Trotz allem positiv in die Zukunft schauen

Viktor Frankls Buch, in dem er über seine Zeit im Konzentrationslager schreibt und gleichzeitig betont, dennoch gebe es einen Sinn im Dasein – ... trotzdem Ja zum Leben sagen – ist seit Jahrzehnten ein Klassiker. Im deutschsprachigen Raum noch weniger bekannt sind die Bücher der US-Psychologin Edith Eger, die sie 2017 und 2020 veröffentlichte und die inzwischen auch auf Deutsch erschienen sind. Auch sie ist eine Überlebende, auch sie zeigt auf, wie viel Kraft man in aussichtslos scheinenden Situationen noch aus sich selbst schöpfen kann. Aktuell wird uns allen viel Kraft abverlangt: Die Pandemie ist immer noch nicht überstanden, der Krieg in der Ukraine brachte einen weiteren Einschnitt, dazu zeichnet sich durch hohe Inflation und massive Preissteigerungen vor allem bei Rohstoffen eine wirtschaftlich schwierige Phase ab. Die Lektüre von Egers Büchern verscheucht dabei eindrucksvoll das Gefühl von Hoffnungslosigkeit.

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© dreditheger.com

Schon vor der weltweiten Pandemie litten Menschen unter zunehmender Arbeitsverdichtung, aber auch Abgrenzungsproblemen: Wo endet der Job, wo beginnt das Private? Checke ich noch spätnachts meine Mails oder nehme berufliche Anrufe entgegen? Bin ich dann beim Einschlafen mit dem Kopf beim nächsten Meeting oder doch der Frage, was ich in meiner Freizeit am nächsten Wochenende unternehmen möchte? Entgrenztes Arbeiten sagen die Fachleute dazu. Dieses führt wiederum zu Konflikten in der Beziehung, das Familienleben leidet.
Die Coronakrise zeigte diese und weitere Phänomene wie mit einer Lupe nochmals klar auf. Sie offenbarte die Defizite im Schulwesen, das zwar schon seit mittlerweile Jahrzehnten Digitalisierung predigte, diese aber nicht umsetzte. Sie verstärkte den Pflegenotstand und führte vor, dass gerade die Berufe, die als systemerhaltend gelten, oft, weil weiblich dominiert, viel zu niedrig entlohnt werden. Kurzarbeit oder gar Kündigungen, die Überbelastung der einen, etwa jener, die in Spitälern arbeiten, die zu große Nähe auf zu engem Raum in Familien, in denen nicht jedes Kind sein eigenes Zimmer hat, spitzten die Situation weiter zu. Psychische Probleme nahmen zu, Ängste verstärkten sich, manche radikalisierten sich.

Edith Eger: In der Hölle tanzen. Wie ich Auschwitz überlebte und meine Freiheit fand. btb, 480 S., € 12,90

Doch was all dem entgegensetzen? Hier kommt die Resilienz ins Spiel. Sie bezeichnet die Fähigkeit, trotz widriger Umstände sein Leben ohne Schaden zu nehmen meistern zu können. Achtsamkeit, Psychohygiene, Entschleunigung, Nachhaltigkeit sind hier weitere Mosaiksteine zu einem gelingenden Leben. Doch wie wird man resilient? Und kann man das lernen?
Interessanterweise haben hier gerade Menschen wie eben Frankl oder Eger viel zu geben. Sie durchlebten die Hölle, gaben aber niemals auf. Eger ist dabei noch ein Stück selbstreflexiver als einst Frankl – vielleicht ist das auch dem Umstand geschuldet, dass sie nun erst in hohem Alter, mit 90 Jahren, ihre Lebenserinnerungen veröffentlichte, die sie allerdings mit einer Botschaft verquickte: Es gilt, innere Freiheit zu erreichen. Sie überlebte Auschwitz – und blieb dennoch gefühlt frei, auch während der Inhaftierung an einem Ort, an dem versucht wurde, Menschen zu entmenschlichen.

