Über die Unzuverlässlichkeit von Umfragen‏

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Die Diskrepanz zwischen Prognosen und Wahlergebnis sagt nicht nur einiges aus über die Meinungsforscher und Medien, sondern auch viel über die innere Verfassung der Gesellschaft, deren Stimmung erfasst werden sollte.  Von Gisela Dachs.

Am Tag danach wirkte alles wie zuvor. Am Schulzaun hingen nur noch Überbleibsel der Wahlplakate, die Kinder saßen in ihren Klassenzimmern, in denen die Stimmzettel abgegeben worden waren. Der neue Premier hieß wie der alte: Benjamin Netanyahu.

In der Öffentlichkeit aber entbrannte bald eine Debatte über die Unzuverlässigkeit der Meinungsforscher. Es ging um die Frage, wie es dazu kam, dass Netanyahu einen von ihnen prognostizierten Rückstand von vier Sitzen nicht nur aufholte, sondern am Ende sogar zu einem sechssitzigen Vorsprung gegenüber dem Zionistischen Lager ausbauen konnte.

Als die Umfragen auf einen Machtverlust hindeuteten, führte Netanyahu schweres verbales Geschütz auf.

Die Antworten sagen viel aus über das heutige Israel, vielleicht sogar mehr als die Wahl selbst. Da war zunächst einmal der kalkulierende Wahlkämpfer Netanyahu (und das Wahlrecht, das jenen Parteivorsitzenden mit der Regierungsbildung beauftragt, der die meisten Stimmen für sein Lager bekommt). Als die Umfragen auf einen Machtverlust hindeuteten, führte er schweres verbales Geschütz auf: Er schürte Angst vor einer linken Regierung, die nur durch seine Wahl verhindert werden könnte. Er warnte vor den arabisch-israelischen Stimmzetteln, die in Massen in den Urnen laden würden, erklärte dabei auch die Zweistaatenlösung für tot. Seine Rechnung ging auf. Statt das eigene Lager zu wählen, stimmten genug Anhänger von Naftali Bennetts Siedlerpartei für den Likud und bescherten Netanyahu die notwendige Mehrheit.

Entgegen allem Eindruck fand dabei aber kein weiterer Rechtsruck statt. Hatten in den vorausgegangenen Wahlen die rechten Parteien – Likud, Israel Beitenu, Habeit Hayehudi, Shas und die Vereinigte Thoraliste – noch 61 Sitze, sind es jetzt 57. Die beiden Zentrumsparteien Yesh Atid und Kadima verfügten in der Knesset über 21 Sitze, genauso groß ist jetzt deren Nachfolgekombination Yesh Atid und Kulanu. Eli Ishais Rechtsabsplitterung der Shas-Partei hat den Sprung in die Knesset nicht geschafft.

Die Wahl Netanyahus war auch ein Akt der Rache gegen die akademische und kulturelle Elite des Landes.

Während also das linke Lager insgesamt zugenommen hat, brachte es der Likud mit 30 Sitzen zu neuen Höhen; das macht ungefähr ein Viertel aller Stimmen aus. Viel ist das eigentlich nicht, aber es reicht. Netanyahu ist ohne großen Enthusiasmus gewählt worden, weil er als das kleinere Übel galt, als die sicherere Option in höchst unsicheren Zeiten. Dass er sich ausdrücklich von einem Palästinenserstaat distanziert hat, verbuchten Kommentatoren als Wahlkampfgetöse – „an einem heißen Tag auf Eis geschrieben“, wie Nachum Barnea in Yedioth Aharonot schrieb. Aber die Mehrheit der Israelis hält Frieden mit den Nachbarn zudem ja derzeit ohnehin nicht für machbar, deshalb hat das Thema im Wahlkampf – wenn überhaupt – nur eine Nebenrolle gespielt. (Washington allerdings wird Netanyahu diese Aussage nicht so schnell nachsehen, auch wenn der am Tag nach der Wahl gleich wieder zurückruderte).

Das aber war nicht das Hauptthema, das die Journalisten umtrieb. Sie fragten vielmehr danach, warum Umfragen und Medienleute so danebenliegen konnten. Ein Blick auf das Wählerverhalten mag das erklären. Im „Staat Tel Aviv“, wo sich die meisten Journalisten tummeln, hätte das Zionistische Lage 45 Sitze bekommen, Meretz 15 und Yesh Atid 14 – zusammen eine absolute Mehrheit. In der so genannten „Peripherie“ sah es schon ganz anders aus. Allerdings war auch der ehemalige Bürgermeister von Sderot, Eli Moyal, überrascht über das dortige Ergebnis. Vor der Wahl hatte er von der Abwesenheit von Likud-Plakaten in seiner Stadt berichtet und einen „Wind des Wandels“ verspürt. Am Ende aber triumphierte dort Netanyahu. Man sah Itzchak Herzog nicht als die richtige Alternative und konnte – wie die alte Frau in einer Zeitungskarikatur – den Stimmzettel „Bloß nicht Bibi“ nicht finden.

Gesellschaftlich ging es aber noch um viel mehr. Die Wahl Netanyahus war auch ein Akt der Rache gegen die akademische und kulturelle Elite des Landes, die eine abgrundtiefe Abneigung gegen ihn hegt, und zugleich der Identifizierung mit den anderen. Diese alten Eliten fühlten sich von der revolutionären Rechten bedroht, die davon ausgehe, dass die zionistische Revolution noch nicht zu Ende sei, glaubt der Soziologe Natan Sznaider. So verlören diese alten Eliten ihre Deutungshoheit, „und die revolutionäre Rechte braucht diese Elite nicht mehr, um das national-ethnische zionistische Projekt vor sich selbst zu rechtfertigen.“ Der Anthropologe Nissim Mizrachi erklärt den Bruch, der da durch die Bevölkerung geht, mit dem Universalitätsanspruch der Linken. Dem können und wollen die Unterprivilegierten in der Peripherie nicht folgen. Zu ihrem Partikularismus gehört eine jüdische Identität, die scheinbar noch wichtiger ist als die Enttäuschung über alle nicht eingehaltenen sozialen Wahlversprechen des Likud.

Einer der Mitverantwortlichen, der bis zuletzt Unentschiedene dann doch wieder in Bibis Lager holte, mag der bekannte Künstler Yair Garbuz sein. Auf dem Rabin-Platz hatte er bei einer Demonstration der Linken über die „Mesusa-Küsser“ geklagt, die das Land kontrollieren würden.

Eine Demokratie zeichne sich durch die Vielfalt in der Zusammensetzung seiner Elite aus, behauptet Mizrachi. So richtig vielfältig ist es dort aber noch nicht. Und Netanyahu, selbst alles andere als ein Unterprivilegierter, hat es wieder einmal geschafft, diese Stimmung für sich zu mobilisieren.

Bild: © Miriam Alster/FLASH90

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