was er tut und kann, wie etwa am Kochen. Und das praktiziert Yonantanov immer wieder – gemeinsam mit seiner Frau –, etwa wenn Freunde kommen oder bei Familienfesten, er ist ja inzwischen mehrfacher Großvater. „Ich tue das gerne, und man soll solche Fähigkeiten nicht vergessen“. Etwa, wie man Plov zubereitet, den bucharischen Reistopf, oder orientalische Teigtaschen. Mitten in Wien.

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