Eger kam 1927 in Košice/Kassa (zunächst tschechoslowakisch, dann ungarisch) zur Welt, wo sie auch aufwuchs. Wichtig waren ihr in ihrer Kindheit und Jugend der Balletttanz und die Gymnastik. Als sie 1944 in Auschwitz ankam, schafften es ihre Schwester und sie durch die Selektion Josef Mengeles – ihre Mutter aber wurde sofort ins Gas geschickt. Sie selbst musste in ihrer Baracke für Mengele tanzen. Die Schilderung dieser Szene ist einer der Schlüsselmomente ihres Buches In der Hölle tanzen. Wie ich Auschwitz überlebte und meine Freiheit fand.

„Denk daran, niemand kann dir das wegnehmen,
was du in deinen Kopf hineingetan hast.“
Edith Eger

Die Opferrolle ist optional. „Als Erstes der hohe Kick. Dann die Pirouette und die Drehung. Der Spagat. Und wieder hoch. Während ich schreite, mich beuge und herumwirble, höre ich, wie Mengele mit seinem Assistenten spricht. Er wendet seine Augen nie von mir ab, aber während er zusieht, kommt er seinen Pflichten nach. Ich höre seine Worte durch die Musik hindurch. Er unterhält sich mit dem anderen Aufseher darüber, welche der hundert anwesenden Mädchen die Nächsten sind, die ermordet werden. Wenn mir ein Schritt misslingt, wenn ich etwas mache, was ihm missfällt, könnte ich darunter sein. Ich tanze. Ich tanze. Ich tanze in der Hölle. Ich ertrage es nicht, den Henker zu sehen, der gerade unser Schicksal bestimmt. Ich schließe die Augen. Ich konzentriere mich auf meinen Tanz, auf mein jahrelanges Training. […] In der geheimen Finsternis in meinem Inneren höre ich wieder die Worte meiner Mutter, als wäre sie hier in diesem trostlosen Raum und raunte mir unter den Klängen der Musik zu: Denk daran, niemand kann dir das wegnehmen, was du in deinen Kopf hineingetan hast. Doktor Mengele verschwindet, meine bis auf die Knochen abgemagerten Mitgefangenen, die Trotzigen, die überleben werden, und die bald schon Toten, sogar meine geliebte Schwester, verschwinden, und die einzige Welt, die existiert, ist die Welt in meinem Kopf. […] Der Fußboden der Baracke wird zur Bühne des Budapester Opernhauses. Ich tanze für meine Bewunderer im Publikum. Ich tanze im Schein heißer Scheinwerfer. […] Ich tanze für Leben.“

Und während dieses Tanzes mit geschlossenen Augen, vor Mengele, der jeden Moment das Todesurteil treffen könnte, formiert sich im Kopf der 16-Jährigen ein Gedankenkonstrukt, das ihr ganzes weiteres Leben – positiv – bestimmen sollte. „Mitten in meinem Tanz entdeckte ich ein Stück Weisheit, das ich nie vergessen habe. Ich werde nie erfahren, welches Wunder der Gnade mir diese Einsicht gewährt, Es wird mein Leben viele Male retten, auch dann noch, als das Grauen vorüber ist. Ich erkenne, dass Dr. Mengele, der erfahrene Mörder, der erst heute Morgen meine Mutter ermordet hat, bemitleidenswerter ist als ich. Ich bin frei in meinem Kopf, was er niemals sein kann. Er wird immer mit dem leben müssen, was er getan hat. Er ist gefangener, als ich es bin.“

Edith Eger: Das Geschenk. 12 Lektionen für ein besseres Leben. btb, 256 S., € 20,95

Eger sollte noch viele Höllentage durchleben, aber sie überlebte, mehr schlecht als recht. Viel später hätte die Befreiung nicht stattfinden dürfen, sie war krank, sie war massiv abgemagert. 35 Kilo habe sie bei Kriegsende gewogen, erinnert sie sich, sie musste langsam wieder zu Kräften kommen, an Gewicht zunehmen und eine Lungenerkrankung auskurieren. Was sollte aber nach Auschwitz noch kommen? Nun, das Leben hielt für Eger noch so manche Misslichkeit bereit. Die Inhaftierung ihres Mannes im kommunistischen Ungarn – sie holt ihn mit einem Kleinkind am Arm aus dem Gefängnis, sie fliehen zunächst nach Wien, emigrieren dann weiter in die USA. Dort schwierige Anfangsjahre mit belastender Fabriksarbeit und mühsamem Erlernen des Englischen, von ihren drei Kindern kommt eines mit einer Beeinträchtigung zu Welt, eine Ehekrise inklusive Scheidung und Wiederverheiratung. In ihrem Bemühen zu lernen, zu studieren, eine Ausbildung abzuschließen, wird sie dadurch immer wieder zurückgeworfen, doch am Ende macht sie ihren Weg: Sie wird zunächst Lehrerin, studiert weiter und kann schließlich 1978 beginnen, als Psychologin zu arbeiten. Da ist sie 51 Jahre alt.

