„Stadt ist eigentlich ein permanentes Kommen von allen“

Seit 1. Juli ist die Wiener Historikerin Barbara Staudinger Direktorin des Jüdischen Museums Wien, das ihre Vorgängerin Danielle Spera zwölf Jahre lang führte. Was sie in und außerhalb des Hauses plant und welche Aufgaben sie für ein Jüdisches Museum sieht, erklärt sie im Gespräch mit Anita Pollak.

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Neue Direktion, neue Projekte: Barbara Staudinger blickt voller Ideen auf ihre kommenden Jahre im Jüdischen Museum Wien. © Daniel Shaked

BARBARA STAUDINGER,
geboren 1973 in Wien, wo sie Geschichte, Theaterwissenschaft und Judaistik studierte. Nach Tätigkeiten am Institut für Jüdische Geschichte in St. Pölten und am Jüdischen Museum in München, leitete sie von 2018 bis 2022 das Jüdische Museum Augsburg. Sie kuratierte etliche Ausstellungen, u. a. in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, und gab mehrere Bücher heraus. Sie ist Mutter eines Sohnes.


WINA: Sie haben sich früh auf jüdische Geschichte, auch auf österreichisch-jüdische Geschichte spezialisiert und Ihre Karriere als Wissenschaftlerin, Kuratorin und zuletzt als Direktorin des Jüdischen Museums in Augsburg auf diese Thematik ausgerichtet. Sie sind selbst keine Jüdin und haben nicht einmal die gern herbeizitierte jüdische Großmutter. Wie kam es zu diesem ausgeprägten Interesse?
Barbara Staudinger: Ich habe mich im Geschichte-Studium auf historische Minderheiten spezialisiert und nach der Diplomarbeit bei einem Forschungsprojekt zur österreichisch-jüdischen Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert mitgearbeitet. Dabei habe ich gemerkt, dass mich all das, was mich an Minderheiten interessiert, in der jüdischen Geschichte kulminiert. Daraufhin habe ich noch berufsbegleitend Judaistik studiert und Hebräisch gelernt, denn wenn man die innerjüdischen Quellen nicht interpretieren kann, sieht man die jüdische Geschichte nur aus der Perspektive der Obrigkeit, und die jüdische Perspektive auszulassen bedeutet, nur die halbe Geschichte zu erzählen. Mir hat die Judaistik sehr viel Spaß gemacht.Da waren die Türen der Professoren immer offen, und es gab Vorlesungen mit sieben Leuten.

Welche personelle Veränderungen gibt es noch im JMW?
I Wir haben einen neuen Chefkurator, Hannes Sulzenbacher, der schon viele Ausstellungen für das Jüdischen Museum Hohenems gemacht hat, aber auch für die Jüdischen Museen Berlin und München.

Im Gegensatz zu Augsburg gibt es in Wien eine höchst aktive, auch streitbare jüdische Gemeinde. Wie war deren Echo auf die Bestellung einer nicht-jüdischen Direktorin?
I Mein Nicht-Jüdischsein wurde eigentlich nie thematisiert. Ich denke, den Menschen und der IKG geht es um Expertise, um Themen und um eine Sensibilität. Ich glaube, dass ich gut klar machen kann, dass sich in der Museumsarbeit nichts ändern würde, wenn ich Jüdin wäre.

Zurück in Ihrer Heimatstadt, fühlen Sie sich jetzt angekommen und aufgenommen?
I Ja, denn mehr als andere bin ich Wienerin und habe eine nicht immer logisch erklärbare, aber riesengroße Liebe zu dieser Stadt. Ich war in meiner Karriere mehrere Jahre in Deutschland, und es ist wunderschön, wieder zurückzukommen.

