Meine Eltern haben am 28.06.1936 im Wiener Stadttempel geheiratet. Meine Mutter kam aus einer streng orthodoxen Familie, mein Vater aus einer gut bürgerlich-traditionellen Familie. Ein Shidach und keine einfache Kombination. Aber sie sollten alle Herausforderungen die Ihnen das Leben gestellt hat gemeinsam meistern und bis zu ihrem Lebensende in großer Liebe miteinander verbunden bleiben.

Ich kann mich gut erinnern als ich meine Mutter in jungen Jahren nach unserer Familie gefragt habe. Die Antwort gab sie mir mit einem nicht enden wollenden Meer an Tränen. „Frug nischt a soi viel kashes mein Kind“ Es war das letzte Mal das ich gefragt habe. Über diese dunkle Zeit lag in unserer Familie ein Mantel des Schweigens.
So kommt es, dass ich von meiner Familie recht wenig weiß. Das wenige konnte ich lediglich aus Gesprächen meiner Eltern mit der Handvoll überlebender Freunden erhaschen.
Meinem Vater, ein bekennender Sozialist, hatte, nicht zuletzt aufgrund dieser religiös/politischen Doppelbelastung, bereits 1938 die zweifelhafte Ehre mit dem ersten Österreicher-Zug nach Dachau zu kommen. Seine Wohnung wurde ihm weggenommen und auf dem Bescheid stand „zur Erholung in Dachau!“ Dann Buchenwald. Meine Mutter die sich an jedem Strohhalm klammerte um meinen Vater freizubekommen fuhr auf Anraten einer Bekannten nach Hamburg um dort bei einer SS-Größe die Freilassung meines Vaters zu erbitten. Er meinte sie solle in Wien in einem Reisebüro (das seines Bruders) am Althanplatz Tickets nach Shanghai kaufen. Dann würde ihr Mann auf wundersame Weise wieder Heimkehren. Garantie gab es nicht aber eine andere Wahl hatte sie auch nicht. So kaufte sie mit ihrem letzten Geld die sündteuren Tickets. 9 Tage später stand mein Vater in der Sammelwohnung in der sie inzwischen untergebracht war. Sie erkannte ihn nur an der Größe.
Unnötig zu erwähnen, dass sie die Schiffstickets nie sahen.
Ihr Weg führte sie schließlich über die abenteuerlichsten Wege nach Südfrankreich wo sie in den Alpes Maritimes von mutigen und gerechten Menschen wärend 2 Jahren versteckt wurden. Mein Vater kämpfte an deren Seite als Maquis im Widerstand. Noch heute bin ich in laufenden Kontakt mit den Kindern dieser Helden.
Kleines Bon Mot: Eines der Ur-Enkelkinder der Familie welche meine Großeltern gerettet hat, ist vor 15 Jahren zum Judentum konvertiert und lebt heute in Nizza mit Mann und Kindern ein orthodoxes jüdisches Leben. Mein Sohn war der Ed auf der Chasseneh. Es sollte eine der emotionalsten Momente meines Lebens werden.
Einige wenige Familienmitglieder haben es in die Vereinigten Staaten geschafft. Alle Anderen sind ins Gas geschickt worden. Nach dem Krieg sollten wir ebenso in die Staaten auswandern. Der Bruder meines Vaters hatte Wien noch rechtzeitig verlassen. (nachdem ihm die Gestapo, wie auch vielen anderen jüdischen Frauenärzten, illegale Abtreibungen vorwarf.) Inzwischen hatte er es zum Vorstand der Frauenheilkunde am Brentwood Spital in New York gebracht.
Im Jahre 1949 kam mein Vater nach Wien um seine Dokumente zu ordnen und nochmals das Grab seiner Eltern zu besuchen. Da ereilte ihm die Nachricht, dass sein einzig überlebender Verwandter, sein Bruder Ludwig, plötzlich verstorben sei. Somit war der einzige Ankerpunkt weg und wir blieben in Wien im Rückkehrerheim in der Tempelgasse picken. Zurück auf der Insel!
Mit zunehmendem Alter wuchs in mir das Bedürfnis wenigstens jene Familienmitglieder zu benennen und zu ehren von denen ich weiß. Am 10. September 2023 um 11 Uhr geht für mich ein Herzenswunsch in Erfüllung. In der Praterstraße 50 wird für meine Großmutter Gittel Gelber und ihrem jüngsten Sohn Norbert ein Stolperstein installiert. Sie wurde 1942 von dort nach Theresienstadt/Treblinka verschleppt und ermordet.
Heute bin ich dem lieben G„tt für meine kleine Familie dankbar, und stolz auf meine Kinder und Enkelkinder die mit viel Selbstbewusstsein wieder an einer jüdischen Familie in Wien bauen.