Mit einer erschütternden Rede bemühte er sich vor allem um eines: auf das Schicksal von Guy Gilboa-Dalal und Eviatar David aufmerksam zu machen. Sie wurden in den Tunneln von Gaza zu seinen Brüdern. Nun kämpft Tal Shoham, dass auch sie freigelassen werden.
(Fotos: Christine Schmidl / IKG)
„Es war ein friedlicher Tag“, schilderte Tal Shoham den 6. Oktober 2023. Tags zuvor war er mit seiner Frau Adi und den beiden Kindern Naveh und Yula zu seinen Schwiegereltern im Kibbuz Be’eri gefahren, um gemeinsam Sukkot zu feiern. Nach einem Festmahl im Speisesaal des Kibbuz saß man noch in der Sukka der Eltern seiner Frau beisammen, trank Wein, genoss „die kostbaren Momente mit der Familie“. „Nichts hat uns auf die Hölle vorbereitet, die sich nur Stunden, nachdem wir friedlich in der Sukka gesessen und gelacht hatten, auftun würde.“

Am nächsten Morgen, es war Samstag, der 7. Oktober 2023, trudelte ein Raketenalarm nach dem anderen ein. In einer Nachricht wurde die Familie zudem davon informiert, dass Terroristen in den Kibbuz eingedrungen waren. So schlossen sie sich im Schutzraum ein: drei Frauen, drei Kinder, zwei Männer. Als die Terroristen sich daran machten, die Tür des Schutztraums zu sprengen, habe sich sein Sohn, damals acht Jahre an, hinter ihm versteckt und ihn gefragt:
„Aba, werden wir sterben?“ „Ich antwortete wahrheitsgemäß, weil ich nicht wollte, dass das Letzte, was mein Sohn von mir hören würde, eine Lüge war“, erzählte Tal Shoham. Er habe gesagt: „Ich weiß es nicht.“
Sein Sohn habe zu weinen begonnen. Danach hätten die Terroristen sie bereits getrennt. „Während der ganzen 505 Tage in Gefangenschaft betete ich, dass dieser Satz nicht das Letzte war, was mein Sohn je von mir hören würde.“

Als die Terroristen ihn aus dem Haus hinauszerrten, sah er nicht nur dutzende Hamas-Täter, sondern auch mehrere Leichen auf der Straße. Sie seien kaltblütig ermordet worden. 50 Tage wurde Shoham dann in Gaza in Isolationshaft gehalten, 50 Tage, in denen er nicht wusste, ob seine Familie ebenso ermordet worden oder noch am Leben war. Was machte er in dieser Zeit? Er trauerte um seine Frau, seine Kinder, seine Eltern. „Ich trauerte um sie, um jeden einzeln, und verabschiedete mich von ihnen.“ Dann, am 50. Tag sei ein Wunder geschehen – von Wundern sollte an diesem Abend im Gemeindezentrum übrigens noch mehrmals die Rede sein. An diesem Tag aber habe ihm einer der Terroristen einen Brief seiner Frau Adi gebracht, in dem er erfuhr, dass auch sie entführt worden waren, aber in Kürze freigelassen werden würden. Adi, Naveh und Yula (damals vier Jahre alt) – auch sie waren diese Woche zu Besuch in Wien – kamen im Rahmen des ersten Geisel-Deals mit der Hamas Ende November 2023 frei.
„Das war das erste Mal, das ich mir erlaubte zu weinen“, so Shoham. Nun habe er aber auch gewusst, „dass ich jetzt den Kampf um mein eigenes Leben führen konnte“. Nun wurde er gemeinsam mit Guy Gilboa-Dalal und Eviatar David 20 Meter unter der Erde eingesperrt, zwei jungen Männern Anfang 20. Fortan teilten sie jeden Krümel, und auch wenn es an manchen Tagen nur eine Pita zu essen gegeben habe, sei diese auf das Gramm genau zwischen ihnen geteilt worden. Sadistische Wärter hätten sie die ganze Zeit über psychisch und physisch gequält, der Vitaminmangel habe zeitweise zu einem völligen Verlust der Muskelkraft geführt, „eineinhalb Monate lagen wir völlig bewegungsunfähig da“. Die Dunkelheit sei an manchen Tagen so tief gewesen, dass sie nicht einmal die eigene Hand vor Augen gesehen hätten. Die Feuchtigkeit habe dazu geführt, dass die Kleidung immer nass gewesen sei. In dem Raum habe es ein Loch als Toilette gegeben. Sonst nichts. Währenddessen seien die Terroristen nebenan in einem gut beleuchteten, klimatisiertem Raum gesessen und es habe für sie immer reichlich Essen gegeben.
