„Tagein tagaus wurde betont: Ihr seid keine Magyaren.“

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Joel Berger/ © Klöpfer & Meyer Verlag

Vom Regimegegner in Ungarn zu einem der bekanntesten Rabbiner Deutschlands spannt sich der biografische Bogen von Joel Berger. Über seinen beruflichen Werdegang, seine Erlebnisse in Budapest und seine Einstellung zu Ungarn sprach er mit Esther Graf.

wina: Herr Rabbiner, Sie sind 1937 in Budapest geboren und aufgewachsen. Welche Erinnerungen haben Sie an das Budapest der 1940er-Jahre?

Joel Berger: Ich erinnere mich an eine Zeitungsnachricht, die ich schon entziffern konnte. Der Ministerpräsident, Graf Teleki, hatte sich in den Kopf geschossen, weil sogar er selbst sein Land und seine Führung als charakterlos, feige und brutal empfand. Er schrieb in seinem Abschiedsbrief: „Wir sind die letzte der Nationen geworden.“ Das meinte er wegen des feigen Angriffs auf Jugoslawien an der Seite Deutschlands. Er hat nicht übertrieben.

„Ich kam aus Ungarn, aus einem Land, wo ich dreißig Jahre lang nur Schikanen, Demütigungen und Erniedrigungen erlebt hatte.“

wina: Während Ihr Vater nach Bergen-Belsen und später nach Theresienstadt deportiert wurde, haben Sie zusammen mit Ihrer Mutter und Ihrer Tante im so genannten Internationalen Ghetto, das vom schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg eingerichtet wurde, überlebt. Können Sie den Alltag dieser Zeit beschreiben?

JB: Das Haus, in dem wir gewohnt haben, befand sich innerhalb des Internationalen Ghettos in Neu-Leopoldstadt. Wir konnten in unserer eigenen Wohnung bleiben, mussten sie aber mit 35 Personen teilen. Sie können sich vorstellen, so eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, in der 35 Menschen hausen, mit einer Küche und nur einer Toilette, da gab es ständig Streitereien und laute Töne zu hören. Meine Mutter hatte tüchtigerweise einen spanischen Schutzpass besorgt. Der Portier der spanischen Botschaft, der Giorgio Perlasca hieß, besaß den Stempel und alles Notwendige, nachdem der Botschafter geflohen war. Er hat durch die Ausstellung von Pässen tausende Menschen ganz still gerettet.

wina: Haben Sie Raoul Wallenberg jemals gesehen oder gar kennen gelernt?

JB: Gesehen ja, aber ohne zu wissen, dass das Wallenberg ist. Man nannte ihn immer „der Schwede“. Vor unserem Haus im Sankt Stephanspark wurden jeden Morgen auf der Grasfläche aus den verschiedenen Ghettohäusern Juden zwecks einer Razzia aufgestellt. Zwei Häuser weiter von uns hatte Polizeichef Tarpataky ein Büro, von wo aus bestimmt wurde, wer deportiert wird und wer nach Hause gehen darf. Wallenbergs Auto kam bis zum Rand des Parks. Er sprang heraus und ging auf die Polizeikräfte zu. Man konnte sehen, dass er mit ihnen intensiv verhandelte, von dem einen zum anderen ging und jedem etwas in die Tasche drückte. Er holte einzelne der dort Aufgestellten raus – das war eine allmorgendliche Szene.

wina: Nach einer staatlich verordneten Ausbildung zum Feinmechaniker haben Sie ein Jura-Studium begonnen. Haben Sie es bis zum Examen geführt?

JB: Nein, nur bis zum Ungarnaufstand 1956. Da wollte ich die Gelegenheit wahrnehmen und aus dem Land flüchten. Ich habe mehrere Versuche unternommen, aber ich war nicht vom Glück verfolgt. Ich habe es dreimal an der Westgrenze versucht, und als es da nicht mehr möglich war, bin ich von Szeged aus an die jugoslawische Grenze. Wir hatten gehört, dass Tito die ungarischen Flüchtlinge nicht ausliefert, sondern in den Westen weiterfahren lässt. Wir haben es dort versucht, aber leider hat es nicht geklappt, und man hat mich an der jugos­lawischen Grenze verhaftet und eingesperrt.

wina: Ihr Ziel war damals Israel?