Viele ihrer Patienten haben schwere Traumata erlitten, unter ihnen auch Soldaten. Ihnen hilft sie, dennoch mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen. An diesen Fallgeschichten lässt Eger den Leser in ihren Lebenserinnerungen ebenfalls teilhaben. So verdichtet sie anhand vieler Beispiele, wie es trotz schlechter Ausgangslage möglich ist, konstruktiv weiterzuleben.

Was an ihren Ausführungen berührt: Sie beschönigt nichts. Sie leitet niemanden mit Kalendersprüchen an, immer das Licht zu sehen, selbst wenn da Schatten ist. Nein, sie schreibt, dass sie selbst bis heute an Flashbacks und Albträumen leidet. Sie thematisiert ihre Überlebensschuld und fragt sich bis heute, ob ihre Antwort auf Mengeles Frage „Mutter oder Schwester?“, die sie mit „Mutter“ beantwortete, möglicherweise Ausschlag gebend dafür war, dass die Mutter noch am Tag der Ankunft in Auschwitz ermordet wurde. Eger warnt davor, die traumatisierenden Erlebnisse zur Seite zu schieben und zu verdrängen. Man muss sich ihnen stellen. Aber man darf sich nicht von ihnen gefangen nehmen lassen. Und genau das ist ihre Botschaft: Jeder ist frei, die Entscheidung zu treffen, nicht im Leid zu verharren, sondern das Beste aus dem weiteren Leben zu machen.

In ihrem Buch Das Geschenk leitet sie die Leserinnen in zwölf Lektionen an, wie sie selbst zu diesem Punkt, zu dieser Entscheidung kommen können. Ein wesentliches Moment dabei: sich aus der Opferrolle zu befreien. „Meiner Erfahrung nach fragen Opfer: ‚Warum ich?‘ Kämpfernaturen fragen: ‚Was jetzt?‘ Leiden ist universell. Aber die Opferrolle ist optional. Es gibt keine Möglichkeit, Menschen oder Umständen zu entkommen, die uns verletzen oder unterdrücken. Die einzige Garantie besteht darin, dass wir, egal wie freundlich wir sind oder wie schwer wir arbeiten, Schmerz empfinden werden. Wir werden von Umwelt- oder genetischen Faktoren beeinflusst werden, über die wir wenig oder gar keine Kontrolle haben. Aber wir alle haben die Wahl, ob wir in der Opferrolle bleiben oder nicht. Wir können nicht auswählen, was uns widerfährt, aber wir können sehr wohl wählen, wie wir mit unserer Erfahrung umgehen.“

Auch in diesem Buch webt sie einerseits persönliche Erfahrungen, andererseits Fallgeschichten ihrer Patienten mit ein. Sie haben entweder Traumata erfahren oder leben in belastenden Beziehungsgeflechten oder sind schwer erkrankt. Was Eger hier klar herausarbeitet: Es ist das Leid des einen nicht schwerer oder leichter als das Leid der anderen. Es gibt hier keine Hierarchie. Oder anders formuliert: Man muss nicht in Auschwitz gewesen sein, um die Dinge nur mehr düster und keinen Ausweg mehr zu sehen. Indem sie aber beschreibt, wie sie all diese Menschen unterstützte, die innere Freiheit zu erkennen und auszuleben, nimmt sie auch die Leserinnen an der Hand und leitet sie an, Gefängnisse nicht nur von außen nicht zuzulassen, sondern auch nicht innerlich selbst aufzubauen. Und so schrecklich ihre Schilderungen der NS-Zeit sind: Sie schafft es eindrücklich, Zuversicht zu vermitteln und, ja, aufzuzeigen, wie Resilienz dennoch möglich ist.

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