Ihre Vorgängerin hat erfolgreich auf eine Steigerung der Besucherzahlen gesetzt und diese sogar verdoppelt. Ist diese Zahl für Sie auch bedeutend bzw. was wäre für Sie ein Gradmesser des Erfolgs?
I Besucherzahlen sind nicht allein das Ziel einer Direktion. Sie sind ein Gradmesser für den Mutterkonzern, denn sie zeigen, ob das Museum ankommt, und sind auch wirtschaftlich wichtig, aber nur ein Erfolgsparameter von vielen. Stark ausbaufähig ist hier am Museum die Form der digitalen Vermittlung und alles, was in den Outreach-Bereich geht, in den öffentlichen Raum und andere Institutionen, was sich besucherzahlensmäßig weniger niederschlägt. Dennoch finde ich es wichtig, dass jüdische Geschichte nicht nur im Museum stattfindet und im restlichen Stadtraum höchstens mit Erinnerungen an den Nationalsozialismus verbunden wird.

 

»Jeder Mensch, der im Kulturbereich arbeitet,
will
die Welt ein bisschen besser machen.«
Barbara Staudinger

 

Woran denken Sie da konkret?
I Erstens an Vermittlungsprogramme, wobei nicht nur Schulen ins Museum kommen, sondern wir auch in Schulen gehen, was wir in Augsburg sehr erfolgreich gemacht haben. Das baut Hemmungen und Vorurteile ab. Wir haben dort auch einen Teil einer Ausstellung, der Shalom Sisters, einer jüdischen Frauendemonstration, auf einer Straßenbahn gemacht, die monatelang durch Augsburg gefahren ist. Solche Aktionen finde ich wichtig, weil sie komplett barrierefrei sind und jüdische Themen mit anderen verbunden werden können. Museumsbesucher:innen fragen sich ja, inwiefern ist das für mich wichtig, was geht mich das an? Man muss die Menschen mit etwas verbinden, das auch ihre Lebensrealität betrifft. Dann interessiert es sie, denn der Mensch ist ein wahnsinnig neugieriges Lebewesen. Diese Neugier zu wecken, sollte das Ziel jeder Art von Vermittlung sein.

Wie kann man neue Besucherschichten aktivieren, ohne das Stammpublikum, das es zweifellos gibt, zu verschrecken, wohl eine Kernfrage des Kulturbetriebs?
I Ich glaube schon, dass wir mit unserem neuen Programm Ausstellungen machen, mit denen viele Menschen etwas anfangen können, natürlich ist es anders, denn jede neue Direktorin, jeder neue Direktor tritt an, um etwas Neues zu machen, das ist ja der Sinn einer Veränderung.

Das Jüdische Museum ist schon wegen seiner Lage im Herzen der Stadt auch ein touristischer Hotspot. Sehen Sie das weiterhin als eine Priorität?
I Es muss eine Priorität sein, denn in der Dorotheergasse sind 40 Prozent der Besucher:innen Tourist:innen, am Judenplatz sogar 60 Prozent, und an beiden Standorten gibt es sogar noch ein Steigerungspotenzial, andererseits ist unser wichtigster Stakeholder die Stadtgesellschaft und nicht die Tourismusindustrie. Von der Wertigkeit her muss die Priorität für ein Museum, das von Steuergeldern der Stadt gezahlt wird, daher auch die Bevölkerung der Stadt sein.

Sie sind nicht zuletzt auf Grund Ihrer wissenschaftlichen Meriten bestellt worden. Wie wichtig ist die Wissenschaft für ein lebendiges Museum?
I Ich habe über 20 Jahren in der Forschung zur jüdischen Geschichte gearbeitet, das gibt einem einen sehr guten Überblick über Trends, man kennt die Kolleg:innen europaweit und auch in den USA, da kann man viel mitnehmen. Ich bin auch bestellt worden, weil ich eine erfahrene Kuratorin bin und schon ein Museum geleitet habe, und kann durch meine Kontakte – ich bin eine Netzwerkfrau – interessante und neue Erkenntnisse einbringen. Ein Museum ist kein außeruniversitäres Forschungsinstitut, es kann sich aber an Forschungen beteiligen, wenn die eigene Sammlung betroffen ist. Auch im Bereich der Provenienzforschung ist das Museum eine wichtige Forschungsstätte.