JB: Ja, absolut. Ich war 18, 19 Jahre alt. Es war nicht nur Idealismus, sondern aus dem Gefühl der jüdischen Zugehörigkeit heraus wollte ich unbedingt nach Israel fahren.

wina: Nach Ihrem misslungenen Fluchtversuch haben Sie sich zum Rabbiner ausbilden lassen? Doch mit dem Rabbinerdiplom in der Tasche arbeiteten Sie in einem Verlag und nicht als Rabbiner?

JB: Vor dem Sechstagekrieg 1967 sollten alle ungarischen Rabbiner eine Erklärung gegen Israel unterschreiben, welche Israel als Aggressor verurteilte. Das habe ich glatt verweigert. Da­raufhin haben sie mich kurzerhand nach verschiedenen Schikanen aus der Gemeinde entfernt. Das heißt, ich durfte dort das Amt des Rabbiners nicht offiziell ausüben. Inoffiziell haben mich mehrere Gemeinden weiterhin eingeladen. Ich musste einen Arbeitsplatz vorweisen, sonst hätte ich Schwierigkeiten bekommen. Deshalb habe ich eine Redakteursstelle beim Akademieverlag angenommen.

wina: 1968 emigrierten Sie nach Deutschland und nicht nach Israel?

JB: Meine Eltern konnte ich nicht mehr alleine lassen. Von Deutschland aus konnte ich in die Wege leiten, dass sie auch hierher kommen durften. Dabei halfen ein Abgeordneter der Stadt Regensburg und die Tatsache, dass meine Mutter bis zu ihrer Entlassung 1939 leitende Angestellte bei der ungarischen Daimler-Benz-Filiale war.

wina: Was war Ihr erster Eindruck von der BRD?

JB: Ich kam aus Ungarn, aus einem Land, wo ich dreißig Jahre lang nur Schikanen, Demütigungen und Erniedrigungen erlebt hatte. Wo nicht nur mir, sondern uns, einmal als Juden und unter der kommunistischen Diktatur als religiöse Juden und Bourgeoise nur Benachteiligungen und Torturen zuteil wurden. Tagein tagaus wurde betont: „Ihr seid keine Magyaren.“ In Deutschland wurde ich von Anfang an als akzeptierter, gleichberechtigter Bürger behandelt. Hier wurde ich vom ersten Tag an nicht nur geduldet, sondern auch anerkannt. Hier wurden mir Wege geöffnet, von denen ich in Ungarn nie zu träumen gewagt hätte.

wina: In Deutschland waren Sie in verschiedenen Städten tätig?

JB: Richtig. Nach kurzen Aufenthalten in Regensburg, Dortmund und Düsseldorf folgte ich dem Ruf als Rabbiner in Bremen, wo wir von 1972 bis 1981 eine sehr glückliche Zeit verbracht haben.

wina: Wie kam es zum Wechsel nach Stuttgart?

JB: Bremen war eine sehr kleine Gemeinde, und für unsere Kinder gab es kein jüdisches Umfeld. Sie waren fast die einzigen jüdischen Kinder in ihrem Alter. In Stuttgart gab es durch die größere Gemeinde auch eine jüdische Infrastruktur mit einer Religionsschule. Wir kamen 1981 nach Stuttgart und blieben dort bis zu meiner freiwilligen Pensionierung 2002.

wina: Wie hat sich Ihr Kontakt nach Ungarn seit 1968 entwickelt?

JB: Seit 1968 absolut negativ, weil ich für Ungarn als Deserteur galt. Ich durfte das Land jahrelang nicht betreten. Sogar meine Frau bekam kein Visum, als bekannt wurde, dass sie mit mir verheiratet ist. Erst zum 40-jährigen Jubiläum der Deportation aus Ungarn 1984 habe ich zum ersten Mal eine Einreisegenehmigung erhalten. Wir haben ein paar Tage dort verbracht, alte Freunde besucht und danach wieder schnell raus.

wina: Gibt es etwas in Budapest, das Sie hier vermissen?

JB: Gar nichts. Ich habe dort in meinem Leben dreißig Jahre lang so viel Ärger, so viel Schreckliches erlebt, dass es kaum einen Platz in dieser Stadt gibt, außer unserem ehemaligen Zuhause, die eigenen vier Wände, in denen es familiäre Geborgenheit gab, wo ich sagen könnte, dass ich gute Erinnerungen daran habe. Ich war noch ein paar Mal dort, weil sich sehr gute Freundschaften bewahrt hatten. Aber auch das habe ich nach 2010 wegen der politischen „Wende“ unterlassen und gesagt: Ich komme nie wieder hierher.

wina: Wie bewerten Sie die politische Situation in Ungarn heute? Erinnert Sie die dortige rechtspopulistische Stimmung an das Ungarn der 1940-Jahre?

