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Noa Yedlin – Leute wie wir
Roman

Original: Anashim kamonu. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Hardcover, 368 Seiten; ISBN: 978-3-0369-5841-5
23,00 EUR

Jetzt ist das Viertel zwar noch ein bisschen abgesandelt, seine Bewohner vielleicht nicht gerade Leute, mit denen man unbedingt Freundschaft schließen möchte, aber das sind doch hässliche Vorurteile, und in spätestens zehn Jahren wird das hier ein angesagtes Trendviertel sein, in dem man sich keine Wohnung wird leisten können, geschweige denn ein Haus. So denken Osnat und ihr Mann Dror, als sie mit beiden Töchtern in ihr stylish renoviertes Haus im Viertel Drei-Fünf im Süden Tel Avivs einziehen, ein urbanes, akademisch gebildetes Bobo-Paar Anfang vierzig, wie es überall in der westlichen Welt zu Hause sein könnte.
Sie arbeitet in einem mächtigen Lebensmittelkonzern, er hat seine IT-Stelle gekündigt, um daheim seine Start-up-Idee zu entwickeln, ein Programm, das „pornografische Komponenten“ im Internet identifiziert und gleichzeitig Eltern warnt, sobald ihre Kinder auf einschlägigen Seiten landen. Also sammelt er ganztags pornografische „Muster“ zum guten Zweck und bekocht als Hausmann nebenbei die Töchter. Möglichst gesund, wünscht sich Osnat, denn die elfjährige Hamutal ist bereits fast zu dick. Was kein Problem sein sollte, aber trotzdem. Kein Problem sollte auch Hamutals neue Freundin sein, deren Eltern Kampfhunde halten und züchten. Sogar der unmittelbare Nachbar, der alte Israel, der gefühlt 24/7 unbeweglich im Garten sitzt, alles sieht und seinen gewohnten Parkplatz notfalls militant verteidigt, sollte kein Problem sein. Doch es kann eben der Frömmste nicht in Frieden leben … Wer hat den naiven Neuen den Briefkasten eingeschlagen, wer bei ihnen eingebrochen und auf dem blanken Badezimmerboden einen Scheißhaufen hinterlassen, und was wollte der Einbrecher damit sagen?

»Menschen tun sich nun mal mit Menschen zusammen,
die ihnen ähnlich sind.«

Ressentiments. Recht bald dämmert den Eheleuten, dass ihre Nachbarn jedenfalls nicht „Ihresgleichen“ sind, obwohl sie sich für diese Gedanken politisch korrekt schämen. „Menschen tun sich nun mal mit Menschen zusammen, die ihnen ähnlich sind, was die Wertvorstellungen angeht, Kultur, Lebensstil, das ist auf der ganzen Welt so, das erscheint mir jetzt nicht unbedingt … irgendwie sensationell neu“, meint Dror, der von Anfang an lieber nach Rechovot gezogen wäre, in die Nähe des Weizmann-Instituts, wo die geistigen Eliten des Landes wohnen, sich untereinander paaren und ihre dementsprechend hochbegabten Kinder auf die richtigen Schulen schicken. Ja, wie für alle bildungsbürgerlichen Eltern wird die anstehende Schulauswahl ein fast existentieller Stress, denn die kleine Hannah in die nächstgelegene staatliche Schule zu schicken, bei aller gutmenschlichen Liebe, nein nicht fürs eigene Kind!
Diffizil und treffend, hinterhältig, schlau und raffiniert entlarvt Noa Yedlin die Ressentiments der entsprechenden Schicht der Forty-Somethings, ihre inneren und äußeren Konflikte, ihre Ängste und Bedürfnisse.
So ihre Angst vor der eigenen Spießigkeit, gepaart mit dem Bedürfnis nach Sicherheit, ihre Angst vor dem alten Nachbarn, der der Tochter Süßigkeiten zusteckt, ihre Angst davor, ihr Angst zu machen, Osnats latente Lust auf einen Seitensprung, gepaart mit ihrer Angst vor dem Zerbrechen ihrer Ehe, die seit dem Umzug in die neue Gegend ohnehin dauerkriselt. Was macht Dror eigentlich wirklich, während er stundenlang mit dem Kampfhund-Welpen unterwegs ist, der ihnen als Geschenk aufgedrängt wurde?
Über ein knappes Jahr, in Monatskapitel unterteilt, entfaltet Yedlin ihren Gesellschaftsroman als eine Art Psychothriller, wobei die einzelnen Fakten schemenhaft im Dunkeln bleiben. Nicht so wichtig ist letztlich, wer was tatsächlich getan hat. Was gedacht, was angedeutet, aber nicht ausgesprochen wurde, macht die subtile Spannung aus. Wobei man ihrer Protagonistin Osnat beim Denken und Reden fast in Echtzeit folgen muss, was zuweilen auch nerven kann. So genau will man das alles vielleicht doch nicht wissen.
Den Zeitgeist einer Generation hat die in Israel hoch ausgezeichnete Autorin jedenfalls exemplarisch getroffen. Mag der Immobilien-Hype in ihrer Heimat noch krasser sein als anderswo, mögen die einzelnen soziologischen Mikrokosmen, das entsprechende Lokalkolorit spezifisch israelisch sein: Insgesamt sind Osnat und Dror doch „Leute wie wir“ oder, je nachdem, wie unsere Kinder.

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