Love me kosher: von der Erschaffung der Welt bis zur LGBTIQ-Bewegung aktuell im JMW. © David Bohamnn/ JMW

Die Sammlung ist ein wichtiger Teil eines Museums. Sammeln sollte eine Kontinuität sein, wird aber budgetär immer schwieriger, wenn man keine nennenswerten Schenkungen erhält. Welche Rolle soll das Sammeln in Zukunft spielen?
I Die kulturhistorischen Museen platzen aus allen Nähten, alle haben ein großes Storage-Problem, und gerade über die Zukunft des Sammelns wird zurzeit sehr viel nachgedacht. Auch darüber, was überhaupt ein jüdisches Museum ist: Wie hat sich das gewandelt, in welche Richtung gehen jüdische Museen, und in welche Richtung geht das Sammeln? Die Sammlungen sind hier immer noch gewachsen, vor allem bei historischen Beständen, aber es gibt große Sammlungslücken, zum Beispiel über die bucharische und sephardische Gemeinde in Wien, dazu gibt es praktisch nichts. Wenn wir jetzt das Judentum heute zeigen, so zeigen wir Fotos aus der Dobrony-Sammlung aus den 1970er- und 1980er-Jahren, für junge Leute ist das die Steinzeit.

Wie jüdisch soll, muss, kann ein jüdisches Museum sein, was soll es herzeigen und welches Bild vermitteln?
I Auf jeden Fall muss ein jüdisches Museum jüdisch sein. Da gibt es einerseits die Dimension der Sammlung aus jüdischer Perspektive. Dann die Ebene des Personals, es wäre ganz komisch, wenn da niemand jüdisch wäre. Weiters gibt es die Dimension der Ausstellungen mit einer jüdischen Perspektive, was nicht heißt, dass man nicht auch Erkenntnisse mitnehmen kann, die für andere Minderheiten und Gruppen in der Stadt interessant sind. Und als letzten Punkt, dass ein jüdisches Museum nicht nur, aber auch ein jüdisches Publikum haben muss. Jüdische Museen wurden in der Nachkriegsgesellschaft oft in Gemeinden gegründet oder wiedergegründet, in denen es keine jüdische Gemeinden mehr gab, mit einem nichtjüdischen Zielpublikum, auch das finde ich problematisch.

 

»Eine Weltchronik berichtet, dass Abraham nach der Sintflut
sein Reich in Wien gegründet hat.«

Barbara Staudinger

 

Also so eine Art voyeuristische Reservatsperspektive?
I Ja, genau. Viele Leute gehen da rein, weil sie wissen wollen, wie die Juden leben, die Juden Feste feiern und die Juden glauben. Ich finde, ein jüdisches Museum soll diese Erwartungen enttäuschen und die Möglichkeit bieten, es anders zu sehen: dass es nämlich die Juden so gar nicht gibt, dass es nicht nur eine Vielfalt vom orthodoxen bis liberalen Judentum gibt, sondern auch persönliche Unterschiede, ganz weit weg von jedem Klischee. Das muss man auflösen, ansonsten transportiert man Stereotype.

Ihr Ausstellungsprogramm für die nächsten Monate steht bereits fest. Was haben wir da zu erwarten?
I Unsere erste ganz kleine Ausstellung wird am 12. Oktober eröffnet, eine Videoarbeit des taiwanesischkoreanischen Künstlers James T. Hong, sie heißt Apologies. Da sieht man eineinhalb Stunden Staatsoberhäupter aus der ganzen Welt sich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit entschuldigen. Die Arbeit ist unglaublich mitnehmend, denn man merkt ganz schnell, das geht ja immer weiter. Und dass sich auch die Worte, der symbolische Akt der staatlichen Entschuldigung, gleichen. Wir kontextualisieren das mit einem Zitat von Ruth Klüger: „Ihr sagt niemals wieder …“ Am 29. November eröffnen wir unsere große Ausstellung Hundert Missverständnisse über und unter Juden, die schon einen guten Einblick in das Programm der folgenden Jahre gibt, eine Ausstellung, die Vorurteile im Licht des kitschigen Denkens über Juden zeigt und auch mit einem Augenzwinkern damit spielt.

