„Sie haben sich benommen, als ob nichts gewesen wäre“

Zum 90. Geburtstag erinnert sich Otto Schenk, der humorvolle Schauspieler, erfolgreiche Regisseur und Theaterintendant, an seine Jugend im Wien der NS-Zeit.

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Otto Schenk, geboren am 12. Juni 1930 in Wien, zählt seit 73 Jahren zu den Säulen der österreichischen Kultur: Der Regisseur, Theaterdirektor, Schauspieler, Komiker, Menschendarsteller, Vorleser und Publikumsliebling feierte sein Bühnendebüt 1947 am Theater der Jugend. Beim Vorsprechen am Max-Reinhardt-Seminar überzeugte er u. a. die große Helene Thimig. Aus diversen Kellertheatern wechselte er Mitte der 1950er-Jahre über das Volkstheater an das Theater in der Josefstadt, das er von 1988 bis 1997 leitete. Den Durchbruch als Regisseur feierte er 1960 mit seiner Josefstadt-Inszenierung von Eugene O’Neills O Wildnis!. Es folgten Horváth-Inszenierungen an den Münchner Kammerspielen, Regiearbeiten am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und bei den Salzburger Festspielen. Sein Schauspieldebüt am Burg- theater gab er erst 1996. Auf rund 170 Inszenierungen kommt Otto Schenk im Laufe seiner beeindruckenden Karriere. Als Opernregisseur zählte er seit seinem Debüt mit Beethovens Fidelio an der New Yorker Met im Jahr 1970 zur Weltspitze. Er liebte dieses Opernhaus und schuf dort 16 Neuproduktionen: 2006 brach er für eine Zusammenarbeit mit Anna Netrebko seinen Eid, sich endgültig von der Regie zurückzuziehen, und inszenierte Donizettis Don Pasquale. In Wien behält der neue Staatsoperndirektor Bogdan Roščić die legendäre Rosenkavalier-Inszenierung Schenks aus dem Jahr 1968 mit einigen Auffrischungen im Repertoire. © Reinhard Engel

Wina: Nicht wenige Europäer ziehen derzeit Vergleiche mit den politischen Entwicklungen in den 1930er-Jahren und sind daher sehr besorgt. Sie haben die grausame NS-Zeit als Kind selbst erlebt. Sehen Sie derzeit auch besorgniserregende Signale in unserer Gesellschaft?
Otto Schenk: Politisch bin ich nicht so besorgt, aber wirtschaftlich. Ich bin kein Politiker, gebe ungern Gutachten ab. Schauspieler sollen Theater spielen, sich anständig verhalten, dann ist man auch gegen jeden Rechtsruck völlig gefeit. Die Parteien tun sich ja mit ihren Forderungen sehr schwer, sobald sie am Ruder sind. Vorher geht’s leichter, mit der Goschn reformieren.
Schrecklich ist diese Krankheit jetzt, mit der wir nicht fertigwerden. Wobei wir nicht wissen, was die noch anrichten wird und ob wir alle die Kraft haben werden, die Wirtschaft in Ordnung zu bringen. Das ist meine Angst.

Sie sind 1930 geboren, daher möchte ich Sie gerne nach den Erinnerungen in Ihrer Jugend fragen. Wann ist Ihnen zum ersten Mal bewusst geworden, dass ein Teil Ihrer Familie jüdisch war − obwohl schon katholisch getauft?
I Ich war sechs oder sieben Jahre alt, da wurde zu Hause schon heftig auf die Nazis geschimpft. Mein Vater hat gesagt: „Hitler bedeutet Krieg. Dieser Verbrecher kann diese Schulden, die er macht, um seine großspurigen Versprechen zu halten, nie zahlen und wird einen Krieg anfangen.“ Ich kann mich erinnern, als wir Schuschniggs Abschiedsrede im Radio gehört haben, da hat mein Vater sofort erklärt, dass er zu den Verfolgten gehören wird − und wir nicht mehr dazugehören werden.

»Woll’n S’ gleich mitfahren? Warum bleiben S’ bei dem Juden? Sie könnten das schönste Leben haben.« 

Da war er doch ein Prophet?
I In gewisser Weise schon. Die Ehe meiner Eltern wurde schon christlich geschlossen. Ich wurde katholisch erzogen von einer Mutter und Großmutter, die aus Triest stammten. Spielerisch war ich ein Katholik, aber als ich aufhörte, Kind zu sein, bin ich aus der Kirche ausgetreten.

Wann und warum?
I Als ich geheiratet habe. Ohne irgendwie böse zu sein, nur weil ich einen Betrieb nicht beanspruchen wollte, an den ich nicht glaube. Mit dem Glauben habe ich große Schwierigkeiten.

Ihr Vater war Notar und galt ab 1938 als Jude, weil seine Eltern getaufte Juden waren. Wie ist es ihm ergangen?
I Die Nazis haben ihm sofort die Kanzlei weggenommen.

Otto Schenk im Gespräch mit Marta S. Halpert im Garten seines Hauses am Irrsee. © Reinhard Engel

Wovon hat die Familie dann gelebt?
I Von den Ersparnissen, die wir monatlich von der Bank abgehoben haben. Aber auch diese waren gefährdet, weil meinem Vater schon die Goldmünzen und der Familienschmuck vorher abgepresst wurden. Seine Mutter hat ihre Wohnung verloren und musste am Schluss in einem Turnsaal mit sechs anderen Parteien hausen. Großmutter Rosalia hat aus der Not eine Tugend gemacht, manchmal war es dort ganz lustig.

Gingen Sie dort auf Besuch?
I Ja, ja, jede Woche haben wir sie besucht. Einmal ist der Vater hingegangen, um an alle Apfelstrudel zu verteilen. Da klebte ein Zettel an der Tür, dass sie „verzogen“ waren. Er hat sie nie wieder gesehen.

