Über das Normale hinausfliegen

Ohad Naharin, Choreograf und kreativer Kopf der israelischen Batsheva Dance Company, steht im Zentrum eines dreiteiligen Tanzabends im Festspielhaus St. Pölten. Von seinem Schüler Shahar Binyamini einstudiert, wird dabei unter anderem das erfolgreiche Stück des Mr. Gaga Decadance gezeigt.

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Als könnten sie fliegen: die Tänzerinnen und Tänzer in Shahar Binyaminis Uraufführung Ballroom. © Andreas Waldschütz

Distanz und Nähe, Individualität und Gemeinschaft, fremd und vertraut, ein stetiger Wechsel in schwingenden Bewegungen, immer wieder vereinen sich die Einzelwesen zum tanzenden Schwarm, angetrieben und auch behindert durch Bälle, die als Verlängerung der Körperlinien aus den Handflächen wachsen und zugleich die Annäherung behindern. Ballroom nennt der israelische Choreograf Shahar Binyamini seine Choreografie, die er als Artist in Residence im Festspielhaus St. Pölten erarbeitet hat und am 18. Mai als Uraufführung auf der großen Bühne zeigen wird.
Seit Jänner proben 24 Tänzer*innen aus aller Welt und zehn tanzbegeisterte Amateur*innen mit dem Choreografen und Tänzer der Batsheva Dance Company aus Israel.
Unter der künstlerischen Leitung des Choreografen Ohad Naharin tritt die Company an gut 250 Tagen im Jahr auf, in der Heimat Israel und auf allen Kontinenten. Zurecht gilt die Formation als eine der aufregendsten zeitgenössischen Tanzensembles der Welt. Naharins Choreografien verblüffen durch ihre Originalität, unterhalten durch folkloristische Elemente und begeistern durch die komplexen Bewegungsabläufe, die in atemberaubender Präzision und stetigem Tempowechsel ausgeführt werden. „Du langweilst mich“, ruft der Chef mitunter auch während der Vorstellung vom Rand der Bühne, wenn die energetischen, ausdrucksstarken Künstler*innen – jede*r einzelne ein Star – nicht Adlern gleich mit 320 Stundenkilometer durch den Raum fliegen, in rasendem Tempo über die Bühne fegen, sodass das Auge kaum folgen kann, ihre Körper nicht „über das Normale“, wie Naharin es definiert, hinauspeitschen.

Bewegungssprache “Gaga“. Wie der 67-jährige Tänzer, der die Batsheva Company seit 1990 als Nachfolger der großen Martha Graham, Begründerin des Modern Dance, leitet, diese unglaubliche Kraft und Rasanz erreicht, ist kein Geheimnis, sondern „Gaga“. Das ist nicht verrückt und auch kein Popstar, sondern eine Bewegungssprache. Möglich, dass anfangs, als Naharin seine Entwicklung präsentiert hat, sich so manche*r auf die Stirn getippt haben: „Luft zwischen den Knochen und Sehnen? Eine Verbindung zwischen Qual und Glück finden? Das ist doch total gaga!“ Inzwischen ist „Gaga“ ein Markenname für ein Bewegungstraining – von Ohad Naharin nach einer schweren Rückenverletzung entwickelt, um die Behinderung zu überwinden und wieder tanzen können. Ursprünglich für Tänzer*innen gedacht, hat „Mr. Gaga“ (so auch der Titel des per Crowdfunding finanzierten Films über das Leben Naharins, der 2015 in Israel Premiere hatte) bald erkannt, dass Gaga für jeden Körper geeignet ist. Und damit kommt auch Shahar Binyamini wieder in die Geschichte. Er ist nämlich einer der Gaga-Trainer und Lehrer. Charismatisch und mit glühenden Augen verzaubert er nicht nur seine Schüler*innen jeglichen Alters, sondern lehrt sie, dass sie ihr Leben verändern können, wenn sie den Gaga-Weg gehen, um ihren Körper zu entdecken, zu stärken und dadurch mehr Flexibilität, Ausdauer und Beweglichkeit erlangen.

