„Studieren Sie Geschichte!“

Henry Kissinger legt mit 99 Jahren ein ausgreifendes und anregendes Werk über Staatskunst und sechs eminente politische Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts vor.

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Henry Kissinger ist in den vergangenen 45 Jahren politischer Denker, gefragter Berater und zugleich Buchautor gewesen. © Ting Shen Xinhua / Eyevine / picturedesk.com

Geschichte von der Warte großer Menschen aus erzählen? Wie altmodisch. Und dann noch deskriptive Geschichtsschreibung! Wie altbacken, würden akademische Historiker schaudernd antworten, die in den letzten zwei Generationen der Historiografie diverse, in sich komplex fragmentierte Konzepte entwickelten, Geschichte zu schreiben.

Henry Kissinger, am 27. Mai 1923 in Fürth bei Nürnberg geboren – Fürth war seit alters in Franken Heimat für Juden gewesen, die sich in der viel größeren alten Handelsstadt Nürnberg nicht niederlassen durften –, somit 99 Jahre jung und 1938 mit Familie nach New York entkommen, erzählt die Geschichte großer Menschen. Geschichte, die er erlebt, mitgeprägt, sehr lang begleitet hat. Er ist in den vergangenen 45 Jahren politischer Denker, gefragter Berater und Buchautor gewesen. Welcher lebende Politiker kann schon von sich behaupten, den Friedensnobelpreis bekommen zu haben und sieben Jahre später, 1980, den National Book Award in History, einen der wichtigsten Buchpreise der USA, und zwar für Teil I seiner Memoiren – und 32 Jahre später die Israelische Präsidenten-Medaille für das Lebenswerk?

Zugleich ist Kissinger im progressiven politischen Spektrum noch heute hochumstritten, ja, wird angefeindet. Der Brite Christopher Hitchens, der zuvor Mutter Teresa und Lady Diana „entzauberte“, verfasste 2001 mit Die Akte Kissinger ein buchlanges Traktat voller Anwürfe, das auch ins Deutsche übersetzt wurde.

»Große Staatskunst ist mehr als die Beschwörung
eines vorübergehenden Hochgefühls; sie erfordert
die Fähigkeit, langfristig zu inspirieren und eine
Vision am Leben zu erhalten.«
Henry Kissinger in Staatskunst 

 

Sechs „Führungspersönlichkeiten“ porträtiert Kissinger in Staatskunst: den deutschen Nachkriegskanzler Konrad Adenauer, den Franzosen und General Charles de Gaulle, den US-Präsidenten Richard Nixon – Kissinger war dessen nationaler Sicherheitsberater, ehe er als Außenminister amtierte –, den ägyptischen Staatspräsidenten Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew aus Singapur und die britische Premierministerin Margaret Thatcher. Allen begegnete Kissinger „auf dem Höhepunkt ihres Wirkens“.

Moralische Verpflichtungen. Leadership, auf Deutsch das bei vielen Gänsehaut auslösende Wort „Führung“, hat vor drei Jahren der englische Historiker Andrew Roberts in seinem Buch Leadership in War formuliert, wird zwar im Allgemeinen mit einer ihr innewohnenden Tugend – froh, wer dieses Substantiv in der politischen Manege noch kennt! – in direkte Verbindung gebracht. Tatsächlich aber, so der Napoleon- wie Churchill-Biograf, ist es „moralisch völlig neutral“ und „ebenso fähig, die Menschheit an den Abgrund wie auch auf das sonnenbeschienene Hochland zu führen. Es ist eine Urgewalt mit entsetzlicher Kraft.“ Kissinger ergänzt sehr bewusst: eine Kraft, die durch unsere Bemühungen auf moralische Ziele hin auszurichten sei.

Sein Buch ist ein Loblied auf die Diplomatie: mit der Gegenwart im Blick, aber darüber hinausschauend auf politischen Wagemut – eine besonders im Finale gepriesene Eigenschaft, die sich nicht an Meinungsumfragen orientiert und deren quecksilbrigoszillierende Momentaufnahmen als zittrige Handlungsgrundlage nimmt, sondern auf tiefen Überzeugungen, Bildung und Charakter aufbauende Strategien entwickelt und von deren Endzielen durchdrungen ist.

Das Essenzielle, ja, geradezu Unverzichtbare, das bei jeder und jedem der Porträtierten in aller Deutlichkeit aufscheint, ist: Moral, moralische Verpflichtungen, ein moralisches Fundament. Krasser hätte Kissinger, der „Realpolitiker“, seine in mehreren Jahren geschriebene Darstellung von Ethos und Kraft nicht wider aktuelle Tendenzen in Europa, Asien und den USA ausrichten können. Zu schweigen, welchem aktiven Politiker im höchsten Staatsamt er wie de Gaulle die Attribute Leidenschaft, Eleganz und Eloquenz zuweisen würde. Auf diesen, den so geschichtsbewussten Kenner französischer Geschichte und, nebenbei erwähnt, großartigen Stilisten – seine „Mémoires“ wurden sehr geschichtsbewusst im Jahr 2000 in die Bibliothèque de Pléïade, den Pantheon klassischer französischer Literatur, aufgenommen –, münzt Kissinger eine brillante Beobachtung: Für den Franzosen sei Politik nicht die Kunst des Möglichen gewesen, vielmehr die Kunst des Gewollten.

Henry Kissinger: Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert. Übersetzt von Henning Dedekind u. a. Bertelsmann 2022, 608 S., € 39,10

Henry Kissinger ist ein eminenter Historiker. Er machte an der Harvard University als Metternich-Kenner Karriere, seine 1957 als Buch veröffentlichte historische Dissertation ist bis heute ein Standardwerk über europäische Geschichte in den ersten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts, und einer seiner Lieblingssätze ist Churchills Empfehlung „Studieren Sie Geschichte!“

Er blickt aber auch auf 60 Jahre Erfahrung in der Politik zurück und begann seine Laufbahn bereits während der Kennedy-Administration 1961.

In seinem neuen Buch nimmt er einen großen Pinsel, um Entwicklungen nachzuzeichnen. Dabei gehen, nicht zuletzt ob seiner transatlantischen Perspektive, hie und da aufschlussreiche, psychologisch signifikante Details verloren, es finden sich einige historische Schnitzer und gelegentlich Weichgezeichnetes. Dafür entschädigt reichlich anderes, in erster Linie die Wiedergabe erinnerter und lebendig nachgezeichneter Gespräche.

Der Band, der mit Reflexionen über Ukraine-Krieg, China, die USA ausklingt, ist eine anregende Lektüre. Man will sich gar nicht die Frage stellen, über welche Staatsmänner und -frauen der ersten 20 Jahre des 21. Jahrhunderts jemand eine solche Porträtgalerie verfassen könnte. So mancher Spötter wettet da gerade einmal auf eine Broschüre, ein Faltblatt. Wie schreibt Kissinger: „Große Staatskunst ist mehr als die Beschwörung eines vorübergehenden Hochgefühls; sie erfordert die Fähigkeit, langfristig zu inspirieren und eine Vision am Leben zu erhalten.“

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