„Ich wurde gerettet. Ich wurde befreit und kann meine Frau und meine Kinder wieder in die Arme schließen.“ Doch seine Brüder – Guy Gilboa-Dalal und Eviatar David – seien immer noch in den Tunneln und würden um ihr Leben kämpfen.
Und er habe es sich zur Aufgabe gemacht, alles dafür zu tun, damit auch sie freikommen, so Tal Shoham. Mit ihm nach Wien gereist sind auch Angehörige der beiden jungen Männer: Guy Gilboa-Dalals Vater Ilan Dalal, seine Mutter Gilboa-Dalal und seine Schwester Gaya Gilboa-Dalal sowie Eviatar Davids Mutter Galia und Schwester Yeela. Nicht nur bei ihnen liefen bei Shohams Rede die Tränen das Gesicht hinab.
IKG-Präsident Oskar Deutsch betonte in seiner kurzen Begrüßung: David Ben-Gurion habe einmal gesagt, dass man in Israel, um Realist zu sein, an Wunder glauben müsse. „Die Befreiung von Tal Shoham, aber auch von Adi, Naveh und Yula ist der beste Beweis für ein solches Wunder im wirklichen Leben.“ Danke sagte der IKG-Präsident dabei dem früheren Kanzler Karl Nehammer, dem früheren Außenminister und Kanzler Alexander Schallenberg sowie dem Diplomaten Peter Launsky-Tieffenthal. Diese hätten sich unermüdlich für die Freilassung Shohams – seine Großmutter flüchtete in den 1930er Jahren vor den Nationalsozialisten aus Österreich und ihr Enkel ist heute israelisch-österreichischer Doppelstaatsbürger – eingesetzt.

Schallenberg und Launsky-Tieffenthal wurde hier zum Dank von der IKG Wien auch ein Präsent überreicht: der Künstler Roi Riginashvili hat für sie den Psalm 15:2 („Der in Rechtschaffenheit wandelt, gerecht handelt und in seinem Herzen die Wahrheit sagt“) in rot-weiß-rot auf die Leinwand gezaubert. „Das ist genau das, was Sie getan haben, um zwischen Gut und Böse zu entscheiden“, so Deutsch zu Nehammer und Schallenberg. „Sie haben nach dem 7. Oktober Charakter und Anstand gezeigt. Es gab keine gleichen Seiten, es gab einen Angreifer und ein Opfer – das haben Sie benannt.“ Und die Regierung habe sich klar auf die Seite Israels und des jüdischen Volks gestellt.

Nehammer erzählte, dass er Tal Shoham beim ersten Zusammentreffen nach dessen Befreiung umarmt habe. „Ich war so glücklich.“ Zusammen habe man über so viele Monate versucht, alles zu tun, um ihn herauszuholen. Österreich sei zwar ein kleines Land, habe aber eine Waffe und diese heiße Diplomatie. Diese habe man beharrlich eingesetzt. Der Ex-Kanzler betonte aber auch: man wolle zeigen, dass Österreich aus der Geschichte gelernt habe. Und wenn man wieder eine starke jüdische Gemeinde haben wollen, müsse man auch etwas dafür tun. Das bedeute, gegen Antisemitismus anzukämpfen. Das habe aber nach dem 7. Oktober auch bedeutet: alles in der Macht Stehende zu tun, um die Geiseln nach Hause zu bringen. Dafür trete nun auch der neue Kanzler Christian Stocker ein.