Was ist am zweiten Standort auf dem Judenplatz geplant? Gibt es da einen Bezug zur mittelalterlich-jüdischen Geschichte des Ortes?
I Dort ist die Dauerausstellung zum jüdischen Mittelalter erst 2021 eröffnet worden und wird bleiben. Der Judenplatz mit dieser Spange vom Shoah-Mahnmal zur mittelalterlichen Synagoge ist für mich ein Ort des Nachdenkens darüber, was Erinnern eigentlich ist, welche Geschichten erzählen wir und wie erzählen wir sie. Im Gegensatz zum Palais Eskeles in der Dorotheergasse, das ja nie ein Zentrum der jüdischen Gemeinde war, ist der Judenplatz ein authentisch jüdischer Ort, der von sich aus unendlich viel von der Geschichte erzählt. Insofern soll es da um Erinnerung in verschiedenen Facetten gehen. Anfang November eröffnen wir dort die Ausstellung My Blood Strangers über die Aneignung von Geschichte am Beispiel des Wiener Palais des Beaux Arts.

Die Dauerausstellung im Haupthaus ist fast zehn Jahre alt. In schnelllebigen Zeiten also vielleicht schon veraltet. Was planen Sie da?
I Nächstes Jahr ist ein Jubiläumsjahr, 30 Jahre Dorotheergasse, zehn Jahre Dauerausstellung – und ein Startschuss für das Nachdenken über eine neue Dauerausstellung. Ich finde es ganz wichtig, dass jüdische Museen selbstreflexiv sind, das heißt für uns auch, darüber nachzudenken, was in unserer Sammlung eigentlich Stereotype verstärkt. Jede Dauerausstellung eines jüdischen Museums beginnt mit der ersten Erwähnung der Juden in einer Stadt. Das produziert das Bild, die Stadt wäre schon da und die Juden kommen als Fremde dazu. Aber dieses Bild ist falsch, denn Stadt ist eigentlich ein permanentes Kommen von allen. Wir haben eine Weltchronik gefunden, die berichtet, dass Abraham zwei Wochen nach der Sintflut sein Reich in Wien gegründet hat! Man könnte also sagen, seht her, die Juden waren zuerst da und alle anderen sind nachher gekommen! Ein kurioses Beispiel, das einen aber schon zum Nachdenken bringt.

Haben Sie, weil ich das leise durchhöre, auch eine aufklärerische Mission?
I Ich glaube, jeder Mensch, der im Kulturbereich arbeitet, will die Welt ein bisschen besser machen. Das ist ja etwas sehr Jüdisches, Tikkun ha Olam, die Welt verbessern. Es mag vielleicht etwas idealistisch oder naiv klingen, aber letztlich ist es das, was einen treibt und woraus man die Freude an der Arbeit bezieht.

Die Corona-Zeit hat gezeigt, dass man auch in einem zeitweise geschlossenen Haus auf andere Weise, sprich digital, überleben muss oder kann. Wie soll man diese Erfahrungen in Zukunft umsetzen?
I Wir sind gerade dabei, die Online-Sammlung wirklich umzusetzen, ein Kurator wird sich vermehrt Online-Ausstellungen widmen, und wir werden auch ein digitales Outreach betreiben. Das Online-Angebot ersetzt nichts, es ist aber eine andere Ebene, die immer wichtiger wird, und das dürfen wir nicht versäumen. Es gibt viele Leute weltweit, die gar nicht ins Museum kommen können, denen aber zum Beispiel als Nachfahren der jüdischen Gemeinde in Wien das Museum am Herzen liegt. Die kann man nicht mit Online-Führungen mit verwackelten Bildern abholen. Man kann aber speziell für Online-User kreierte Programme zu den Ausstellungen entwickeln und so eine Verbindung herstellen.

Was wünschen Sie sich persönlich als Direktorin für die nächsten fünf Jahre?
I Ich wünsche mir viele Kooperationen, viele fröhliche Feste und spannende Diskussionen.

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