Theater als Ort der Bewegung

Die Wiener Theaterregisseurin Anna Maria Krassnigg ist bekannt für ihre kreativen und herausfordernden Zugänge an neue Theaterorte und die Stoffe, die diese uns schenken. Seit 2019 macht sie mit ihrem Ensemble Station in Wiener Neustadt.

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Visionäres Theaterpaar. Anna Maria Krassnigg und Musiker und Filmemacher Christian Mair.

WINA: Du hast früh und rasch Karriere als Regisseurin gemacht und ab den 1990er-Jahren international an großen Häusern gearbeitet; seit rund 20 Jahren lehrst du zudem am renommierten Max Reinhardt Seminar. Dennoch hast du dich vor rund 15 Jahren entschieden, eigene Wege zu gehen, und den Salon 5 in der ehemaligen jüdischen Turnhalle in der Herklotzgasse gegründet. Wie kam es zu diesem Schritt?
Anna Maria Krassnigg: Ich hatte schon immer das Bedürfnis, darstellende Kunst autonom zu verwirklichen; ich meine damit die tatsächliche Wahl der Stoffe, der Mittel, der Räume, des Umfelds, des Kontextes und – ganz wichtig – des Teams, mit dem man diese Kunst ausüben möchte. Es ist nicht so, dass mich Theater als Betrieb nicht interessiert: Ich kenne die Betriebe sehr gut, und es gibt dort unübersehbare Vorteile, vor allem in Hinblick auf Finanzierung und öffentliche Wahrnehmung. Ich habe nur von Anfang an schleichend und vor 15 Jahren mit immer größerer Gewissheit bemerkt, dass die Kollateralschäden der Enge und der steilen Hierarchien sowie der Mangel an künstlerischer und persönlicher Freiheit mich davon abhalten, die Dinge zu tun, die mich wirklich interessieren und von denen ich meine, dass sie auch ein Publikum interessieren.

2015 hast du wieder einen großen künstlerischen Schritt gewagt und den Thalhof im niederösterreichischen Reichenau als Theaterort aufgebaut. Wie kam es zu diesem Wechsel in die Welt des Sommertheaters, und was konntet ihr dort realisieren?
I Es war mehr als alles andere die Traumerfüllung eines „eigenen Hauses“. Diesem konnten wir tatsächlich unseren thematischen Stempel aufdrücken: Autor:innentheater in einer bewusst aufeinander bezogenen Programmierung von zeitgenössisch interpretierten klassischen Stoffen und Uraufführungen von Gegenwartsautor:innen. Große Liebe zu unbekannteren Texten und ungewöhnlichen Schauspielkünstler:innen. Dazu ein hochkarätiges und lustvolles Diskursprogramm.

Kurz vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie hast du dein vorerst letztes künstlerisches Wagnis begonnen: Du bist in Niederösterreich geblieben, aber wieder näher an Wien gerückt und bespielst mit deinem Ensemble wortwiege seit 2019 die historischen Kasematten Wiener Neustadt. Was hast du aus Reichenau hierher mitgenommen?
I Mitgenommen habe ich ein großartiges Ensemble, das schon in Reichenau Erstaunen hervorgerufen hat. Und meine Liebe zu besonderen Texten. Was Letztere betrifft, hat der Ort auch die inhaltliche Programmatik beeinflusst. Eine alte „Sommerfrische“, die ihre Blütezeit im Fin de Siècle hat, bespielt man anders als einen Spätrenaissancebau.

Du bespielst seit 15 Jahren ganz bewusst Orte, die nicht als Theaterräume konzipiert wurden. Wie weit beeinflusst das die Wahl der Stücke beziehungsweise deine Inszenierungen?
I Stark. Das Faszinierende an diesen „Naturräumen“, diesen „verwundeten Räumen“ ist, dass sie besondere Echoräume für Texte darstellen. Wenn man „mit ihnen“ programmiert, findet eine ganz eigene atmosphärische Verschmelzung statt, die für das Publikum spannend ist. Die Kasematten, dieser archaische Renaissancebau eines italienischen Architekten, schreien nach großen europäischen Geschichten – man findet sie bei Grillparzer und Shakespeare ebenso wie bei hervorragenden Zeitgenoss:innen und zu Unrecht aus der Literaturgeschichte Verdrängten.

Apropos Grillparzer: Aktuell präsentiert ihr im März dieses Jahres das neue Projekt Szene Österreich – Theater & Salon, bei dem es gleich zum Start auch um Grillparzer gehen wird. Aber nicht nur. Was dürfen wir erwarten?
I Szene Österreich ist der Frühjahrszyklus der wortwiege Kasematten und fasst einige unserer Lieblingstexte in aufeinander bezogenen „szenischen Skizzen“. Sowohl der von Erwin Riess kongenial imaginierte ältere Grillparzer, lustvoll nörgelnd auf seiner Schwarzmeer-Fahrt, wie auch Theodora Bauers viel gerühmter Text Chikago erzählen vom Reisen – und vom Ausreißen. Das alles ist bewusst leicht, skizzenhaft hingetupft, sehr nah am Publikum.

Wichtig ist in deiner Arbeit stets, sich aus den Zentren, den ideologischen wie den geografischen, hinauszubewegen, Neues zu suchen, zu finden und dem Publikum auf lustvolle Weise vorzustellen. Dein Motto für die kommende Zeit der wortwiege in Wiener Neustadt?
I Bewegt euch! Wiener Neustadt ist nicht in der Wüste, und „das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine“. Die Kasematten sind ein faszinierender Ort mit starker Programmatik. Ich wünsche mir Entdeckerfreude im Dreieck Theatermacher:innen/Medien/Publikum. Nur sie kann neue Orte, Herangehensweisen, Stile, Begegnungen erwirken. Wir alle sind Mitwirkende oder Verhinderer:innen eines lebendigen Theaters – diese öffentlichen Orte, an denen live über Inhalte diskutiert wird, diese Agoren werden dringender gebraucht denn je!

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