»Luft zwischen den Knochen und Sehnen?
Eine Verbindung zwischen Qual und Glück finden? Das ist doch total gaga!«

In aller Welt leiten Gaga-Tänzer*innen in offenen Klassen Bewegungstrainings für Menschen ohne Vorkenntnisse. Exakt eine Stunde lang bleibt man dabei in Bewegung, ohne zu stoppen, ohne zu sprechen, jede und jeder nach ihren und seinen Möglichkeiten. In St. Pölten durften sich im April dieses Jahres 25 Neugierige mit dem Tänzer und Choreografen Hillel Kogan, einem Mitglied der Gaga Peoples, um fünf Euro mit der Gaga-Methode anfreunden. Keine Überraschung, dass auch das Tanztraining und die Proben für ein neues Stück von Shahar Binyamini von Profis und Tanzbegeisterten gestürmt worden sind, als der im Festspielhaus St. Pölten residierende Künstler im vergangenen Oktober Mittanzende für den dreiteiligen Abend ausgewählt hat. Mehrere hundert Profitänzer*innen haben sich gemeldet, 24 wurden ausgewählt, um in Ballroom mitzuwirken. Mit Gaga sind auch Bewegungsfreudige jeglicher Altersstufe bekannt gemacht worden. Elf davon haben sich für die Bühne qualifiziert und werden ihr ganz persönliches, unter Anleitung von Binyamini erarbeitetes Bewegungsrepertoire zeigen. Der Arbeitstitel gibt einen Blick auf die außergewöhnliche Aufführung frei: Today I will do what I want.

„Mr. Gaga“ wird nicht selbst anwesend sein. Doch Teile einer seiner bekanntesten Choreografien, Decadance, werden das Zentrum des Abends bilden. Naharin ist ein neugieriger, stets vorwärtsstrebender Künstler, der wenig vom Stillstand hält, deshalb ist Decadance auch ständig in Bewegung. Uraufgeführt im Jahr 2000, ist es eine Art Tanzarchiv mit Puzzlestücken aus Naharins Œuvre. Verständlich, dass sich dieses Archiv immer mehr ausdehnt, Altes ist nicht mehr so wichtig, Neues kommt dazu. „Es ist, als ob ich nur den Anfang, die Mitte oder das Ende von vielen Geschichten erzählte, doch es ist meine Aufgabe, eine neue Geschichte daraus zu machen.“ Auch wenn man Decadance durch das Gastspiel der Batsheva Dance Company schon zu kennen meint, wird man immer wieder Überraschungen erleben. Die Mischung besteht aus fröhlichen und auch ernsthaften Schnipsel von sechs Naharin-Choreografien: Max, Seder, Sadeh21, Naharin’s Virus, Anaphase und Three sind zu sehen – und auch zu hören. Denn bei Naharin, der ursprünglich Musiker werden wollte und sich erst mit 22 Jahren für den Tanz entschieden hat, spielt die Musik immer eine wesentliche Rolle. Max (Uraufführung 2000) lebt, wie alle Naharin-Tanzstücke, auch durch die Musik, doch in diesem Fall ist der Komponist ein begnadeter Amateur – Ohad Naharin. Auch wenn im Programmheft ein Maxim Warrat angeführt ist. „Maxim hat keine Biografie“, sagte eranlässlich der Aufführung im Wiener Tanzquartier 2008, „inmitten der Meere geboren, gibt er sein ganzes Leben für die Kunst.“ Da hört man die Nachtigall ziemlich laut trapsen. Seder (2007) ist ein Fest, wie der Titel sagt, und Naharin’s Virus verweist nach Österreich, denn Naharin verwendet in dem Stück von 2001 Textfetzen aus Peter Handkes Publikumsbeschimpfung. Anaphase hat Naharin für die feierliche Eröffnungszeremonie des Israel-Festivals 1993 geschaffen: „Eine kleine Skulptur in einem großen Raum“, die Theater, Oper, Film und Rock vereint. Und schließlich ist Three aus dem Jahr 2005 ein rasantes Stück sich biegender und springender Körper, dessen Basis die von Glenn Gould interpretierten Bach’schen Goldbergvariationen sind. Fehlt noch das jüngste Stück im Puzzel, Sade21 aus dem Jahr 2011. Neben der schönen Musik des komponierenden Cellisten David Darling sind auch wieder die Noten Maxim Warrats im Spiel. Im 60 Minuten langen Original ist ein Zitat aus einem Gedicht von Charles Bukowski zu hören, es könnte auch aus Naharins Credo stammen: „ignore all possible concepts and possibilities —/ignore Beethoven, the spider, the damnation of Faust —/just make it, babe, make it.“
Bei der Uraufführung hat übrigens auch Shahar Binyamini mitgemacht. So schließt sich der Kreis von Tel Aviv bis St. Pölten. Nach den letzten Jubelrufen für seine Arbeit hat der junge Choreograf ein neues Ziel: In Mulhouse im Elsass wird er mit dem Ballet de l’Opéra national du Rhin die nächste Uraufführung einstudieren: I am, eine Auseinandersetzung mit der Musik Gustav Mahlers, hat am 27. Mai Premiere.

Ballroom/Decadance
Shahar Binyamini: Ballroom,
Uraufführung; Ohad Naharin:
Decadance, Version St. Pölten; davor: Installation Today I will do what I want
18. Mai 2019, Festspielhaus, St. Pölten, 19.30 Uhr

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