Selbst schuld

Wenn ein früherer Bundespräsident sich zu Wort meldet, hat das Gewicht. Er mischt zwar nicht mehr im aktuellen politischen und diplomatischen Geschehen mit – er ist aber immer noch eine wichtige Stimme für die Bevölkerung. Diese sollte daher sorgsam eingesetzt werden.

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Der 8. Mai steht im Zeichen der Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs, das Ende des Nationalsozialismus und damit auch das Ende der Shoah vor mittlerweile 80 Jahren. Mit dem inzwischen am Heldenplatz gefeierten Fest der Freude ist auch der Paradigmenwechsel gelungen, den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung zu verstehen – und nicht als einen Tag der Niederlage. Der historische Platz im Herzen Wiens ist nun Kulisse für würdiges Gedenken statt, wie zuvor über viele Jahrzehnte, für den Aufmarsch rechter Burschenschafter.

Und doch lag gerade über diesem Jubiläumsjahr ein schmerzhafter Schatten. Einen Tag vor dem 8. Mai veröffentlichte die Austria Presse Agentur Auszüge aus einem Interview mit dem früheren SPÖ-Politiker und Bundespräsidenten Heinz Fischer, geführt aus Anlass von 80 Jahre Kriegsende und 70 Jahre Staatsvertrag. In diesem Gespräch sprach Fischer die aktuelle Situation in Gaza an – konkret forderte er die österreichische Regierung auf, Stellung gegen Israels Vorgehen im Gazastreifen zu beziehen.

Er sehe „mit Empörung, in welcher Weise ein Ministerpräsident Netanjahu mit seinem sogenannten Kriegskabinett […] aus rechtsextremen, ihren Zionismus vor sich hertragenden Regierungsmitgliedern den Krieg gegen die Bevölkerung des Gazastreifens führt“. Daher erwarte er, dass die österreichische Regierung diese Dinge aufmerksam verfolge und dann Stellung nehme. Das stärkste Motiv dafür sei gerade, dass durch die Handlungen Netanjahus „der Antisemitismus nicht verringert, sondern vergrößert und gestärkt wird. Und dem muss ein Riegel vorgeschoben werden.“

Und Fischer weiter: Jedes einzelne Kind, „das im Gazastreifen stirbt oder verhungert oder auf andere Weise lebenslang geschädigt wird, ist genau eines zu viel“. Die Vorgänge seien entsetzlich und „umso schlimmer, als wir ja ganz, ganz positiv eingestellt sind zum Kampf gegen Antisemitismus“. Auch würdige man die Leiden, die das jüdische Volk auch im 20. Jahrhundert getragen habe, genauso wie den Holocaust. „Aber das alles rechtfertigt nicht, dass man jetzt so mit Menschen, Frauen, Kindern umgeht, wie das dort der Fall ist.“ Israel setze sich nicht nur über die Menschenrechte, sondern auch über das Völkerrecht hinweg.

Eine weitere Schleuse für das Artikulieren antisemitischer Überlegungen
hat sich geöffnet.

Ja, Krieg ist furchtbar, und Krieg ist die Hölle. Man kann es Fischer nicht verübeln, dass er das Leid der Menschen in Gaza, das allen zu Herzen geht, anprangert. Für dieses Leid ist allerdings der verantwortlich, der einen solchen Krieg anzettelt – und nichts dazu tut, um ihn zu beenden, wie beispielsweise die Geiseln freizulassen. In den am 7. Mai veröffentlichten Aussagen Fischers fand sich jedoch kein Wort zum 7. Oktober 2023, kein Verurteilen der Hamas; die immer noch in Gaza festgehaltenen Geiseln wurden nicht erwähnt. Kein Halbsatz zu alldem, nichts. Was in der öffentlichen Wahrnehmung hängen blieb? Israel setze sich über Menschenrechte und Völkerrecht hinweg.

Ein Blick in die Sozialen Medien förderte zutage: Was Fischer hier geschafft hat, war, nun auch in der sozialdemokratischen Bubble sozusagen freizugeben, endlich das sagen zu können, was sich viele offenbar ohnehin schon seit Monaten dachten, aber (noch) nicht zu sagen wagten. Da wurde der Mut des Altpräsidenten gewürdigt und dann – nun ich habe mich dem recht rasch entzogen. Die Kurzfassung: Eine weitere Schleuse für das Artikulieren antisemitischer Überlegungen hat sich geöffnet. Meine Art, mich nach solchen Ereignissen um meine Psychohygiene zu kümmern, ist, für ein paar Tage nichts Politisches mehr auf Social Media zu posten. Stattdessen gibt es hübsche Fotos von Blümchen oder unserem Hund.

Und die jüdische Bubble? Die war erschüttert, denn die zentrale Botschaft, die hier ankam, lautete: Irgendwie sind die Juden ja doch ein bissl schuld am Antisemitismus. Und das, wo Fischer doch auch betonte, „wir“ – wer ist mit diesem wir gemeint? – seien „ganz, ganz positiv eingestellt zum Kampf gegen Antisemitismus“. „Ganz positiv eingestellt“: Ich dachte ja, der Kampf gegen Antisemitismus sei in einer Demokratie und vor allem nach dem Holocaust eine Selbstverständlichkeit und keine Frage einer Einstellung. Nun, diese Einstellung scheint aber ohnehin nicht ganz so unerschütterlich zu sein. Das ist das bittere Fazit mehr als eineinhalb Jahre nach dem 7. Oktober 2023.

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