JB: In vielerlei Hinsicht ja. Aber es gibt einen qualitativen Unterschied. Damals gab es für diejenigen, die in die Fänge des faschistischen Systems gelangten, kein Entkommen. Heute kann jeder Jude Ungarn verlassen. Ich plädiere dafür, dass, wer auch immer kann, Ungarn verlassen möge, da es in diesem Land für Juden keine sichere und gesicherte Zukunft gibt. Ungarn verwirklicht jetzt das ureigene Ego des ungarischen Geistes, der rassistisch, antisemitisch und minderheitenfeindlich ist. Doch während der kommunistischen Diktatur konnte dies nicht so ausgelebt werden. Jetzt durch die großzügige Unterstützung der EU können die Ungarn machen, was sie wollen. Es ist ein Fehler zu sagen, Viktor Orbán muss weg und dann ist alles wieder in Ordnung. Es sind zehn Millionen Ungarn, von denen die große Mehrheit so denkt, wie Orbán handelt. Und Orbán handelt deshalb so, weil die zehn Millionen das so wünschen. Er ist kein Antisemit oder Faschist, er bedient lediglich seine Wähler.

wina: Wird von Seiten der EU genug gegen Antisemitismus und Rassismus in Ungarn getan?

JB: Nichts wird unternommen. Im Europäischen Parlament hat einzig und allein Cohn-Bendit, der „grüne“ EU-Abgeordnete Deutschlands, den Mund aufgemacht und Orbán Bescheid gesagt. Dieser hat das mit einem Lächeln quittiert, weil er genau wusste, der Mann kann nichts ausrichten. Die ganze EU kann nichts bewirken, weil die Konstitution der EU dergestalt ist, dass jedes Mitgliedsland machen kann, was es will.

wina: Vor zwei Monaten erschien Ihre Autobiografie, die auf 70 Stunden Interview­material basiert. Wie kam es dazu, und welche Rolle spielt Ungarn darin?

JB: Es ist einer ehemaligen Redakteurin vom hiesigen Südwestfunk zu verdanken, dass das Material in Buchform veröffentlicht wurde. Ungarn spielt in dem Buch eine eindeutig negative Rolle. Ich will ganz bewusst der deutschen, nichtjüdischen Öffentlichkeit zeigen, dass Holocaust und Antisemitismus in Ungarn nicht mit dem deutschen Einmarsch am 19. März 1944 begonnen haben. Dieser diente lediglich als Alibi für die Ungarn, von nun an ungestraft Juden an jeder Straßenecke ermorden zu können. Denken Sie an Novisad, das seinerzeit zu Ungarn „zurückgekehrt“ war und heute in Serbien ist, wo sie 5.000 Juden und Serben in die Donau geschossen haben, und zwar lange vor der Wannsee-Konferenz. Ungarn hat diese offen faschistische Einstellung bereits nach dem Ersten Weltkrieg angenommen.

„Ungarn verwirklicht jetzt das ureigene Ego des ungarischen Geistes, der rassistisch, antisemitisch und minderheitenfeindlich ist.“

In meiner Autobiografie erzähle ich ausführlich über den Ungarn-Aufstand und die Schau-Prozesse gegen jüdische Ärzte in der Sowjetunion. Mit Rat und Tat stand uns der Schriftsteller György Dalos zur Seite, der in Berlin lebt. Das war eine unübertreffliche Zusammenarbeit.

Joel Berger, 1937 in Budapest geboren, überlebte die Nazizeit im Internationalen Ghetto von Raoul Wallenberg. 1956/57 Verhaftung nach dem Ungarnaufstand und Verbüßen einer dreimonatigen Gefängnisstrafe. Nach der Ausbildung zum Rabbiner und Geschichtslehrer emigriert Berger 1968 nach Deutschland, wo er bis 2002 in verschiedenen Städten als Rabbiner tätig ist, darunter mehr als 20 Jahre in Stuttgart. Seit 1974 ist er für den Rundfunk tätig und dadurch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Berger veröffentlichte mehrere Bücher; vor Kurzem erschien seine Autobiografie Der Mann mit dem Hut im Tübinger Verlag Klöpfer & Meyer.

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