IKG-Präsident Deutsch betonte denn auch: „Wir setzen den Kampf für jene, die seit eineinhalb Jahren in Gaza gefangen gehalten werden, fort.“ Kommenden Sonntag, dem 06. April um 17 Uhr, findet eine erneute Solidaritäts- und Gedenkveranstaltung unter dem Motto VIENNA STANDS UP FOR THE HOSTAGES #bringthemhome am Judenplatz in Wien statt.
Shoham betonte dazu in Richtung Politik: man müsse verstehen, mit wem man es bei der Hamas zu tun habe. „Die Hamas ist eine Terrororganisation, die sich von dem Glauben leiten lässt, dass Juden kein Recht auf das Land Israel haben – ein Glaube, der sie zu Mord, Vergewaltigung und Brandstiftung getrieben hat.“ Die gefährlichste Waffe der Hamas seien übrigens nicht ihre Raketen und auch nicht ihre Grausamkeit. „Es ist die fundamentalistische Erziehung, mit der sie die nächste Generation von Terroristen heranzieht.“ Waffen könne man wegnehmen, „aber fanatische Überzeugungen bleiben ein Leben lang bestehen“. Diese Erziehung lehne die Möglichkeit eines Staates oder eines Volkes ab, der oder das nicht von einem extremen islamischen Gesetz regiert werde. „Es gibt immer nur eine akzeptable Realität: Der fundamentalistische Islam kontrolliert den gesamten Nahen Osten.“
Im Wertesystem der Hamas habe das menschliche Leben zudem keinen Wert, „weder das israelische noch das palästinensische Leben“.
Unter der Erde in den Tunneln der Hamas sei ihm auch klar geworden, dass auch die Zivilisten in Gaza ebenfalls Gefangene seien, „entweder von der Hamas selbst oder von dem Fanatismus, mit dem sie aufgewachsen sind“. Das Beste, was auch den Menschen in Gaza passieren könne, sei daher „die Befreiung von der schrecklichen Herrschaft der Hamas“. Die internationale Staatengemeinschaft müsse daher alles ablehnen, was dem Terrorismus Vorschub leiste. „Es gibt kein Szenario, in dem Terrorismus legitim ist. Es gibt keine Entschuldigung dafür, was am 7. Oktober passiert ist.“ Die Hamas habe die Grundwerte der internationalen Gemeinschaft in Frage gestellt, das seien die Werte, auf denen die Vereinten Nationen einst gegründet worden seien, „ich bin mir nicht sicher, ob sich die UNO heute darüber im Klaren ist“.
Und trotz allem war es Shoham an diesem Abend sichtlich wichtig, zu betonen, dass es dennoch immer auch Hoffnung gebe. „Die Hoffnung hat mich wieder mit meiner Familie zusammengebracht.“ Und als er in der Dunkelheit in Gaza gesessen sei, habe er nicht gewusst, wieviele Menschen sich für ihn – auch in Österreich – eingesetzt hätten. Und wieviele Menschen für alle Geiseln aufgestanden seien. Dafür wolle er danke sagen.
Für Nehammer, Deutsch, Schallenberg, Launsky-Tieffenthal und den Präsidenten des European Jewish Congress, Ariel Muzicant, brachte Shoham ein ganz besonderes Geschenk aus Israel mit. Im Garten seines Schwiegervaters steht ein Zitronenbaum, den dieser – er wurde am 7. Oktober ermordet – besonders gehegt und gepflegt habe. Das Haus seiner Schwiegereltern sei zerstört worden, erzählte Shoham, der Zitronenbaum aber stehe noch und trage aktuell Früchte. Und so brachte er fünf Zitronen, in hübsche kleine Schachteln verpackt, mit nach Österreich und meinte, wenn man deren Kerne in Österreich pflanze, könnten neue Bäume entstehen „und auf diese Weise Hoffnung nach Österreich bringen“. Aus der Asche könne so neues Leben entstehen. Ja, es war ein bewegender Abend.