»Mein Vater sagt: ,Wir sehen die nicht mehr. Ich bin überzeugt, dass Hitler verlieren wird, aber ob ich überleben werde, weiß ich nicht.‘ «

Konnten Sie etwas über ihr Schicksal in Erfahrung bringen?
I Die Leiterin des Burgkinos wurde mit meiner 92-jährigen Oma im gleichen Transport nach Theresienstadt verschleppt. Von dieser habe ich erfahren, dass wegen der „Nettigkeit“ eines SSlers meine Großmutter und mein Onkel im Bremserhäuschen sein durften und nicht im Viehwaggon.
Meine Mutter ist vorher noch zur NS-Behörde betteln gegangen, sie sagte zu dem Offizier: „Was wollen Sie von dieser alten Frau? Sie haben nur Unkosten davon, sie stirbt doch bald.“ Aber der SSler meinte nur: „Die stirbt nicht so bald, die hätten Sie sehen sollen, was die aufgeführt hat, als man sie abgeholt hat!“ Als meine Mutter weiter insistierte, fragte er: „Woll’n S’ gleich mitfahren? Warum bleiben S’ bei dem Juden? Sie könnten das schönste Leben haben!“

Was geschah mit dem Onkel?
I Das war der Lieblingsbruder meines Vaters, ein sehr begabter Maler, der schon international ausgestellt hatte und vor einer Weltkarriere stand. Er wurde so wie meine Großmutter ermordet. Zum Glück war meine zwölf Jahre ältere Schwester rechtzeitig nach England emigriert. Sie durfte beim WAC in Wien nicht mehr Tennis spielen, darauf meinte sie, in einem Land, in dem man das verbietet, könne sie nicht länger leben. Sie trat in einer Show als Eiskunstläuferin auf und blieb in England.

Wurden Sie in der Schule als sogenannter „Mischling“ angefeindet?
I Nein, nicht einmal vom Obernazi-Lehrer. Ich war ein sehr guter Turner und Schwimmer und hatte das Glück, aus einer „privilegierten Mischehe“ zu stammen, weil die Mutter Arierin mit einem Kind war. Später hat mich die Familie spaßhalber als ihren „Lebensretter“ gefeiert.
Dem Antisemitismus sind wir irgendwie ausgekommen, weil der Vater und ich immer die Nazis gespielt haben: Er hat z. B. mit mir begeisterte Hitler-Aufsätze für die Schule geschrieben, dann hat er einmal gesagt, „DAS ist vielleicht zu begeistert“, dann haben wir es ein bisschen abgeschwächt! Meinem Vater war jeder Zwang und jede Uniform ein Gräuel, er war ein Vollblutdemokrat.

Wie ist es ihm nach 1945 gegangen?
I Er hat seine Kanzlei in der Wollzeile 20 ganz allein wiedereröffnet, obwohl alles ausgebombt war. Aber sein Schreibtisch steht hier bei mir im Haus am Irrsee.

Wie haben sich die Leute nach dem Krieg benommen? So als ob nichts geschehen wäre?
I Die haben sich schon im Krieg so benommen, als ob nichts gewesen wäre. Sie waren neutral. Wien ist ja nicht so nachbarlich: Aber in unseren Nachbarwohnungen lebten jüdische Familien, die alle deportiert wurden. Da gab es große Abschiedsszenen, man hat nicht geglaubt, dass es in den Tod geht. Doch mein Vater sagt: „Wir sehen die nicht mehr. Ich bin überzeugt, dass Hitler verlieren wird, aber ob ich überleben werde, weiß ich nicht.“ Er hat sich dann aus dem Nichts wieder etwas aufgebaut, hat die gleiche Kundschaft gehabt und hat kleinen Nazis wieder auf die Beine geholfen.

An welche Erlebnisse erinnern Sie sich gleich nach Kriegsende?
I Eines meiner Befreiungserlebnisse war, als ich meinen Vater erwischte, als er schrecklich weinte. Ich fragte ihn: „Warum heulst denn so?“ „Otti, ich bin wieder ein Mensch“, hat er ausgerufen.
Dennoch haben wir uns am Dachboden versteckt, als die Russen unsere Wohnung bis aufs Letzte ausgeplündert haben. Als Ruhe einkehrte, vollführten wir einen Freudentanz, sollen sie es schön haben mit unseren Sachen, Hauptsache wir leben alle! Ich hatte nicht einmal mehr eine Hose. Ich bin nur mit der Unterhose bekleidet in den Stadtpark gegangen. Trotz alldem hat mein Vater noch schöne Zeiten erlebt, auch meine ersten Erfolge am Theater.

Da wir einander über die Oper kennengelernt haben, muss ich Sie fragen, wie es 1970 zu Ihrem ersten Engagement an die Metropolitan Opera (Met) in New York kam? Schließlich haben Sie dort 16 Opern inszeniert, mehr als jeder andere lebende Regisseur.
I Ganz einfach: Birgit Nilsson, die schwedische Sopranistin von Weltrang, hat mir bei einem Probendurchlauf einer fertigen Inszenierung an der Wiener Staatsoper zugeschaut. Sie meinte darauf, so etwas habe sie noch nie gesehen! Nilsson wollte dann an der Met die „Tosca“ singen und erklärte dem damaligen Direktor Rudolf Bing − auch ein gebürtiger Wiener −, sie mache das nur unter der Bedingung, dass Schenk Regie führt. Bing hat mich dann mit den Worten engagiert: „Ich habe Birgit internationale Regisseure angeboten, aber ausgerechnet Sie möchte sie haben.“ Ich hatte in diesem Weltstar einen guten Agenten.

 

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