Es sind seltene Fälle, in denen Geschichte lebendig wird: Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) berichtet davon, dass ein Papyrus aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. „sensationelle Erkenntnisse über Kriminalität und Gerichtswesen in den römischen Provinzen des Nahen Ostens“ erzählt. Forscherinnen und Forscher der ÖAW, der Universität Wien und der Hebrew University zeigen in der Fachzeitschrift Tyche auf, wie sich die römische Verwaltung in den Provinzen Iudaea und Arabia mit Finanzverbrechen konkret einem mutmaßlichen Steuerbetrug mit Sklaven beschäftigte. Das nun erstmals edierte Schriftstück biete „nicht nur einzigartige Einblicke in die römische Reichsverwaltung und Rechtsprechung, sondern auch neue Informationen zu einer Epoche, die von zwei blutigen jüdischen Aufständen gegen Rom erschüttert wurde“.

Spannende und erkenntnisreich Entdeckung: Ein Papyrus aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., der bislang falsch zugeordnet gewesen war, bringt neue sensationelle Erkenntnisse über die damalige Rechtslage im Römischen Reich und dessen Provinzen. © Shai-Halev/ÖAW

Worum geht es? Schon vor Jahrzehnten wurden in einer Höhle der Judäischen Wüste unweit vom Toten Meer römische Urkunden auf Papyrus entdeckt, die während des Bar-Kochba-Aufstandes von geflüchteten Menschen versteckt worden waren. Bei diesem Aufstand hatten sich Juden gegen die römische Herrschaft erhoben.

Laut ÖAW blieb damals ein besonders schwer entzifferbares Dokument in griechischer Sprache – die in der Region auch unter den Römern noch als Amtssprache diente – unbeachtet. Höhlen wie der mutmaßliche Fundort dienten als Zuflucht vor Aufständen beziehungsweise deren Unterdrückung durch die römische Armee. Zwar seien die Umstände nicht genau dokumentiert, aber die Inventarnummern des Archivs deuten auf einen Fund in den 1950er-Jahren durch Beduinen in der Judäischen Wüste nahe dem Toten Meer hin. Der Papyrus wurde damals der falschen Sprachgruppe – Aramäisch – zugeordnet. Er wurde 2014 in einem israelischen Archiv wiederentdeckt. „Erst durch eine neue Inventarisierung wurde klar, dass es tatsächlich ein griechischer Papyrus ist“, so Anna Dolganov vom Archäologischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Die nunmehr vorgelegte Publikation zeigt: Der Papyrus enthält die Notizen von zwei Anwälten, die darin ihre Argumentation für eine Anklage darlegten. Sie fungierten dabei als Ankläger in einem verwickelten Strafprozess. „Diese Urkunde ist singulär, weil sie direkte Einblicke in die Vorbereitung eines Prozesses in diesem Teil der römischen Welt vermittelt“, erklärt Dolganov. „Es ist unsere erste Einsicht in die Arbeitsweise der römischen Gerichte im Nahen Osten.“ Dolganov hat gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern aus Wien und Israel eine erste Edition und Interpretation des Textes veröffentlicht. Ko-Autoren des Aufsatzes in Tyche sind Fritz Mitthof von der Universität Wien sowie Hannah CottonPaltiel und Avner Ecker von der Hebrew University in Jerusalem.

 

„Es ist unsere erste Einsicht
in die Arbeitsweise der römischen

Gerichte im Nahen Osten.“
Anna Dolganov

 

Brisanter Strafprozess. Der Papyrus erzählt von Steuerbetrug und Fälschung, dem fingierten Kauf und der betrügerischen Freilassung von Sklaven in den römischen Provinzen Iudaea und Arabia, also dem Raum des heutigen Israel und Jordanien. Hauptangeklagte sind zwei Juden, Gadalias und Saulos, denen korrupte Machenschaften vorgeworfen werden. Gadalias, möglicherweise ein römischer Bürger, war Sohn eines Notars und blickte bereits auf eine längere kriminelle Vergangenheit zurück. Sein Freund und Komplize Saulos soll mehrere Sklaven durch einen Scheinkauf an einen Komplizen veräußert und später freigelassen haben, ohne die dafür vorgeschriebenen römischen Steuern abzuführen. Als die Geschichte aufzufliegen drohte, versuchte Saulos mit Unterstützung von Gadalias, Urkunden zu fälschen, um die wahren Vorgänge zu vertuschen. Auf beide Vergehen standen schwere Strafen, etwa Arbeit im Steinbruch oder gar das Todesurteil.

Wozu riskierten sie das? „Wir vermuten, dass man tatsächlich versucht hat, die Sklaven auf dem Papier verschwinden zu lassen, und es sich somit um banale Steuerflucht handelte“, so Dolganov in der Schweizer jüdischen Zeitschrift Tachles. Durch einen scheinbaren Verkauf in eine andere Provinz könnte das gelingen – denn auch, wenn die Sklaven dort nicht offiziell deklariert wurden, hätte man für sie „daheim“ die vorgeschriebene Kopfsteuer nicht mehr zahlen müssen.

Historisch markanter Zeitpunkt. Der Kriminalfall ereignete sich zwischen zwei jüdischen Aufständen gegen die römische Herrschaft: der Diaspora-Revolte (115– 117 n. Chr.) und dem Bar-Kochba-Aufstand (132–136 n. Chr.). Die Ankläger unterstellten den Beschuldigten vor diesem Hintergrund überdies aufrührerisches Verhalten und erwähnten frühere Straftaten. Die Forscher vermuten, dass die römische Verwaltung den Verdacht hatte, dass sich die zwei jüdischen Angeklagten nicht nur der Steuerhinterziehung schuldig gemacht hatten: Es wird angedeutet, dass es sich um organisierte Kriminalität oder sogar um eine Verschwörung gegen den römischen Staat handeln könnte. Neben der Steuervermeidung könnten Gadalias und Saulos auch die Absicht gehabt haben, versklavte Juden gemäß religiösen Vorschriften vom römischen Sklavenmarkt freizukaufen. Ob die Angeklagten tatsächlich verschwörerische Absichten verfolgten und an dem drohenden folgenden Aufstand beteiligt waren, bleibt eine offene Frage, so die Wissenschaftler.

Laut Dolganov wusste man bisher wenig darüber, wie das römische Recht im griechischen Osten praktiziert wurde. „Die meisten erhaltenen Papyri dieser Epoche stammen aus Ägypten, das Historikerinnen oft als Sonderfall betrachten. Aber diese Urkunde zeigt deutlich, dass die institutionellen Strukturen des Römischen Reiches ziemlich einheitlich organisiert waren“, betont Dolganov.
Und Dolganov präzisiert: „Die Ankläger beherrschen die Sprache der römischen Verwaltung, sie verwenden römische Rechtsbegriffe auf Griechisch. Der Papyrus veranschaulicht zudem, dass der römische Staat die Macht hatte, auch in entlegenen Regionen die Privatgeschäfte der Menschen zu überwachen und Kontrolle auszuüben.“

Ob es zu einem abschließenden Urteil gekommen ist, wissen wir allerdings nicht. Die Forscher:innen vermuten, dass die Verhandlungen von dem BarKochba-Aufstand unterbrochen worden waren.

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