Ungarn-EU: heuchlerische Komplizenschaft

Die ungarischen Wähler sind schon großjährig und für das Wahlergebnis in ihrem Land verantwortlich. Aber weshalb schaut die EU wortlos zu, wenn im Wahlkampf „das Feuer des Antisemitismus in einer monströsen Propagandakampagne angefochten wird“?

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Der Wahlsieg Viktor Orbáns kam nicht überraschend, vielleicht nur die Zweidrittelmehrheit. Der Brecht’sche Spruch „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ hat sich Anfang April in Ungarn nochmals bewahrheitet. Dem Durchschnittsmagyaren geht es wirtschaftlich gut, er macht sich daher wenig Gedanken um die gesellschafts- und demokratiepolitischen Rahmenbedingungen. Den moralischen Fingerzeig überantwortet er den sieben Oppositionsparteien. Aber dort sind die Sorgen schlecht aufgehoben: Fragmentiert, zerstritten und durch persönliche Eitelkeiten verblendet, können diese der geschlossenen Fidesz-Front nicht am Zeug flicken. Da deuten die Rücktritte von Jobbik-Chef Gábor Vona und anderen Oppositionellen eher in Richtung mutloser Aufgabe: Man will nicht weitere vier Jahre gegen die Orbán-Maschinerie anlaufen.

Geölt wird diese gut laufende Maschinerie aber nicht nur durch die ruchlos-zynische Machtpolitik Viktor Orbáns und seiner Gefolgsleute, sondern auch durch das ambivalent-heuchlerische Verhalten der Partnerländer in der Europäischen Union, allen voran der Schwesterparteien in der EVP. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die ungarische Bevölkerung ist schon großjährig und für das demokratische Wahlergebnis selbst verantwortlich. Aber die EU schaut dem Treiben großteils apathisch zu: Bereits 2010 sicherte sich Fidesz zum ersten Mal die Zweidrittelmehrheit im Parlament, und Orbán kündigte umgehend eine nationale Revolution an. In Brüssel und Berlin wiegelte man ab.

Die Rechtspopulisten sprechen ihre Bewunderung für Orbáns Flüchtlingspolitik offen aus, viele andere in Europa denken dasselbe im Stillen.

Doch Orbán hat Wort gehalten: Er hat die Demokratie in Ungarn nicht abgeschafft, aber verändert. Ihre wichtigsten Elemente werden inzwischen von seiner Fidesz-Partei kontrolliert: die Medien, die Gerichte, die Universitäten. Der alarmierende Staatsumbau, den die nationalkonservative Regierung in Polen gegen alle Kritik soeben durchzieht, hat sein Vorbild in Ungarn. Stück für Stück hat die Regierung in Budapest die Freiheit der Bevölkerung eingeschränkt, viele Kritiker zum Schweigen und die Korruption – auch die missbräuchliche Verwendung von EU-Fördergeldern – zum Blühen gebracht. Während die Orbán’sche Autokratie wuchs, schaute die EU zu und zahlte.

Brüssel zahlt und lässt sich dabei anspucken: Während Ungarn die höchste Pro-Kopf-Unterstützung in der gesamten Union erhält – etwa 30 Milliarden Euro sind in den vergangenen sieben Jahren nach Ungarn geflossen –, reagiert die Gemeinschaft nicht, wenn monatelang auf Ungarns Straßen und in U-Bahnen massenhaft Plakate mit dem Motto „Stoppt Brüssel!“ affichiert sind. Die EU könnte sehr wohl ihre Zähne zeigen, indem sie die aufbegehrende, wiederholt protestierende Zivilgesellschaft in Ungarn unterstützt und nicht zulässt, dass „das Feuer des Antisemitismus in einer monströsen Propagandakampagne angefacht wird, indem ein jüdischer Banker als Strippenzieher hinter einer internationalen Verschwörung steht, um die christlich-ungarische Kultur zu zerstören“. So formulierten es jüngst ungarische Intellektuelle in einem offenen Brief an Angela Merkel. Das Problem: Die Rechtspopulisten sprechen ihre Bewunderung für Orbáns Flüchtlingspolitik offen aus, viele andere in Europa denken dasselbe im Stillen. „Wenn es in der EU so weitergeht, kann Orbán mit dem Flüchtlingsthema und dem Soros-Bashing noch einige Wahlen gewinnen“, formuliert es ein deutscher Korrespondent.

Ein zentrales Thema der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs wird das nächste EU-Budget ab 2021 sein. Infolge des Brexits wird es weniger Geld zu verteilen geben. Bundeskanzler Kurz will ab 2019 keine Mehrbelastung für Österreich und andere Nettozahler. Das wäre eine Chance, sich im Umgang mit doppelzüngigen Profiteuren etwas Würde zurückzuholen. 

 

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