SHTISELMANIA glatt koscher

Vom Charme, „Tam“ und Suchtfaktor der absolut liebenswerten israelischen Familienserie, die auch in der neuen dritten Staffel nicht enttäuscht.

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© Netflix

Süchtige erhielten endlich wieder eine langersehnte Dosis Stoff. Seit die dritte Staffel der israelischen Kultserie Shtisel mit neun in der Corona-Zeit gedrehten Folgen auf Netflix abrufbar ist, droht Binge-Watching. Niemand, weder die Drehbuchautoren noch die Schauspieler, haben den Erfolg der Serie geahnt, als diese 2013 in Israel an den Start ging.

Ultraorthodox. Eine Familiensaga, angesiedelt im ultraorthodoxen Milieu in Jerusalem, auf Ivrith und Jiddisch, weder Sex noch Crime, weder Krone noch Mafia, wen in aller Welt sollte das interessieren? Offenbar alle Welt, aber warum? Warum beschäftigen uns keineswegs weltbewegende Schicksalsfragen?
Wird Shulem Shtisel, der alte misslaunige Witwer und Patriarch, noch irgendwann eine Partnerin finden, wird er den sensiblen jüngsten Künstler-Sohn Akiva, der sich nach dem Tod seiner jungen Frau nun um die kleine Dvorahle kümmern muss, noch einmal aus seinen Klauen entlassen? Wird Shulems Tochter Giti je mit ihrem Mann zufrieden sein, wird sie ihre Kinder gut, sprich fromm genug, verheiraten können? Hände weg von allen Shtisels, allen gegenwärtigen und ehemaligen, flucht die Heiratsvermittlerin, als wieder einmal ein von ihr eingefädelter „Schiddach“ platzt, eine Verlobung gelöst wird. Zuletzt hat sich Gitis Sohn Yossale in eine andere als die Vorgesehene verliebt. Verliebt! Wo hat er denn so was gehört? Was wird der Rebbe, die absolute Instanz, zu einer Leihmutterschaft sagen?
Erstaunlich, wie man in diese abseitige Welt eintauchen kann, ihre Regeln zumindest für die Dauer der jeweiligen Folge hin- und annimmt. Was in ihr unmöglich ist oder scheint, das wird da weder kritisiert, diffamiert oder karikiert, es wird glaubhaft in Szene gesetzt. Und zieht man das doch sehr dominante fromme Lokalkolorit ab, so bleiben durchaus universelle Menschlichkeiten übrig. Generationskonflikte, aufmüpfige Kinder, Ehezwiste, Sehnsucht nach Nähe und die Angst davor. Obwohl sich in der dritten Staffel vieles vergleichsweise dramatisch zuspitzt – Shulem und sein Bruder, zwei alte Jidden, ringen gar am Boden miteinander –, läuft das Leben mit seinen Ups and Downs in G-tt gefälligen Bahnen, streng abgeschlossen von der ungläubigen Außenwelt der „Zionisten“.

Die Shtisels, das sind „Mentschen“ im jüdischen Sinn, Sympathieträger aus Fleisch und Blut.

Feministisch. Aber die neue Zeit lässt sich auch in diesem Winkel Jerusalems nicht aufhalten.
Ein Kind im Cheder schlagen, das darf man nicht mehr, muss Direktor Shulem schmerzlich erfahren, und die Frauen begehren immer mehr auf, flüstern einander die Männer beim „Lernen“ zu. Schließlich verdienen die Mütter den Lebensunterhalt und versorgen die Familie, während sich die Männer in talmudische Finessen versenken. Da wird man wohl noch den Führerschein machen und sich vom eigenen Geld ein Auto kaufen dürfen. Geht gar nicht, geht aber doch, dann parkt es eben außerhalb des Viertels. Ja, die Frauen, sie sind stark, lebenstüchtig und geerdet und holen die Männer nicht selten aus dem Schlamassel, wahren dabei aber stets diplomatisch die Fassade. In dieser Hinsicht ist Shtisel geradezu überraschend feministisch, dabei aber wie überhaupt delikat und nie moralisierend. Übrigens ist die in der durchwegs säkularen Gesellschaft spielende neue israelische Amazon-Serie The Attaché ebenso von starken Frauen bestimmt.
Die intime Insider-Kenntnis bei gleichzeitiger Sicht von außen verdanken die beiden Shtisel-Autoren Ori Elon und Yehonatan Indursky, die selbst aus orthodoxen Kreisen stammen, diese aber verlassen haben, offenbar ihren eigenen Biografien. Zur Gefühls- und Farbechtheit des Milieus trägt nicht unwesentlich der sprachliche O-Ton bei, der diffizile Wechsel zwischen Jiddisch und Hebräisch, der sicherlich unübersetzbar ist.
Die Shtisels, das sind „Mentschen“ im jüdischen Sinn, Sympathieträger aus Fleisch und Blut, eigentlich wie wir, nur ein bisserl anders, und einige von ihnen sind einfach zum Verlieben. Welche Frau wollte Akivas blauäugiger Melancholie widerstehen, welcher Mann könnte sich nicht auf der Stelle in eine der zahlreichen Bräute vergucken, welche Mutter würde nicht, wie Giti, letztlich immer verzeihend zur Hilfe eilen. Schauspielerische Glanzleistungen erleichtern diese zeitweiligen Identifikationen, die das Erfolgsrezept aller guten Familienserien sind. Shtisel ist kein amerikanisches Serien-Fastfood, sondern glatt-koschere Mammes-Kitchen vom Besten. Wie werden wir bloß die Abstinenz bis zur hoffentlich nächsten Staffel überstehen? Was werden die Shtisels bis dahin erleben, ohne dass wir dabei sein dürfen?

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